Vorbemerkungen

Der Pararectus-Zugang, der früher in der Urologie und in der Wirbelsäulenchirurgie zur Darstellung des L5/S1-Segments verwendet wurde, wurde vor einigen Jahren für die Beckenchirurgie neu entdeckt und als alternativer Zugang zum ilioinguinalen und zum modifizierten Stoppa-Zugang insbesondere für die Behandlung von Acetabulumfrakturen mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche beschrieben [1,2,3,4,5,6,7]. Er kann sinnvollerweise mit dem ersten Fenster des ilioinguinalen Zugangs kombiniert werden, um so im Rendezvous-Verfahren vollständigen Zugang zur inneren Darmbeinschaufel bis hinauf zur Crista iliaca zu erhalten. Außerdem erleichtert er die optionale Insertion einer supra- und/oder infraazetabulären Schraube über den korrekten Korridor oder andere hilfreiche Repositionsmanöver wie die Anwendung einer auxiliären Cerclage [8, 9]. Darüber hinaus ist der Pararectus-Zugang bei Patienten mit vorbestehender Leistenhernie oder bei Patienten mit Peritonealnetz sinnvoll einsetzbar. In diesem Fall muss das Netz im Gegensatz zum ilioinguinalen Zugang – wenn überhaupt – nur über eine sehr kurze Distanz inzidiert werden, ohne dass ausgedehnte Narben gelöst werden müssen [10, 11]. Außerdem hat sich der Pararectus-Zugang für die Revisionssituation nach primär angewendetem ilioinguinalen Zugang bewährt. Heute wird der Stoppa-Zugang in modifizierter Form mit Mittellinieninzision zunehmend als vorderer Standardzugang angesehen [12,13,14], der bei Polytraumatisierung auch die Möglichkeit bietet, intraabdominelle Verletzungen bilateral zu erreichen [15]. Auch wenn man kosmetische Überlegungen mit einbezieht, bietet der Stoppa-Zugang, wenn er als Pfannenstielinzision angelegt ist, Vorteile [16].

Operationsprinzip und -ziel

  • Wenig invasive Stabilisierung von Acetabulumfrakturen insbesondere der vorderen Säule und vorderen Wand, mit Dislokation der quadrilateralen Fläche und mit Impaktion des Pfannendachs über den Pararectus-Zugang

  • Darstellung der externen Iliakalgefäße, der unteren Bauchwandgefäße, der Obturatorgefäße und der Corona mortis, bis die Fraktur gut eingesehen werden kann

  • Reposition der Fragmente unter Sicht und Stabilisierung mit anatomisch präkonturierter Kleinfragmentplatte und ggf. Einzelschrauben

Ziel ist die möglichst stufenfreie anatomische Reposition und Stabilisierung der Fraktur zur Vermeidung einer sekundären Arthrose und schmerzfreien Mobilisation des Patienten.

Vorteile

  • Kombiniert die Vorteile des ilioinguinalen Zugangs mit denen des modifizierten Stoppa-Zugangs insbesondere zu der optimalen Versorgung von Acetabulumfrakturen mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche [17,18,19]

  • Möglichkeit einer Reposition, die der Richtung der Frakturdislokation direkt entgegenwirkt

  • Möglichkeit, den nach zentral gerichteten Frakturkräften unter direkter Sicht durch den zwischen Peritoneum und lateraler Bauchmuskulatur entwickelten Zugang entgegenzuwirken, was die Reposition deutlich erleichtert

  • Verbesserte Repositionsqualität mit mehr als 90 % stufenfreien Repositionsergebnissen [19]

  • Ausgeprägte anatomische Vorteile, die zu einem geringeren Zugangstrauma und einer sehr guten anatomischen Freilegung der Fraktur führen

  • Limitierte und ästhetisch ansprechende Inzision mit einer durchschnittlichen Länge von nur etwa 10 cm

  • Klare anatomische Ebene und gute Übersicht und Kontrolle der wichtigen Blutgefäße und Nerven auf direktem Operationsweg

