Vorbemerkungen

Die jährliche Inzidenz offener Frakturen der langen Röhrenknochen hat seit 1998 von 11,5 auf 30,7 pro 100.000 Personen zugenommen [1]. Diese Verletzungen weisen eine hohe Rate an Wund- und Knochenheilungsstörungen sowie Infektionen auf. Dabei ist der Schweregrad der Verletzung der entscheidende Prädiktor für die Entstehung von Komplikationen [2].

Klassifikationen

Offene Frakturen werden nach der modifizierten Gustilo-Anderson(GA)-Klassifikation eingeteilt (Tab. 1), die das zunehmende Ausmaß des Weichteilschadens angibt und somit auf den Schweregrad der Verletzung hinweist [3]. Abhängig vom Ausmaß der Verletzung nimmt das Infektionsrisiko zu (Grad I: 0–2 %, Grad II: 2–10 % und Grad III: 10–50 %; [4]).

Tab. 1 Modifizierte Gustilo-Anderson-Klassifikation [3]

Verschiedene Scores helfen dem Behandler, die schwere Entscheidung zwischen primärer Amputation und Erhalt der Extremität zu treffen. Verbreitet ist der 1990 von Helfet et al. [5] etablierte Mangled Extremity Severity Score (MESS). Weitere Scores sind der Limb Salvage Index (LSI), der Predictive Salvage Index (PSI) und der Nerve Injury, Ischemia, Soft Tissue Injury, Skeletal Injury, Shock and Age of Patient Score (NISSSA; [6]). Speziell zur Beurteilung des breiten Spektrums an offenen Frakturen GA-Grad III B ist der erstmals 2004 vorgestellte Ganga Hospital Open Injury Score (GHOIS) geeignet [7].

Das primäre Weichteilmanagement hat eine entscheidende Bedeutung für die weitere Prognose der Verletzung. Das operative Débridement ist neben der frühzeitigen Antibiotikatherapie der wichtigste Schritt zur Reduktion des Infektionsrisikos.

Zeitpunkt der Versorgung

Der optimale Zeitpunkt der Primärversorgung von Weichteilverletzungen und offenen Frakturen wurde historisch durch die sog. 6‑h-Regel vorgegeben, die auf einer tierexperimentellen Studie aus dem 19. Jahrhundert basiert [8]. Diese Zeitspanne wurde in den letzten Jahren jedoch mehrfach hinterfragt. Mehrere Studien belegen, dass auch eine Versorgung von offenen Frakturen innerhalb von bis zu 24 h ohne erhöhtes Infektionsrisiko möglich ist [9]. Eine Studie von Hull et al. [10] zeigte jedoch insbesondere für schwerere Verletzungen (GA-Grad III B und III C) eine kontinuierlich steigende Infektionsrate um 3 % pro Stunde Verzug des Débridements. Je schwerwiegender die Verletzung, umso dringlicher erscheint ein frühzeitiges Débridement. Der optimale Zeitpunkt für die operative Versorgung ist somit der frühestmögliche Zeitpunkt, zu dem ein erfahrener Unfallchirurg verfügbar ist. Wenn ein primärer Wundverschluss aufgrund des Schweregrads der Verletzung unwahrscheinlich ist (>GA-Grad III A), sollte die Behandlung in einem spezialisierten Zentrum in Kooperation mit einem plastischen Chirurgen erfolgen [11, 12] oder der Patient nach der initialen Versorgung in ein Zentrum mit plastisch-chirurgischer Versorgungsmöglichkeit verlegt werden. Der Behandlungsplan sollte auf eine frühzeitige definitive Stabilisierung der Fraktur mit möglichst früher endgültiger Deckung des Haut-Weichteil-Defekts abzielen.

