Vorbemerkungen

Der Einfluss der sagittalen Neigung oder posterioren Reklination des Tibiaplateaus auf die Stabilität des Kniegelenks hat in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen [1, 2, 4,5,6,7,8,9, 15, 16]. Biomechanische Studien konnten zeigen, dass eine Erhöhung des posterioren Slopes unter Last zu einer vermehrten anterioren Translation der Tibia und somit auch zu einer erhöhten Belastung des vorderen Kreuzbands führt [1, 11]. Klinische Studien haben diese Ergebnisse verifiziert [2, 5,6,7, 15, 16]. Danach besteht bei einer posterioren Reklination des Tibiaplateaus von mehr als 12° ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Rezidivinstabilität nach einer VKB-Rekonstruktion [17]. Daher gelten beide Parameter in Kombination (Rezidivinstabilität und „posterior slope“ > 12°) als Indikationskriterien, um die Reklination des Tibiaplateaus vor einer erneuten VKB-Plastik zu korrigieren [2, 7, 8].

Eine operative Technik, um dieses Ziel zu erreichen, ist die supra- oder intratuberositäre, anterior schließende Osteotomie [2, 5,6,7, 12]. Nachteil dieser Technik ist jedoch, dass dabei die Tuberositas tibiae abgelöst werden muss. [2, 5,6,7, 12]. Die Ablösung der Tuberositas tibiae ist bei Osteotomien zur „Slope-Erhöhung“ oft notwendig, da bei hohen Korrekturen ein schmerzhafter Knochensporn durch die Rotation der Tuberositas tibiae entstehen kann. Bei der Reduktion der Tibiareklination besteht dieses Risiko nicht. Daher stellt hier die subtuberositäre, anterior schließende Osteotomie eine gute Alternative zur Korrektur der erhöhten Tibiareklination dar, ohne dabei die Tuberositas tibiae abzulösen [9].

Ziel dieses Beitrags ist es, die operative Technik der subtuberositären, anterior schließenden Osteotomie der proximalen Tibiae vorzustellen.

Operationsprinzip und -ziel

Ziel der anterior schließenden Osteotomie an der proximalen Tibia ist es, die erhöhte posteriore Reklination des Tibiaplateaus zu korrigieren.

Vorteile

  • Geringere Invasivität im Gegensatz zu Techniken mit temporärer Ablösung der Tuberositas tibiae

  • Stabile Fixation [12, 13]

Nachteile

  • Erfahrung in der Durchführung kniegelenknaher Osteotomien notwendig

  • Kosten für Implantate

Indikationen

  • Rezidivinstabilität nach Rekonstruktion des vorderen Kreuzbands mit tibialer Reklination von > 12° [5]

  • Primäre vordere Instabilität bei stark erhöhter posteriorer Reklination des Tibiaplateaus von > 15°, deutlich erhöhter anteriorer tibialer Translation (> 10 mm) und weiteren Risikofaktoren (ausgedehnte posteriore Meniskusschäden, VKB-Ruptur oder Rezidivinstabilität der Gegenseite etc.; [15])

Kontraindikationen

  • Offene Wachstumsfugen

  • Hyperextension > 15°

  • Hintere Kniegelenkinstabilität,

  • Relativ:

    • „Body-Mass-Index“ (BMI) > 35

    • Unfähigkeit, das Rehabilitationsprogramm einzuhalten

    • Mangelnde Compliance

Patientenaufklärung

  • Allgemeine Operationsrisiken

  • Hinge-Fraktur

  • Verzögerte Osteotomieheilung

  • Gabe von Tranexamsäure

  • Verletzungen des Innenbands

  • Verletzungen des N. peroneus

  • Zusätzliche Arthroskopie bei intraartikulären Erkrankungen oder Verletzungen

  • Simultane Auffüllung der Knochentunnel mit autologem oder allogenem Knochen bei Tunnelweitung oder Fehllage

  • Verwendung von Fremdmaterial (Osteosyntheseplatte und Schrauben) mit ggf. notwendiger Implantatentfernung

  • Stationärer Aufenthalt 2–4 Tage

  • Teilbelastung für 2 Wochen notwendig

  • Arbeitsunfähigkeit ca. 6 Wochen (bei Schreibtischarbeit wahrscheinlich ggf. früher, bei schwerer körperlicher Arbeit ggf. auch länger)

  • Zweizeitige erneute Rekonstruktion des vorderen Kreuzbands

Operationsvorbereitung

  • Röntgenaufnahmen des Kniegelenks unter Belastung (a.-p. in 0° und 45° Beugung und seitlich) zur Bestimmung des Arthrosegrads

  • Lange Aufnahme der seitlichen Tibia zur Bestimmung der posterioren Reklination des Tibiaplateaus nach Angaben von Dejour und Bonnin [4] und Hees et al. [10]

  • Ganzbeinaufnahme zur Bestimmung der Varus- oder Valgusdeformität

  • Klinische Untersuchung mit Lachman-Test, Pivot-shift-Test, hinterer Schublade und Varus- und Valgus-Stresstest