  • Geringe intraoperative Expositionszeit und einfache Progression zum Geweberaum neben dem M. rectus abdominis und dem Retroperitoneum [3]

  • In der Regel nur etwa 10 Minuten, um das Peritoneum zu erreichen und den Beckenring freizulegen

  • Reposition und Fixierung von Frakturen des medialen Darmbeins, des Beckenrings und der quadrilateralen Fläche unter direkter Sicht durch verschiedene Operationsfenster [2]

  • Sehr gute direkte mediale Übersicht insbesondere auf zentral gelegene Frakturfragmente

  • Wenig iatrogene Verletzungen der längs verlaufenden Gefäße und Nerven [1]

  • Zügige postoperative Genesung und geringes Auftreten von Leistenhernien [20].

Nachteile

  • Potenzielle Verletzung des Peritoneums infolge der Zugangslokalisation zwischen Peritoneum und seitlichen Bauchmuskeln

Indikationen

  • Frakturen mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche

  • Frakturen der vorderen Wand

  • Frakturen des vorderen Pfeilers

  • Vordere Pfeiler/hintere Hemiquerfrakturen

  • Frakturen mit zentraler Impression von Domfragmenten

Kontraindikationen

  • Fraktur des hinteren Pfeilers

  • Fraktur der hinteren Wand

  • Kombinierte Fraktur der hinteren Wand und des hinteren Pfeilers

  • Querfraktur mit Dislokation vorwiegend des hinteren Pfeilers oder kombiniert mit Fraktur der hinteren Wand

  • T‑Fraktur mit Dislokation vorwiegend im Bereich des hinteren Pfeilers oder kombiniert mit Fraktur der hinteren Wand

Patientenaufklärung

Zu den allgemeinen Risiken gehören:

  • Infektion

  • Verletzung von Muskeln, Nerven und Gefäßen

  • Intraoperative Fraktur

  • Gelenkluxation

  • Sekundäre Dislokation bzw. Repositionsverlust

  • Osteosynthesematerialversagen

  • Verzögerte Frakturheilung

  • Pseudarthrose

  • Subfasziales Hämatom insbesondere bei Frakturmustern mit schwerer Dislokation

  • Venöse Thrombembolie

  • Kardiale und/oder pulmonale Komplikationen

  • Unklares postoperatives Schmerzsyndrom

Zu den spezifischen Risiken gehören:

  • Affektion des Nervus (N.) obturatorius

  • Affektion des N. cutaneus femoris lateralis

  • Affektion der Arteria (A.) und Vena (V.) iliaca, N. femoralis

  • Kompressionsbedingte Thrombose der V. iliaca

Operationsvorbereitung

  • Frakturklassifikation

  • Wahl und Lage der Osteosynthesematerialien

  • Computertomographie inklusive dreidimensionalen (3-D) Rekonstruktionen

  • Markierung des Operationssitus durch den Operateur

  • Breitbandantibiotikumgabe einmalig etwa 30 Minuten vor Operationsbeginn, Wiederholung nach 3 Stunden Operationszeit

  • Steriles Anzeichnen der Landmarken und der geplanten Schnittführung

  • Team-Time-out

Instrumentarium

  • Routineinstrumente und -implantate für die Osteosynthese von Acetabulumfrakturen in den entsprechenden Zentren standardmäßig vorrätig (Abb. 1)

  • Verwendung eines röntgendurchlässigen Karbontisches erleichtert die primäre Implantation einer Hüftgelenkendoprothese über einen minimal-invasiven direkten anterioren Zugang, wenn bei älteren Patienten bereits initial erkannt wird, dass eine Hüftpfannenfraktur nicht mehr anatomisch rekonstruierbar ist

  • Statt Seitenstützen Verwendung einer röntgendurchlässigen Vakuummatratze empfehlenswert

  • Spezielle röntgendurchlässige Wundhaken in langer Ausführung optional erhältlich

