Vorbemerkungen

Die dorsale atlantoaxiale Stabilisierung in Goel-Harms-Technik [4] ist der Standard zur Versorgung atlantoaxialer Instabilitäten, sei es durch Tumor, Trauma oder Entzündung. Diese Technik hat in der Vergangenheit die Verschraubung nach Magerl [3] in Kombination mit einer Gallie-Fusion [2] als Goldstandard abgelöst, da sie einige Vorteile bietet. Hier ist an die kompliziertere Lagerung bei der Magerl-Verschraubung in Bezug auf die Reposition der Halswirbelkörper HWK 1/2 sowie auf die Notwendigkeit alternativer Schraubentrajektorien in HWK 2 bei atypischem Verlauf der Arteria vertebralis zu denken. Doch auch bei der Goel-Harms-Technik sieht man aufgrund intraoperativer Verletzungen des Harms-Plexus im Rahmen der HWK‑1/2-Fusion immer wieder einen relevanten Blutverlust. Um den Harms-Plexus intraoperativ nicht zu verletzen und relevante Blutung zu vermeiden, bietet sich in einem Teil der Fälle bei ausreichend großem Pedikel eine alternative Schraubenplatzierung mit HWK‑1-Pedikelschrauben an [5, 6]. Ein weiterer Vorteil dieser modifizierten Technik ist die erhöhte biomechanische Stabilität, welche im Kadavermodell nachgewiesen werden konnte [1].

Operationsprinzip und -ziel

Durch die Verwendung von C1-Pedikelschrauben bei der atlantoaxialen Stabilisation wird das Blutungsrisiko durch die größere Entfernung zum Harms-Plexus bei gleichzeitiger Erhöhung der biomechanischen Stabilität reduziert.

Vorteile

  • Geringere Gefahr der Blutung aus dem Harms-Plexus

  • Geringeres Risiko einer Affektion von der Nervenwurzel C2

  • Revision auf klassische Massa-lateralis-Schraube nach Harms möglich

Nachteile

  • Gefahr der Verletzung der A. vertebralis

  • Nur bei ausreichend großem HWK‑1-Pedikel möglich

  • Gefahr des Schraubenausbruchs

Indikationen

  • Atlantoaxiale Instabilität bei Tumor, Trauma oder Entzündung

Kontraindikationen

  • HWK‑1-Pedikel <3,5 mm

  • Atypischer Verlauf der A. vertebralis

Patientenaufklärung

  • Allgemeine Operationsrisiken

  • Verletzung der A. vertebralis mit Gefahr einer zerebralen Ischämie

  • Verlängerung der Instrumentation mit Einschluss des C1/C0-Gelenks

  • Pseudarthrose

  • Postoperativ persistierende Nackenschmerzen

  • Eingeschränkte Beweglichkeit

  • Blickdeviation

Operationsvorbereitungen

  • Präoperative Computertomographie (CT) und exakte Analyse

  • Analyse des geplanten Schraubenverlaufs

  • Ggf. Magnetresonanztomographie (MRT), ggf. Angio-CT bei unklarem Verlauf der A. vertebralis

  • Präoperative Bestimmung der Pedikelweite von HWK 1

  • Degeneration der kaudalen Segmente mitbeachten

  • Rasur des Hinterhaupts

  • Antibiotikaprophylaxe nach Hausstandard

Instrumentarium

  • Zervikales Schrauben-Stab-System

  • Mayfield-Klemme, alternativ Kopfschale

Anästhesie und Lagerung

  • Intubationsnarkose mit invasiver Druckmessung

  • Anlegen der Mayfield-Klemme in Rückenlagerung

  • Umlagern in Bauchlage und Eingehen der Concorde-Position

  • Kontrolle auf ausreichend gute Darstellbarkeit im Röntgen nach abgeschlossener Lagerung

Operationstechnik

(Abb. 12345678910)

Abb. 1
figure 1

Zunächst erfolgt die Lagerung des Patienten in Rückenlage. Das „Team time out“ mit der Anästhesie wird nach Standard durchgeführt. Anschließend erfolgt die Anlage der Mayfield-Klemme 1 cm kranial der Ohren, die achsgerechte Umlagerung in die Bauchlage gemeinsam mit dem Team der Anästhesie und anschließend das Eingehen der Concorde-Position. Um den intraoperativen Blutverlust zu minimieren, sollte der Operationssitus oberhalb des Herzniveaus liegen. Hierbei ist insbesondere auf die Blickrichtung sowie die Blickachse des Patienten zu achten, um eine postoperative Blickdeviation zu vermeiden. Nun sollte, insbesondere bei vorliegenden Instabilitäten, ein zügiges Röntgenbild zur Verifikation einer guten Reposition atlantoaxial erfolgen. Anschließend erfolgt die Rasur des Nackens und des Hinterhaupts bis zur Hinterhauptsschuppe. Die Schultern werden mittels Pflasterverband nach kaudal ventral heruntergetapet. Anschließend erfolgt das Abwaschen und Abdecken von der Hinterhauptsschuppe bis zur mittleren Brustwirbelsäule