Der optimale Zeitpunkt für einen definitiven Wundverschluss ist Gegenstand der Diskussion [7]. Während historisch aufgrund der hohen Infektionsraten ein verzögerter Wundverschluss mit mehreren Débridements angestrebt wurde, hat mit Aufkommen moderner orthoplastischer Therapieoptionen mittels früher Lappen- und Weichteildeckung die Häufigkeit des frühzeitigen Wundverschlusses zugenommen [13]. So wird der primäre Wundverschluss bei Verletzungen GA-Grad I, II und III A nach entsprechend ausführlichem Débridement empfohlen [14]. Er scheint, bei korrekter Indikation, auch für Grad-III B-Verletzungen möglich zu sein [7]. Sofern ein primärer Wundverschluss nicht möglich ist, hat sich die Vakuumversiegelungstherapie („negative pressure wound therapy“, NPWT) etabliert. Sie ermöglicht, in Ausnahmefällen, eine Verzögerung der endgültigen Deckung um bis zu 4 Wochen [11].

Bei polytraumatisierten Patienten kommen die Grundlagen der „damage control surgery“ zum Tragen. Deren Ziel ist ein kurzer, minimal-traumatischer Eingriff mit dem primären Fokus der Blutstillung und weiterer lebensrettender Maßnahmen. Daher erfolgen lediglich die temporäre Frakturstabilisierung und ein primäres Débridement. Um einen „second hit“ zu vermeiden, werden komplexe langwierige Rekonstruktionen erst nach Stabilisierung des Patienten in einem sekundären Eingriff durchgeführt [15].

Da eine kompromittierte Blutversorgung der Extremität mit einem hohen Risiko für eine Amputation einhergeht, sollten diese Verletzungen so schnell wie möglich in Zusammenarbeit mit einem Gefäßchirurgen behandelt werden. Débridement und Stabilisierung erfolgen i. d. R. nach der Gefäßrekonstruktion. Wegen der Gefahr eines akuten Kompartmentsyndroms nach Reperfusion muss die Wunde in diesem Fall nach der Spaltung aller Kompartimente sekundär verschlossen werden [16].

Im Folgenden wird die Vorgehensweise bei der primären Versorgung offener Frakturen erläutert, beginnend mit Beispielen der unterschiedlichen Verletzungsmuster. Generell erfolgt nach dem initialen Débridement die Beurteilung der Vitalität von Haut, Fett- und subkutanem Bindegewebe, Muskulatur und Knochen. Für das weitere Vorgehen werden die antiinfektiologischen Strategien mit Gewebeprobengewinnung und Wundspülung, die verschiedenen Möglichkeiten der Frakturstabilisierung sowie die verschiedenen Wundverschlusstechniken mit primärem Verschluss, Defektdeckung durch lokale Lappenplastik oder NPWT dargestellt.

Operationsprinzip und -ziel

Débridement, großvolumige Niedrigdruckspülung, Frakturstabilisierung sowie ein- oder mehrzeitiger Wundverschluss, um das Infektionsrisiko zu verringern und optimale Heilungsbedingungen zu schaffen. Der Patient sollte so rasch wie möglich nach dem Trauma operiert werden.

Vorteile

  • Reduktion des Infektionsrisikos

  • Optimale Bedingungen für notwendige Folgeeingriffe

  • Konditionierung der Wunde

  • Reduktion von Folgeeingriffen und rasche endgültige Behandlung

  • Zügige Wiederherstellung der Anatomie und Funktion der betroffenen Extremität

Nachteile

  • Spätere Gewebedemarkation mit der Notwendigkeit sekundärer Eingriffe möglich

  • Vermehrte Blutungen bei Operation ohne Blutsperre

Indikationen

  • Offene Frakturen Grad I–III A–C nach Gustilo-Anderson

Kontraindikationen

  • Verletzungen, die eine Amputation notwendig machen

  • Verbrennungen

  • Vital bedrohliche Verletzungen, die eine entsprechende Behandlung vorübergehend unmöglich machen

Patientenaufklärung

  • Allgemeine Operationsrisiken

  • Notfalleingriff

  • Infektionsrisiko

  • Wundheilungsstörungen

  • Störungen der Frakturheilung

  • Funktionsverlust durch Resektion von Weichteil- und Knochenstrukturen

  • Primäre oder sekundäre Amputation der betroffenen Extremität

  • Sekundäre Demarkation und Nekrose von Gewebe mit der Notwendigkeit von Nachresektionen

  • Endorganschäden durch Abbauprodukte nekrotischen Muskelgewebes (z. B. Myoglobin)