  • LED-Einweglampen zur besseren Ausleuchtung des Operationssitus als Aufsatz für die Wundhaken der neuesten Generation optional verfügbar

Abb. 1
figure 1

Beispiel eines Beckensiebs mit Standard- und Spezialinstrumentarium, speziellen Platten, Schrauben der neuesten Generation und Lagerungsdreieck

Anästhesie und Lagerung

  • Vollnarkose für die Osteosynthese von Acetabulumfrakturen erforderlich

  • Lagerung des Patienten in Rückenlage auf dem Karbontisch

  • Vorbereitung eines Beckensiebs mit Standard- und Spezialinstrumentarium, speziellen Platten und Schrauben der neuesten Generation und Lagerungsdreieck zur Neutralisierung des Musculus (M.) iliopsoas und zur intraoperativen Erleichterung der Frakturreposition und -retention über Beugung im Kniegelenk (Abb. 1)

  • Sterile Abdeckung des präoperativ markierten und frei gelagerten verletzten Beins, um intraoperativ Traktion am Bein oder ggf. eine zusätzlich erforderliche Schanz-Schraube über einen T‑Handgriff eindrehen zu können (Abb. 2)

  • Relaxation des M. iliopsoas zur zeitweisen intraoperativen Neutralisierung der Hüftbeugekraft insbesondere während des Frakturrepositionsmanövers

  • Operationsteam: Operateur und 2 Assistenten

  • Position des Operateurs auf der verletzten Seite und der beiden Assistenten auf der Gegenseite

  • Platzierung des Bildverstärkers auf der unverletzten Seite

  • Ausreichende Muskel(nach)relaxation für das Repositionsmanöver dringend erforderlich

Abb. 2
figure 2

Sterile Abdeckung des präoperativ markierten und frei gelagerten verletzten Beins

Operationstechnik

(Abb. 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9 und 10)

Abb. 3
figure 3

Der Hautschnitt beginnt zwischen lateralem und mittlerem Drittel der Verbindungslinie zwischen der Spina iliaca anterior superior und dem Bauchnabel und endet zwischen mittlerem und medialem Drittel des Leistenbandes. Der Hautschnitt wird vor Beginn der Operation steril mit einem Faserstift angezeichnet und hat klassischerweise eine Länge von etwa 10 cm. Er verläuft am lateralen Rand des M. rectus abdominis. Während der Operation ist der Zugang je nach Frakturlokalisation optional zur Symphyse hin oder nach kranial erweiterbar

Abb. 4
figure 4

Das subkutane Fettgewebe und die oberflächliche Faszie (Camper-Faszie) werden durchtrennt. Nun werden die tiefe Schicht der Bauchdecke und die Scarpa-Faszie inzidiert. Die Inzision muss medial der Fasern des M. obliquus externus erfolgen, um die postoperative Entwicklung einer Bauchwandhernie zu vermeiden

Abb. 5
figure 5

Der nächste Schritt besteht in der Eröffnung der äußeren Aponeurose des M. obliquus externus und des vorderen Blattes des M. rectus abdominis sowie ggf. des hinteren Blattes. Wenn der Zugang nach kranial erweitert werden muss, wird das hintere Blatt der Rektusscheide, das im distalen Viertel des Muskels in der Regel fehlt, kranial bis zum dünnen gebogenen Rand, der halbmondförmigen sog. Douglas-Falte (Linea arcuata) erweitert [19]. Nach Durchtrennung der Rektusscheide wird der oberflächliche Ring des Leistenbandes freigelegt. Der N. cutaneus femoris lateralis wird dabei geschützt. Durch Inzision der Fascia transversalis in Längsrichtung erreicht man den extraperitonealen Raum. Dabei muss darauf geachtet werden, die Perforation des Peritoneums nach medial zu vermeiden. Sollte es dennoch dazu kommen, so kann das Peritoneum in der Regel problemlos übernäht werden