Abb. 2
figure 2

Nun erfolgt der Hautschnitt vom Hinterhaupt bis zum Dornfortsatz von Halswirbelkörper HWK 7. Anschließend Einsetzen zweier oberflächlicher Wundsperrer und mit dem Monopolar Präparation bis auf den Processus spinosus von HWK 2. Anschließend subperiostale Ablösung der Nackenmuskulatur unter Zuhilfenahme eines Cobb-Raspartoriums und des Monopolar. Nach Darstellung des kranialen Rands der Lamina von HWK 2 erfolgt die Präparation von HWK 1. Hierzu wird zunächst das Tuberculum posterius ertastet und anschließend ebenfalls mit dem Monopolar die Muskulatur vom Atlasbogen abgelöst. Hierbei ist konsequenter Knochenkontakt mit dem Monopolar zu halten, da kranial die A. vertebralis und kaudal der Harms-Plexus Komplikationsgefahren bieten. Anschließend Abstopfen mit einer ausgezogenen Kompresse und Präparation der Gegenseite

Abb. 3
figure 3

Anschließend Entfernen der Kompressen und Tiefersetzen des Wundsperrers. Wichtig ist eine komplette knöcherne Darstellung der Wirbelbögen der Halswirbelkörper HWK 1 und HWK 2; das HWK‑2/3-Gelenk sollte beidseits geschont worden sein. Die Nackenfaszie sollte bis zum Processus spinosus von HWK 6 inzidiert worden sein, um eine ausreichende Konvergenz für die HWK‑2-Schrauben zu erlauben. Alternativ ist auch eine laterale perkutane Zusatzinzision möglich, um den medianen Zugang möglichst klein zu halten. Bluttrockenheit sollte vor den nächsten Schritten vorliegen

Abb. 4
figure 4

Zunächst sollte nun, in Abhängigkeit der vorliegenden Anatomie, a high-riding A. vertebralis, b ausreichend großer, knöcherner Korridor für eine Pedikelschraube, die Instrumentation vom Halswirbelkörper HWK 2 entweder mit einer Pedikelschraube oder mit einer Isthmusschraube erfolgen

Abb. 5
figure 5

Für die Instrumentation sollte die Massa lateralis von Halswirbelkörper HWK 2 komplett dargestellt sein. Im Fall der Instrumentation mit Pedikelschrauben befindet sich der anatomische Eintrittspunkt im oberen lateralen Quadranten. Wenn eine Isthmusschraube gesetzt werden soll, befindet sich der Eintrittspunkt zentral in der kaudalen Hälfte der Massa lateralis. Anschließend wird unter fluoroskopischer Kontrolle oder mit Hilfe des Navigationssystems mit einem 2,4 mm dicken Bohrer vorgebohrt. Bei Erreichen der geplanten Tiefe erfolgt das Austasten des Schraubenlochs zum Ausschluss einer Perforation des Pedikels. Anschließend wird eine Vollgewindeschraube eingedreht. Nach dem beidseitigen Besetzen von HWK 2 erfolgt die Instrumentation von HWK 1

Abb. 6
figure 6

Für die Instrumentation von HWK1 sollte im präoperativen Computertomogramm die Entfernung des Eintrittspunkts für eine HWK‑1-Pedikelschraube vom Tuberculum posterius ausgemessen werden. Anschließend ertastet man mit dem Dissektor von kaudal die mediale Begrenzung des Pedikels von HWK 1. Mit einem zweiten Dissektor wird am Oberrand der Lamina von HWK 1 die A. vertebralis unterfahren; dieser Dissektor wird im Weiteren von dem Assistenten gehalten