  • Notwendigkeit von Zweiteingriffen

  • Narbenbildung

  • Bluttransfusion

Operationsvorbereitungen

Erstversorgung an der Unfallstelle

  • Beseitigung grober Verunreinigung (Kleidung, Laub) [17]

  • Sofern möglich Spülung mit isotoner Kochsalzlösung

  • Steriler Wundverband vorzugsweise mit transparentem Material (z. B. Opsite™, Tegaderm™, Biooclusive™) zur leichteren Wundevaluation

  • Schienung der verletzten Extremität

  • Fotodokumentation sofern möglich

  • Ausführliche schriftliche Dokumentation (Verletzungsmechanismus, Kontamination z. B. mit Fäkalkeimen)

Evaluation

  • Bei fehlenden oder unzureichenden präklinischen Informationen Wundbeurteilung im Vorraum des OP unter möglichst sterilen Bedingungen [18]. Hier werden grobe Verunreinigungen entfernt und die Wundumgebung gereinigt.

  • Wurde die Wunde bereits am Unfallort makroskopisch gesäubert, erfolgt die Verbandsabnahme und Wundevaluation im OP unter sterilen Bedingungen.

  • Vermeiden von wiederholtem Öffnen des Wundverbands, da das Infektionsrisiko mit jeder Exposition steigt [19].

  • Fotodokumentation

  • Sterile Abdeckung der Wunde mit feuchten Kompressen

Tetanusschutz

  • Auffrischung des Schutzes, sofern die letzte Impfung länger als 10 Jahre zurückliegt [20]

  • Bei Patienten >60 Jahren und/oder bei kontaminierten Wunden sollte bereits nach 5 Jahren aufgefrischt werden.

  • Bei unklarem Impfstatus prophylaktische Auffrischung

Antibiotikaprophylaxe

  • Frühestmöglicher Beginn [21]

  • Cephalosporin der 1. oder 2. Generation bei GA-Grad I–II (grampositives Erregerspektrum)

  • Cephalosporin plus Aminoglykosid bei GA-Grad III A–C (grampositives und -negatives Erregerspektrum), jedoch unter Kalkulation der nephrotoxischen und ototoxischen Wirkung von Aminoglykosiden, insbesondere da die Risikoreduktion bei additiver Gabe nicht sicher geklärt ist [22]

  • Bei Verdacht auf Kontamination mit Fäkalkeimen oder Clostridien (z. B. im Rahmen von Unfällen im landwirtschaftlichen Bereich) zusätzliche Prophylaxe mit hochdosiertem Penicillin

  • Nach primärem Wundverschluss bei GA-Grad I und II Gabe für 24 h

  • Bei Grad III A–C Gabe für 72 h, jedoch maximal für 24 h nach Wundverschluss

  • Eine Prophylaxe >72 h zeigt keinen weiteren Infektionsschutz mehr, sondern erhöht das Risiko für nosokomiale Infektionen [23].

  • Bei positivem Erregernachweis nach „second look“ gezielte Antibiotikatherapie für entsprechend längere Dauer

Instrumentarium

  • Grundsieb

  • Knochensieb mit scharfem Löffel, Kürette, Meißel

  • Eventuell Osteosynthesesieb mit für die Extremität passenden internen Fixationsmethoden (Platte, Nagel, Drähte)

  • Eventuell Fixateur externe

  • Eventuell NPWT

Anästhesie und Lagerung

  • Keine Blutsperre, sofern vertretbar, da bessere Unterscheidung zwischen vitalem und avitalem Gewebe durch Beurteilbarkeit der Blutungskapazität, jedoch prophylaktische Anlage empfehlenswert

  • Lagerung abhängig von Lokalisation der Verletzung, meist Rückenlage

  • Bei interdisziplinärer Versorgung Lagerung gemäß vorheriger interdisziplinärer Absprache

  • Vollnarkose, ggf. lokale oder regionale Nervenblockaden

Operationstechnik

(Abb. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13 und 14)