Abb. 6
figure 6

Die Auswahl der chirurgischen Fenster richtet sich nach der Frakturlokalisation und den Erfordernissen der Frakturreposition. Die verschiedenen Fenster können analog zum ilioinguinalen Zugang zwischen den wichtigen Leitstrukturen freigelegt werden. Fenster 1 befindet sich zwischen dem M. iliacus und dem M. psoas. Durch dieses Fenster kann die gesamte mediale Oberfläche des Os ilium vom Iliosakralgelenk bis zur Spina iliaca anterior superior freigelegt werden. Fenster 2: Dieses Fenster liegt zwischen dem M. iliopsoas und den äußeren Iliakalgefäßen. Durch dieses Fenster können das Iliosakralgelenk und die Darmbeinschaufeln proximal sowie die quadrilaterale Fläche und distal der vordere Anteil der Hüftpfanne freigelegt werden. Hintere Beckenringfrakturen, vordere Hüftpfannenfrakturen und insbesondere Frakturen mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche können unter direkter Sicht durch dieses Fenster reponiert und fixiert werden. Fenster 3: Die Position befindet sich zwischen den äußeren Iliakalgefäßen und dem N. obturatorius. In Zusammenspiel mit Fenster 2 können die innere quadrilaterale Fläche und ein Areal vom oberen Schambeinast bis zur Symphyse freigelegt werden, was die Corona mortis erreichbar macht und die Reposition und Fixierung von oberen Schambeinastfrakturen ermöglicht

Abb. 7
figure 7

Der Ductus spermaticus beim Mann bzw. das Ligamentum rotundum uteri bei der Frau wird nach lateral gehalten, um die inferioren epigastrischen Gefäße zu identifizieren und anzuschlingen, die den Extraperitonealraum von kaudolateral bis kraniomedial in den M. rectus abdominis hinein kreuzen. Dabei sollte besonders darauf geachtet werden, dass die Gefäße unter der Bauchdecke und der Ductus spermaticus beim Mann bzw. das Ligamentum rotundum uteri bei der Frau nicht verletzt werden, sondern ebenfalls angeschlungen werden. Die Strukturen des Beckenrings einschließlich des N. ilioinguinalis, des N. cutaneus femoralis lateralis und des N. genitofemoralis werden mobilisiert, indem das Peritoneum stumpf nach kraniomedial und die übrigen Strukturen nach lateral geschoben werden. Der M. iliopsoas wird nach lateral und die externen Iliakalgefäße werden nach medial gehalten. So kann durch das zweite Fenster der gesamte Beckenring einschließlich der quadrilateralen Fläche erreicht werden. Jetzt erscheint die Corona mortis, der anastomosierende Ast der A. epigastrica inferior und der A. obturatoria, die optional ligiert wird

Abb. 8
figure 8

82-jährige Patientin mit dislozierter Acetabulumfraktur AO-Typ B3 links (vordere Pfeilerfraktur mit Beteiligung der quadrilateralen Fläche und deutlicher Protrusion des Hüftkopfes sowie konsekutiver Impaktion des Acetabulumdaches): Die Fraktur wird unter direkter Sicht reponiert und mit Kirschner-Drähten der Stärke 1,6–2 mm passager fixiert. Optional können große spitze Repositionszangen oder Spezialwerkzeuge verwendet werden. Die direkte Visualisierung der Fraktur kann durch Beugung des Beins im Hüft- und Kniegelenk sowie durch eine tiefe Allgemeinanästhesie mit ausreichend Muskelrelaxanzien verbessert werden