  • MRT zum Nachweis zum Nachweis von Binnenschäden

  • Operationsplanung am seitlichen Röntgenbild der Tibia und ggf. auch an der Ganzbeinaufnahme, wenn zusätzlich zur sagittalen Korrektur ebenfalls eine koronare Korrektur notwendig ist

  • Perioperative Antibiotikaprophylaxe mit Cephalosporin (Cave: bei Allergie auf Alternativpräparat ausweichen)

  • Optionale Gabe von Tranexamsäure (1 g; [3, 14])

Instrumentarium und Implantate

  • Führungsdrähte mit einem Durchmesser von ca. 2,5 mm

  • Oszillierende Säge mit kurzen Sägezähnen

  • Breiter Lambotte-Meißel

  • Winkelstabile Osteosyntheseplatte (z. B. Loqtech, AAP Implantate, Berlin; [12, 13])

  • Kortikalisschraube

  • Bildverstärker

Anästhesie und Lagerung

  • Vollnarkose oder Spinalanästhesie

  • Rückenlage

  • Elektrischer Beinhalter hilfreich (nicht zwingend erforderlich)

Operationstechnik

(Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13)

Abb. 1
figure 1

Lange seitliche Aufnahme der gesamten Tibia zur Bestimmung der posterioren Reklination des Tibiaplateaus anhand der mittleren Achse der proximalen Tibia [4, 10]. Die posteriore Reklination des Tibiaplateaus wird als Winkel der Tangente zum medialen Tibiaplateau und der Winkelhalbierenden der proximalen tibialen Achse angegeben (in diesem Fall: 14°)

Abb. 2
figure 2

Präoperative Planung. a Ermittlung der posterioren Reklination des Tibiaplateaus (rote Linie) anhand der mittleren Tibiaachse und Einzeichnen der geplanten Reklination (grüne Linie). In diesem Fall werden 8° geplant, da dies dem Normalwert entspricht. Verschiebung der in a gezeichneten Reklinationslinien (grün und rot) auf Höhe des Scharniers der geplanten Osteotomie und Bestimmung des Korrekturwinkels . Bei der Planung des gewünschten Reklinationswinkels muss die Extension des Kniegelenks berücksichtigt werden. So kann bei einer Überstreckbarkeit von >15° keine Korrektur erfolgen, um keine massive Hyperextension zu erzeugen. b Einzeichnen der ersten Osteotomieebene (O1), beginnend unterhalb der Tuberositas tibiae bis zum Scharnier an der tibialen Insertion des hinteren Kreuzbands, und Einzeichnen des Korrekturwinkels  als zweite Osteotomieebene (O2)

Abb. 3
figure 3

8–10 cm langer Zugang im medialen Drittel der Tuberositas tibiae. Vorbestehende Inzisionen (durch die vorherigen Operationen) sollten, wenn möglich, mit einbezogen werden, um Hautirritationen durch parallele Hautschnitte zu vermeiden. P Patella, TT Tuberositas tibiae. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten.)

Abb. 4
figure 4

Ablösung der Extensoren (a), Darstellung der untersten Fasern des Lig. patellae (b) ca. 2 cm unterhalb des proximalen Tuberositasansatzes und der Inzision des medialen Periosts sowie Unterfahren des medialen Kollateralbands (MCL) mit einem Raspatorium. P Patella, F Femur, PS Patellarsehne, T Tibia, ST Semitendinosussehne, G Grazilissehne. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten)

Abb. 5
figure 5

Einsetzen von Hohmann-Hebeln an die laterale posteriore Tibiakortikalis unterhalb des Tibiofibulargelenks und an die mediale posteriore Tibiakortikalis. Dabei wird das mediale Kollateralband mit dem Hohmann-Hebel unterfahren. Cave: Das mediale Kollateralband (MCL) wird dabei im Gegensatz zur medial öffnenden Osteotomie nicht abgelöst. Die distalen Fasern der Patellarsehne werden mit einem Raspatorium um ca. 2 mm nach proximal abgeschoben. P Patella, F Femur, PS Patellarsehne, T Tibia, NP N. peroneus, ST Semitendinosussehne, G Grazilissehne. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten)

Abb. 6
figure 6

Bohren von zwei Führungsdrähten zur Markierung der Osteotomieebenen. Der proximale Drahteintritt befindet sich unmittelbar unterhalb des Ansatzes der Patellarsehne (PS). Der zweite Draht wird leicht konvergierend unterhalb des ersten Drahtes gebohrt. Der Zielpunkt liegt im unteren Bereich der Insertion des hinteren Kreuzbands (HKB). Der Abstand der Drähte richtet sich nach der präoperativen Planung. Bei Reklinationswinkeln von 12° bis 15° ist eine Keilbasishöhe von 6 mm meist ausreichend. Bei korrekter Drahtlage (Abb. 7) wird die intraossäre Länge der Drähte bestimmt, um diese auf der oszillierenden Säge zu markieren. P Patella, F Femur, PS Patellarsehne, T Tibia, ST Semitendinosussehne, G Grazilissehne, MKB mediales Kollateralband. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten)