Abb. 1
figure 1

Offene Femurfraktur Grad I nach Gustilo-Anderson. a Intraoperatives Bild. b Die Wunde wird sparsam schiffchenförmig ausgeschnitten, débridiert und ausgiebig gespült. Nach Osteosynthese kann die Wunde primär verschlossen werden. c Präoperatives Röntgenbild

Abb. 2
figure 2

Offene Femurfraktur Grad II nach Gustilo-Anderson. a Präoperatives Bild aus dem Operationssaal. b Äußerst sparsame Resektion der Haut. Meist ist nur eine minimale Wundrandexzision von wenigen Millimetern erforderlich. Muss eine quer verlaufende Wunde erweitert werden, erfolgt dies Z‑förmig, damit die dadurch entstandenen Lappen spannungsfrei zueinander verschoben und primär verschlossen werden können. Die frühere Lehrmeinung, Wund- und Frakturränder bis ins gesunde Gewebe zu resezieren, muss überdacht werden. Die sichere Unterscheidung zwischen vitalem und avitalem Gewebe ist u. U. erst zu einem späteren Zeitpunkt möglich, wenn es zu einer Demarkierung des Gewebes kommt. Kontusioniertes Weichteilgewebe sollte nur marginal und nicht bis in sicher gesundes Gewebe reseziert werden, um eine „Überresektion“ noch vitalen Gewebes zu vermeiden [24, 25]. Wenn möglich arbeiten wir ohne Blutsperre, um avitales von vitalem Gewebe besser unterscheiden zu können. c Präoperatives Röntgenbild

Abb. 3
figure 3

Offene Unterschenkelfraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson. a Präoperatives Bild im Schockraum. b Minimale Wundrandexzision und Erweiterung der Wunde in Längsrichtung. Das gesamte Ausmaß der Verletzung kann oft erst intraoperativ nach Débridement beurteilt werden. Der geschädigte Hautmantel ist äußerst vulnerabel und muss mit großer Vorsicht behandelt werden. Hierbei verbietet sich grober Zug mit Haken oder Quetschen der Haut mit der Pinzette. Als Merkmal für vitale Haut gelten blutende Wundränder. Entsprechend wird die Haut schichtweise reseziert, bis feine Blutungen zu sehen sind [26]. Ist eine primäre Osteosynthese geplant, wird die Hautinzisionen so durchgeführt, dass die entstehenden Hautlappen das verwendete Implantat bedecken können. Zu beachten ist, dass bei primärer Frakturstabilisierung die Wunden einer offenen Fraktur in die chirurgischen Inzisionen einbezogen werden sollten. So werden ein weiteres Weichteiltrauma und schmale Hautbrücken zwischen der primären Wunde und der chirurgischen Inzision vermieden. c Präoperatives Röntgenbild

Abb. 4
figure 4

Débridement. Präoperatives Bild einer offenen Knieluxation von medial mit Tibiakopffraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson mit großen knöchernen Defekten im Bereich des lateralen Tibiaplateaus. Der Streckapparat ist weitgehend defizient. Die Unterscheidung zwischen vitalem und avitalem Gewebe ist im Ersteingriff schwierig, entscheidet jedoch über die weitere Prognose der Verletzung und sollte immer von einem erfahrenen Chirurgen durchgeführt werden. Eine Fettgewebenekrose stellt sich als flüssig werdendes, zerfließendes Gewebe dar. Sie kann leicht mit einer Kürette abgetragen werden. Zerfetztes, aus dem Verbund gelöstes Fasziengewebe wird reseziert. Nekrotische Faszie verliert ihre Integrität und stellt sich bräunlich gelb dar. Sie wird mit dem Skalpell schichtweise reseziert, bis Blutungen aus kleineren Gefäßen sichtbar sind [27]. Neurovaskuläre Strukturen werden zur Beurteilung nicht isoliert oder gesondert dargestellt [11]