Abb. 9
figure 9

Danach wird an der Linea terminalis eine stabile präkonfigurierte mediale Kleinfragmentplatte (hier: Revolution X Pelvic Reconstruction System, I.T.S. GmbH, Lassnitzhöhe, Österreich) montiert. Die Finne der Platte dient zur sicheren Retention der quadrilateralen Fläche. Bei den klassischen Altersfrakturen des vorderen Pfeilers mit Impaktion des azetabulären Doms kann der Defekt nach der Reposition des sog. Domfragments über den Pararectus-Zugang in der Regel problemlos mit Eigen- oder Fremdknochen aufgefüllt werden. Zusätzlich kann wahlweise eine sog. „Dachbalkenschraube“ und/oder eine infraazetabuläre Schraube durch die Platte eingebracht werden [8]. Moderne anatomische Platten weisen zur erleichterten Insertion dieser Schrauben an den entsprechenden Positionen Langlöcher auf. Insbesondere Frakturen des hinteren Pfeilers werden vorzugsweise schrittweise mit einer speziellen Repositionszange wie z. B. einer kollinearen Repositionszange und einem Kugelspieß reponiert. Auch hier wird eine vorkonturierte Kleinfragmentplatte an der Vorderkante des Beckenrings platziert. Die Qualität der Reposition und die Platten- und Schraubenposition werden durch intraoperative Bildverstärkerkontrolle anhand einer Beckenübersichtsaufnahme, einer Inlet-, einer Outlet-, einer Ala- und einer Obturatoraufnahme sowie einer Aufnahme des Darmbeins überprüft. Abhängig von der infrastrukturellen Ausstattung der Klinik kann der Eingriff alternativ auch navigiert durchgeführt werden. Auch eine intraoperative 3‑D-Bildgebung kann zur Verifizierung des Repositionsergebnisses hilfreich sein

Abb. 10
figure 10

Der schichtweise Wundverschluss beinhaltet die subtile Blutstillung, die ausgiebige Spülung, die Überprüfung klarer Urinabgabe im Dauerkatheter und routinemäßig die Einlage einer Drainage in den Retzius-Raum. Danach erfolgt der Verschluss des vorderen Blattes der Rektusscheide doppelt genäht mit resorbierbarem Nahtmaterial und der Haut mit Klammern oder nichtresorbierbarer Einzelknopfnaht

Postoperative Behandlung

Der Drainageschlauch wird nach der Operation entfernt, sobald das tägliche Drainagevolumen weniger als 50 ml beträgt. Nach dem Drainagezug wird eine CT-Kontrolle des Repositionsergebnisses (Abb. 11) und der Osteosynthesemateriallage inklusive 3‑D-Rekonstruktionen durchgeführt. Routinemäßige konventionelle Röntgenkontrollen mit Ala- und Obturatoraufnahme werden bei normalem Heilverlauf nach 2 und 6 Wochen sowie nach 3, 6 und 12 Monaten empfohlen. Die Nachbehandlung nach operativer Therapie einer Acetabulumfraktur über den Pararectus-Zugang beinhaltet neben der Thromboseprophylaxe die Schmerzreduktion, die Innervationsschulung der Muskulatur und die Reduktion des Lymphödems. Daneben sollen die Geh- und Stehfähigkeit, Selbsthilfefähigkeit und körperliche Belastbarkeit verbessert werden. Die Zielsetzung der Operation sollte präoperativ geklärt werden. Die postoperative Behandlung folgt der präoperativ festgelegten Zielsetzung (anatomische Rekonstruktion vs. TEP vorbereitend; [21]).

Abb. 11
figure 11

Stufen- und spaltfreies Repositionsergebnis der Gelenkfläche bei optimaler Lage der winkelstabilen Formplatte in der koronaren Projektion der obligatorischen postoperativen CT-Kontrolle