Abb. 7
figure 7

Lagekontrolle der Führungsdrähte mit dem Bildverstärker. Die Drähte zielen auf den unteren Anteil der HKB-Insertion

Abb. 8
figure 8

Osteotomie entlang der Führungsdrähte mit einer oszillierenden Säge. Zur Verhinderung der Durchtrennung des posterioren Scharniers wird die vorher gemessene intraossäre Länge der Führungsdrähte auf der Säge markiert (Steristrip oder Stift). Das Sägeblatt sollte während der Osteotomie mit Spülflüssigkeit gekühlt werden. P Patella, F Femur, PS Patellarsehne, T Tibia, ST Semitendinosussehne, G Grazilissehne, MCL mediales Kollateralband. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten)

Abb. 9
figure 9

Entnahme des Keils. P Patella, F Femur, PS Patellarsehne, T Tibia, ST Semitendinosussehne, G Grazilissehne, MCL mediales Kollateralband. (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten)

Abb. 10
figure 10

Schließen des Osteotomiespalts. Nach Entnahme des Keils (a) wird die Osteotomie durch manuellen Druck in Richtung der Pfeile langsam geschlossen (b). (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten.)

Abb. 11
figure 11

Osteosynthese. Temporäre Stabilisierung der geschlossenen Osteotomie mit einem K‑Draht und Einbringen einer interfragmentären Zugschraube im lateralen Drittel der Tuberositas tibiae

Abb. 12
figure 12

Osteosynthese. Komplettierung der Osteosynthese durch eine winkelstabile Platte, die medial angebracht wird (z. B.: AAP Loqtech HTO Platte, AAP Implantate, Berlin). Die obersten Schrauben sollte ca. 10 mm unterhalb des Tibiaplateaus liegen und etwa in die medialen zwei Drittel des Tibiakopfes reichen. Bei den distalen Schrauben werden die proximalste Schraube bikortikal und die weiteren Schrauben monokortikal besetzt (TT Tuberositas tibiae, F Femur, MCL mediales Kollateralband, PS Patellarsehne, P Patella, G Grazilissehne, ST Semitendinosussehne). (Mit freundl. Genehmigung von © Wolf Petersen, Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie, Martin-Luther-Krankenhaus Berlin. Alle Rechte vorbehalten.)

Abb. 13
figure 13

Kontrolle von Slope und Implantatlage mit dem Bildverstärker. a Anteroposteriorer Strahlengang, b seitlicher Strahlengang

Postoperative Behandlung

  • Unmittelbar nach der Operation Beginn mit Quadrizepsübungen (Streckabhebung) und passiven Bewegungsübungen (optional passive Bewegungsschiene)

  • Entfernung der Redon-Drainagen am ersten postoperativen Tag

  • Am ersten postoperativen Tag Beginn der Mobilisation unter Teilbelastung (10 kg) des operierten Beins für 2 bis 3 Wochen, danach schrittweise Belastungssteigerung

  • Beweglichkeit frei

  • Entfernung der Fäden am 10.–12. postoperativen Tag

Fehler, Gefahren, Komplikationen

  • Verletzung der Gefäße im Bereich der Fossa poplitea: Füllen der Blutsperre, Komplettierung der Osteotomie und Osteosynthese, CT-Angiographie oder konventionell Angiographie und evtl. gefäßchirurgische Intervention

  • Über- oder Unterkorrektur: je nach Symptomen Rekorrektur

  • Brechen des Scharniers („Hinge-Fraktur“): Teilbelastung für 6 Wochen, ggf. Reosteosynthese

  • Bakterielle Infektion: Spülung, ggf. Reosteosynthese, antibiotische Behandlung

Ergebnisse

In der in dieser Arbeit beschriebenen Operationstechnik wurden in unserer Klinik zwischen 2016 und 2021 36 Patienten (16 weiblich, 20 männlich) mit einer erhöhten Reklination des Tibiaplateaus und einer Rezidivinstabilität nach Ersatz des vorderen Kreuzbands behandelt. Das mittlere Alter lag bei 34,4 Jahren. In 25 Fällen erfolgte zeitgleich eine Füllung der erweiterten Knochentunnel mit allogenen Knochenchips. In 2 Fällen erfolgte simultan eine erneute Kreuzbandplastik. In 28 Fällen erfolgte nach einem Intervall von 4 bis 12 Monaten eine sekundäre Kreuzbandplastik.

Die mittlere präoperative Tibiareklination betrug präoperativ 14,5° und postoperativ 8,8°.

Nach einem Nachverfolgungszeitraum von 2 Jahren stieg der Lysholm-Score von durchschnittlich 76,3 Punkten auf 89,2 Punkte. Eine erneute Rezidivinstabilität ist bisher nicht aufgetreten.