Abb. 5
figure 5

Gewebevitalität. Intraoperatives Bild des gleichen Patienten nach Débridement. a Erhalt der vitalen Gewebeanteile. b Beispiel einer Muskelnekrose am Unterschenkel nach Kompartmentsyndrom. Die Vitalität der Muskulatur wird anhand der „4 C“ nach Artz et al. [28] beurteilt: „color“ (Farbe), „contractibility“ (Kontraktibilität), „consistency“ (Konsistenz) und „capacity to bleed“ (Fähigkeit zu bluten). Als zuverlässigere Parameter sind Konsistenz und Kontraktibilität zu werten. Letztere kann durch vorsichtiges Beklopfen mit der Pinzette oder durch punktuelle Stimulation mit dem Elektrokauter getestet werden. Die Farbe kann durch Kontamination, Kontusion, Hämatom oder Austrocknung verändert sein. Die Kapazität zu bluten kann durch transiente Vasokonstriktion beeinflusst werden. Avitaler Muskel (b) stellt sich eher hell und sulzig bis hin zu dunkel lehmartig verfärbt dar, blutet nicht und zeigt keine Kontraktion bei Stimulation

Abb. 6
figure 6

Gewebeproben. Präoperatives Bild einer offenen Tibiafraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson mit makroskopisch sichtbarer Verunreinigung. Vor dem Débridement gewonnene Wundkulturen eignen sich nicht zur Vorhersage einer späteren Infektion [29]. Auch mit nach dem Débridement gewonnenen Gewebeproben lassen sich in 58 % der Fälle der oder die verantwortliche(n) Infektionskeim(e) nicht bestimmen [4]. Jedoch korreliert der Nachweis eines Erregers nach Débridement mit dem Auftreten einer späteren Infektion [30, 31]. Wundabstriche eignen sich nicht zum Erregernachweis, mindestens 5 Gewebeproben sollten gewonnen werden. Eine antibiotische Therapie kann antibiogrammgerecht in Betracht gezogen werden

Abb. 7
figure 7

Knochen. Bild nach Débridement der Tibia und des umgebenden Weichteils. Sauberer langer Röhrenknochen wird erhalten. Die Vitalität des Knochens kann anhand des „Paprika-Zeichens“ beurteilt werden. Hierbei werden mit dem Meißel oder Luer tangential Schichten des Knochens abgetragen, bis kleine Blutungsherde sichtbar werden [27]. Das Periost wird soweit wie möglich erhalten und geschont, da es entscheidend für die Vitalität des Knochens verantwortlich ist. Am Periost gestielte Knochenfragmente werden erhalten. Sie müssen besonders umsichtig behandelt werden, um den periostalen Kontakt beizubehalten. Aber auch denudierter langer Röhrenknochen wird erhalten. Bei denudierten freien Knochenfragmenten sind der Kontaminationsgrad und die Größe des Fragments entscheidend für den Erhalt

Abb. 8
figure 8

Knochen. Intraoperative Bilder offener Unterschenkelfrakturen GA-Grad III B nach Fixierung freier Knochenfragmente mittels Fadencerclage (a) und Schrauben (d) nach Osteosynthese mittels Fixateur externe (b, c) und Plattenosteoynthese (e, f). Die frühere Lehrmeinung, Frakturfragmente, die nicht mehr am Periost gestielt sind, zu entfernen, muss reevaluiert werden [32, 33]. Um Knochendefekte zu vermeiden und suffizienten Frakturkontakt zu erzielen, sollten die Frakturfragmente bei diaphysären Frakturen primär erhalten werden. Auch Knochentransplantate, die z. B. vom Beckenkamm in den entstandenen Knochendefekt transplantiert werden, sind nicht periostal durchblutet und werden über sekundären Knochenumbau inkorporiert. Mittlerweile ist auch das primäre „bone grafting“ mit ortsständigem Knochen im Rahmen offener Frakturen etabliert [26, 34]. Hierzu erfolgt die ausführliche Reinigung des Knochens durch Bürsten des Knochens mit Kochsalz. Bei starker Verunreinigung wird der Knochen mit Luer oder Meißel dekortiziert. Die Fixation erfolgt je nach Größe des Fragments vorzugsweise mit Schrauben, bei kleineren Fragmenten mittels Fadencerclage