Grundsätzlich wird in der rekonstruktiven Acetabulumchirurgie die frühfunktionelle Nachbehandlung angestrebt [22]. Insbesondere im geriatrischen Patientenkollektiv ist es vordringliches Ziel, die frühe postoperative Mobilisation zu ermöglichen. Die betroffene Extremität wird dabei direkt postoperativ unter physiotherapeutischer Supervision mobilisiert, wobei Extrembewegungen vermieden werden sollten. Vor allem bei Frakturen des dorsalen Pfannenrandes ist eine Limitierung der Hüftgelenkbeugung auf 60° sinnvoll. Nach abgeschlossener Wundheilung und erfolgtem Fadenzug kann die frühzeitige Mobilisation über das Wasser begonnen werden. Grundsätzlich sollte eine Teilbelastung von 15–20 kg für 6 Wochen eingehalten werden, wobei Frakturtyp- und Osteosynthese-abhängig ggf. eine frühere Belastungsfreigabe möglich ist. Gerade bei geriatrischen Patienten kann eine Teilbelastung oft nicht umgesetzt werden, sodass die frühzeitige und relativ unkontrollierte Vollbelastung unter Inkaufnahme eines eventuellen Nachsinterns der Fraktur akzeptiert werden muss. Entsprechend der Knochenqualität muss hier mit einer höheren Arthroserate und resultierender sekundärer Prothesenimplantationsrate gerechnet werden [23, 24]. Die Mobilisation bei einseitigen Acetabulumfrakturen erfolgt an 2 Unterarmgehstützen oder initial über einen Unterarmgehwagen, bei beidseitigen Acetabulumfrakturen ist in der Regel primär die Verwendung eines Rollstuhls erforderlich. Auch hier muss ggf. die Hüftgelenkflexion anfangs limitiert werden.

Patienten, die eine Operation des Acetabulums über den Pararectus-Zugang erhalten, sollten regelhaft eine medikamentöse Thromboseprophylaxe zur Vermeidung einer tiefen Beinvenenthrombose erhalten. Grundsätzlich richtet sich die Thromboseprophylaxe nach den aktuell geltenden Empfehlungen der gültigen S3-Leitlinie zur Prophylaxe der venösen Thromboembolie [25]. Bei Patienten unter oraler Antikoagulation ist das perioperative Management ebenfalls weitgehend unproblematisch, unabhängig davon, ob Vitamin-K-Antagonisten oder direkte orale Antikoagulanzien eingesetzt werden [26]. Entscheidend ist ein klinisch vertretbarer Zeitabstand zwischen Unfallereignis und operativem Eingriff. Wird zeitnah zum Unfallereignis operiert, ist mit einem erhöhten Blutungsrisiko zu rechnen. Eine zeitliche Latenz von einigen Tagen kann hier hilfreich sein. Erfolgt der Eingriff dagegen zu verspätet, steigt das Thromboserisiko. Entsprechend muss stets das Blutungs- gegenüber dem Thromboserisiko abgewogen werden.

Fehler, Gefahren, Komplikationen und ihre Behandlung

  • Protrusion des Hüftkopfs nicht korrigierbar → Schanz-Schraube in den Schenkelhals und Reposition

  • Operationsgebiet nicht gut einsehbar → maximale Nachrelaxation. Trotz guter Werte im Relaxometer ist der M. psoas oft erst durch eine Nachrelaxation ausreichend mobilisierbar

  • Operationsgebiet nicht gut einsehbar → Flexion des Beines und Unterpolsterung, z. B. mittels Lagerungsdreiecks zur Entspannung des M. psoas

  • Thrombose postoperativ → leitliniengerechtes Vorgehen

  • Blutung/Gefäßläsion intraoperativ → Abstopfen mit Bauchtüchern und Blutungskontrolle, ggf. mit Clips

  • Sekundäre Dislokation – sorgfältige Analyse mit CT und ggf. Revision, bei Beteiligung des hinteren Pfeilers Revision von dorsal erwägen

  • Während des Zuganges Eröffnung des Peritoneums → Naht des Peritoneums

  • Dehnung des N. obturatorius während der Freilegung der quadrilateralen Fläche → Dehnung vermeiden, Vorsicht bei Platzierung des Hohmann Hakens nach medial. Bei akzidentieller Dehnung am Ende der Operation Integrität des Nerven überprüfen, im Operationsbericht vermerken, postoperativ mit dem Patienten besprechen, dokumentieren und abwarten