Abb. 7
figure 7

Anschließend wird mit der 1,8 mm großen Diamantfräse transpedikulär vorgebohrt, bis die Massa lateralis des Halswirbelkörpers HWK 1 erreicht wird. Hierbei ist auf eine geringe Konvergenz von ca. 10° zu achten. Eine Rotation des sehr mobilen HWK 1 durch den Druck der Fräse sollte hierbei berücksichtigt werden. Das Vorbohren sollte unter Kontrolle im seitlichen Röntgenbild oder mit Hilfe eines Navigationssystems erfolgen. Bei navigiertem Bohren sollte die Referenzklemme aufgrund der Mobilität des HWK 1 an den Wirbelbogen von HWK 1 fixiert werden. Alternativ ist eine Fixierung auch an dem Dorn von HWK 2 möglich, führt aber aufgrund der Mobilität atlantodental zu einer deutlich größeren Ungenauigkeit der Navigation. Anschließend kann nun erneut mit dem 2,4-mm-Bohrer in das eben geschaffene Loch eingegangen und bis zur ventralen Kortikalis von HWK 1 vorgebohrt werden. Anschließend sollte auch hier ein vorsichtiges Austasten erfolgen. Anschließend kann jetzt eine 3,5-mm-Vollgewindeschraube eingedreht werden. Eine bikortikale Schraubenlage ist zu tolerieren. Anschließend kann der vom Assistenten gehaltene Dissektor entfernt und die gegenseitige HWK‑1-Schraube in gleicher Technik gesetzt werden. In der Erfahrung der Autoren bietet sich anschließend ein intraoperativer dreidimensionaler (3-D) Scan an, um eventuelle Schraubenfehlagen zu korrigieren und spätere Revisionen zu vermeiden. Hierbei ist dann jedoch die Anwendung einer Karbon-Mayfield-Klemme erforderlich

Abb. 8
figure 8

Nach erfolgreichem Setzen aller Schrauben erfolgt das Einbringen der Längsverbinder. Hierbei ist insbesondere am kranialen Ende auf eine angemessene Stablänge zu achten, um ein Anschlagen des Hinterhaupts unbedingt zu vermeiden. HWK Halswirbelkörper

Abb. 9
figure 9

Anschließend sollte je nach Indikation eine Spondylodese erfolgen. Hierzu muss der kaudale Anteil des Bogens von Halswirbelkörper HWK 1 dorsal und der kraniale Anteil der Lamina von HWK 2 mit der Diamantfräse oder einer Stanze eröffnet und anschließend keramischer Knochenersatz oder autologe Spongiosa angelagert werden. Anschließend abschließende Wundspülung, Einlage zweier 12-Charrière-Redondrainagen und sorgfältiger Wundverschluss. Eine Refixation der vom Dornfortsatz HWK 2 abgelösten Muskulatur ist unbedingt durchzuführen, um postoperativen Beschwerden des Patienten vorzubeugen. Hierbei wird zunächst die Nackenfaszie wieder an die Dornfortsätze adaptiert. Anschließend erfolgt die wasserdichte fortlaufende Fasziennaht mit Vicrylfaden der Stärke 2. Anschließend Subkutannaht und Hautnaht in Donati-Rückstichtechnik. Nach dem sterilen Verband Umlagerung in Rückenlage und Entfernen der Mayfield-Klemme. Erst jetzt werden die Redondrainagen geöffnet und eine weiche Halskravatte angelegt. Sollte es zu Nachblutungen aus den Läsionen der Mayfield-Klemme kommen, kann ein tief gestochener Einzelknopf die Blutung stillen. Das postoperative Röntgenbild erfolgt am 2. postoperativen Tag

Abb. 10
figure 10

Nativröntgenbild a.-p. (a) und seitlich (b) einer modifizierten Goel-Harmsverschraubung mit Pedikelschrauben in Halswirbelkörper HWK 1. Auf dem axialen (c) und sagittalen (d) Computertomographieschnitt ist die genaue Lage der Pedikelschraube zu erkennen

Besonderheiten

Beim Vorliegen von Atlasfrakturen kann es im Bereich der Fraktur schwierig sein, den Eintrittspunkt sicher darzustellen, ohne die A. vertebralis zu gefährden, so dass wir hier empfehlen, die klassische HWK‑1-Massa-lateralis-Schraube zu platzieren (Abb. 11). Dies ist ebenso der Fall, wenn der Pedikel von HWK 1 <3,5 mm misst.