Abb. 9
figure 9

Spülung. Die ausgiebige Spülung der Wunde trägt entscheidend zur Reduktion der Keimbelastung bei. Die verwendete Menge an Spülflüssigkeit sollte in Abhängigkeit vom Schweregrad der Verletzung zunehmen. Folgende Volumina werden empfohlen: bei Verletzungen Grad I nach Gustilo-Anderson mindestens 3 l, bei Grad II 3–6 l, bei Grad III 6–>9 l [35, 36]. Die Wunde sollte mit niedrigem manuellen Druck, z. B. einer Blasenspritze (a), oder mit Unterstützung der Schwerkraft, z. B. mit hoch hängenden Flüssigkeitsbeuteln mit Schlauchsystem (b), gespült werden. Aufgrund verschiedener negativer Auswirkungen der Hochdruckspülung wie Schädigung des Weichteilgewebes, Einbringung von Bakterien in tiefere Gewebeschichten, Zunahme des interstitiellen Ödems und Störung der Knochenheilung kommen Hochdruck-Lavage-Systeme in der Behandlung offener Wunden nicht mehr zur Anwendung [11]. Als Spüllösung wird einfache Kochsalzlösung empfohlen [37]

Abb. 10
figure 10

Frakturstabilisierung. a Intraoperatives Bild eines Fixateur externe nach primärem Wundverschluss bei Unterschenkelfraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson. b Postoperative Röntgenbilder nach intramedullärer Nagelosteosynthese. Die Stabilisierung der Faktur reduziert das Infektionsrisiko [38], schützt das Weichteil vor weiteren Verletzungen, stellt Länge, Achse und Rotation der Extremität wieder her, reduziert das Totraumvolumen und ermöglicht die frühzeitige Beübung der angrenzenden Gelenke [4]. Als minimal-invasives, zeitsparendes Verfahren hat sich der Fixateur externe bewährt (a). Bei diaphysären Brüchen der unteren Extremität wird die intramedulläre Nagelosteosynthese empfohlen (b). Sie ermöglicht eine frühe Belastung der betroffenen Extremität, einfachere Wundpflege als bei einem Fixateur externe sowie eine frühe Mobilisation von Hüft‑, Knie- und Sprunggelenk. Es konnte kein Unterschied hinsichtlich der Infektionsrate zwischen interner und externer Fixation nachgewiesen werden [39]

Abb. 11
figure 11

Frakturstabilisierung. a Intraoperatives Bild mit Blick auf die mittels Osteosyntheseplatte versorgte laterale Femurkondyle. b Postoperative Röntgenkontrolle. Bei diaphysären Frakturen der oberen Extremität und bei gelenkbeteiligenden Frakturen erfolgt die Osteosynthese mit Platten und Schrauben, sofern möglich, primär oder nach Behandlung mit Fixateur externe und Konsolidierung der Weichteile sekundär [12]. Die Entscheidung des Versorgungszeitpunkts erfordert einen sehr erfahrenen Unfallchirurgen. Im Zweifelsfall ist bei gedeckten knöchernen und tendinösen Strukturen ein zweizeitiges Vorgehen sicherer. Bei einfachen offenen Gelenkverletzungen (<2 Frakturfragmente) sollten primär, wenn möglich, die knorpeltragenden Frakturfragmente zueinander reponiert und stabilisiert werden, um weiteren Knorpelschaden zu minimieren und die spätere Rekonstruktion zu erleichtern [40]. Komplexe Gelenkfrakturen, deren Rekonstruktion zeitintensiv wäre, sollten primär mit einem gelenküberbrückenden Fixateur externe stabilisiert und sekundär rekonstruiert werden. Das dargestellte Beispiel zeigt eine Fraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson. Nach Débridement wurde eine primäre Plattenosteosynthese der supra- und diakondylären Femurfraktur sowie der Tibiakopf- und proximalen Tibiafraktur durchgeführt. Beachte: Die Hautinzisionen wurden so gewählt, dass das Implantat durch die Hautlappen bedeckt werden konnte