  • Traktionsverletzungen des N. cutaneus femoralis lateralis und/oder des N. femoralis → erhaltene Integrität im Operationsbericht dokumentieren, mit dem Patienten besprechen, zuwarten, ggf. neurologisches Konsil zur Verlaufskontrolle

  • Intraoperative Einschätzung des Grades der Wiederherstellung des Hüftgelenkes unsicher → Neben Ala- und Obturatoraufnahmen ist die Durchführung eines intraoperativen CT-Scans oder einer sonstigen 3‑D-Bildgebung hilfreich

  • Schraubenpositionierung so wählen, dass bei sekundärer Koxarthrose eine Hüft-TEP problemlos und ohne Schraubenbehinderung platziert werden kann

  • Intraoperative Reposition bei fortgeschrittener Osteoporose erschwert → zuerst Auflegen der Platte und Reposition des vorderen gegen den hinteren Pfeiler mit Verwendung einer kollinearen Repositionszange

Ergebnisse

Eigene klinische und radiologische Nachuntersuchungen ergaben ausgezeichnete funktionelle mittelfristige Ergebnisse im modifizierten Merle d’Aubigné Score, LEFS, WOMAC und SF-36 und zeigten, dass die Reposition von Acetabulumfrakturen über den Pararectus-Zugang altersunabhängig mindestens vergleichbar ist mit dem ilioinguinalen Zugang [3, 27]. Auch hinsichtlich möglicher Komplikationen bestätigten die eigenen Beobachtungen die verfügbare Literatur insofern, dass für den Pararectus-Zugang keine höheren Komplikationsraten als für den Stoppa- und den ilioinguinalen Zugang gefunden wurden [6, 28]. Ein relevanter Vorteil des Pararectus-Zugangs wurde in einer signifikant kürzeren Operationszeit gesehen [19]. In einer Ganganalyse wurden zwar einige biomechanische Einschränkungen entdeckt, die mit verbleibenden Defiziten in der Belastbarkeit und Kraft der Hüftmuskulatur zusammenhängen könnten. Allerdings wurde eine sofortige Wiederherstellung der Mobilität erreicht, indem durch die frühzeitige Operation die Bewegung der unteren Extremitäten und des Beckens erhalten werden konnte [29].

Zur genaueren Beurteilung der biomechanischen Gangfunktion wurden im Rahmen einer aktuellen Analyse anhand einer instrumentellen Bewegungsanalyse 8 männliche Patienten (Alter: 48 ± 14 Jahre, Größe: 183 ± 4 cm, Gewicht: 86 ± 12 kg) mit isolierter unilateraler Acetabulumfraktur mit 8 gesunden Probanden (Alter: 49 ± 13 Jahre, Größe: 181 ± 3,9 cm, Gewicht: 84 ± 10 kg) verglichen. Die Untersuchung der Patienten wurde 3,8 ± 1,3 Monate nach operativer Stabilisierung über den Pararectus-Zugang durchgeführt. Abgesehen von einer erhöhten anterioren Kippung des Beckens in der Sagittalebene und einer leicht erhöhten Hüftadduktion zeigten sich vergleichbare Bewegungsexkursionen des Beckens und Hüftgelenks in den übrigen Bewegungsebenen während der Stand- und Schwungphase (Abb. 12). Dadurch zeichnete sich bereits in der frühen postoperativen Phase nach operativer Versorgung über den Pararectus-Zugang aus funktionell-biomechanischer Sicht eine gute Stabilität und Bewegungsfunktion des Beckens und der Hüfte während des Gehens ab.

Abb. 12
figure 12

ab Ganganalyse (a) der Hüft- und Beckenkinematik (Mittelwerte ± Standardabweichungen) bei Patienten mit unilateraler Acetabulumfraktur, adressiert über den Pararectus-Zugang, im Vergleich mit einem gesunden Normkollektiv. Die vertikalen Linien beschreiben den Übergang von der Stand- zur Schwungphase (b)