Abb. 11
figure 11

Frakturverlauf durch den Eintrittspunkt für die Pedikelschraube an Halswirbelkörper HWK 1

Postoperative Behandlung

  • Weiche Halskravatte für 6 Wochen bei mobilen Patienten

  • Redondrainage für 48 h belassen

  • Röntgenbild der Halswirbelsäule (HWS) in 2 Ebenen am 2. postoperativen Tag

  • CT, wenn intraoperativ kein 3D-Scan durchgeführt wurde (Abb. 12)

  • Kein Heben oder Abstützen mit den Armen für 6 Wochen, um eine Faszieninsuffizienz zu vermeiden

  • Entlassung nach 5–10 Tagen

  • Röntgenkontrollen nach 6 Wochen, 6 Monaten und einem Jahr

  • Ab 3 Monaten postoperativ ist die volle Belastungsfähigkeit gegeben

Abb. 12
figure 12

Sehr schlanker Pedikel (a) von Halswirbelkörper HWK 1 versus ausreichend großer Pedikel (b)

Fehler, Gefahren, Komplikationen

  • Verletzung der A. vertebralis: Lokale Blutstillung; anschließend Angiographie, ggf. interventionelle Versorgung mit Stenting

  • Wundinfekt: Bei persistierender Wundsekretion Revision mit Entnahme mikrobiologischer Proben und radikalem Débridement durch erfahrenen Operateur; kalkulierte antibiotische Therapie. Bei Keimnachweis antibiotische Therapie für 4 Wochen

  • Verletzung der A. temporalis durch Mayfield-Klemme: Umstechung mit Hautnaht nach entfernen der Klemme

  • Intraoperatives Ausbrechen der HWK‑1-Schrauben: Verlängerung auf das Okkziput (präoperative Aufklärung!)

  • Intraoperatives Ausbrechen der HWK‑2-Schrauben: Alternative Schraubentechniken (Laminaschrauben), Verlängerung nach kaudal

Ergebnisse

Um Blutungskomplikationen aus dem Harms-Plexus zu vermeiden und eine erhöhte biomechanische Festigkeit der Schrauben zu erreichen, werden in unserer Klinik – wenn möglich – HWK‑1-Pedikelschrauben gesetzt. Um zu schauen, mit welcher Häufigkeit die Instrumentation von HWK 1 mit Pedikelschrauben möglich ist, haben wir einen 20-monatigen Zeitraum von Januar 2017 bis September 2018 in unserer Klinik ausgewertet. Dabei konnten 21 Patienten identifiziert werden, die aufgrund einer posttraumatischen Instabilität von HWK 1/2 mittels dorsaler Instrumentation behandelt wurden. Das mittlere Alter betrug 72,52 ± 15,45 Jahre; 12 Patienten waren männlich. Insgesamt wurden 42 Schrauben in HWK 1 gesetzt, 21-mal (50 %) konnte eine HWK‑1-Pedikelschraube platziert werden. Bei 11 Patienten erfolgte eine beidseitige Instrumentation von HWK 1 mit Pedikelschrauben und bei 9 Patienten die Instrumentation von HWK 1 beidseits mit klassischen Harms-Schrauben. In 3 Fällen war eine unterschiedliche Instrumentation nötig (rechts Pedikelschraube, links Harms-Schraube), da das Platzieren einer Pedikelschraube aufgrund des Frakturverlaufs durch den Eintrittspunkt (2-mal) oder eines intraoperativen Ausbruchs nach kaudal (1-mal) nicht möglich war. In der Gruppe mit beidseitigen Harms-Schrauben betrug die mittlere Operationsdauer 170 ± 92 min, in der Gruppe mit den beidseitigen Pedikelschrauben war diese etwas kürzer (136 ± 37 min).

Komplikationen zeigten sich bei drei Patienten: eine Verletzung der A. vertebralis mit der Notwendigkeit zum interventionellen Verschluss und einer dreimaligen Revision zur Hämatomentlastung. Eine intraoperative Reanimation aufgrund eines neu aufgetretenen atrioventrikulären Blocks dritten Grades. Die dritte beobachtete Komplikation war die Schraubenlockerung in HWK 1 mit progredienten Nackenschmerzen und der Notwendigkeit zur Revision ein Jahr postoperativ. Alle drei beobachteten Komplikationen wurden in der Gruppe der Patienten mit Harms-Schrauben beobachtet.

Abschließend zeigt sich, dass nach unserer Erfahrung in der Hälfte aller Patienten, die eine Instrumentation von HWK 1 benötigten, das Platzieren von HWK‑1-Pedikelschrauben sicher möglich war. Aufgrund des geringeren Blutungsrisikos aus dem Harms-Plexus und der erhöhten biomechanischen Festigkeit empfehlen wir, wenn möglich, die Instrumentation mit HWK‑1-Pedikelschrauben.