Abb. 12
figure 12

Intraoperatives Bild nach Primärverschluss beim gleichen Patienten wie Abb. 11. Der primäre Wundverschluss ist insbesondere bei Verletzungen Grad I und II nach Gustilo-Anderson geeignet, da bei verzögertem Wundverschluss das Infektionsrisiko steigt [10]. Auch im Rahmen von Grad-III A- und -III B-Verletzungen ist ein primärer Wundverschluss möglich. Voraussetzung hierfür sind vitale Wundränder ohne wesentlichen Hautverlust im Rahmen der Verletzung oder des Débridements, ein ausführliches und zufriedenstellendes Débridement und eine spannungsfreie Adaptation der Wundränder. Zur Prävention eines Hämatoms werden stets Drainagen eingelegt. Liegt eine Kontamination durch organische oder landwirtschaftliche Verschmutzungen vor und bestehen Risiken für Wundheilungsstörungen, wie z. B. medikamentenpflichtiger Diabetes mellitus oder periphere arterielle Verschlusskrankheit, sollte auch bei Grad-III A- und -III B-Verletzungen ein mehrzeitiges Vorgehen in Betracht gezogen werden [26]

Abb. 13
figure 13

„Fix and flap“ bei Verletzung Grad III B nach Gustilo-Anderson. a Intraoperatives Bild einer offenen, mehrfragmentären Unterschenkelfraktur. In diesem Fall ist ein primärer Wundverschluss aufgrund des Haut-Weichteil-Verlustes nicht möglich. b Jedoch kann die definitive Frakturstabilisierung mittels Plattenosteosynthese und gleichzeitiger Beckenspaninterposition erfolgen. c Der Weichteildefekt wird mittels eines lokalen Lappens (medialer M.-gastrocnemius-Lappen) gedeckt. d Klinisches Bild nach 6 Monaten

Abb. 14
figure 14

Intraoperatives Bild eines vorübergehenden Wundverschlusses mithilfe der Vakuumversiegelung (NPWT, V.A.C.® Therapy System KCI Austria GmbH, Wien). Diese Technik stellt einen inzwischen etablierten Wundverschluss bei offenen Frakturen dar, bei denen ein primärer Wundverschluss nicht möglich ist. Die Vorteile liegen in einem reduzierten Infektionsrisiko, einer verbesserten Lappenintegration sowie einer Reduktion des Gewebeödems und verbesserten lokalen Durchblutung [41]. In Wunden mit freiliegendem Knochen- und Sehnengewebe kommt es zu einer vermehrten Gewebegranulation, wodurch die spätere Weichteildeckung erleichtert wird. Auch bei freiliegendem Osteosynthesematerial kann die NPWT angewendet werden [42]. Der Wunddefekt wird mithilfe eines Vakuumschwamms unter kontinuierlichem Sog von 75 mm Hg [11] verschlossen. Eine definitive Weichteildeckung z. B. mittels Lappenplastik sollte innerhalb der ersten 72 h erfolgen. Dieser Zeitraum kann mit einer NPWT auf maximal 7 Tage ausgedehnt werden [43]

Besonderheiten

(Abb. 1516 und 17)

Abb. 15
figure 15

Wundverschluss mithilfe der Visierlappentechnik bei offener Unterschenkelfraktur Grad III B nach Gustilo-Anderson. a Präoperatives klinisches Bild. b Nach Débridement und Spülung primäre Frakturstabilisierung. Mittels Visierlappentechnik werden freiliegende Strukturen wie Kochen, Sehnen und Implantate durch Verschieben der Haut gedeckt. Gegeninzision kontralateral der Verletzung. Die Inzision darf nicht in geschädigte Haut gesetzt werden. Mobilisierung des Subkutangewebes. Der gewonnene intakte Haut-Weichteil-Mantel wird wie ein Visier über die Defektzone geschwenkt. Im Hebedefekt dürfen keine Strukturen wie Knochen, Sehnen, Gefäße, Nerven freiliegen. Optimale Grundlage für die Spalthautintegration ist die Muskulatur. c Prä- und postoperative Röntgenbilder

Abb. 16
figure 16

a Die Wunde kann nun primär spannungsfrei verschlossen werden. b Die entstandene Wunddehiszenz auf der Gegenseite wird mit Spalthaut gedeckt

Abb. 17
figure 17

Ausheilungsergebnisse nach 12 Monaten

Postoperative Behandlung

  • Falls notwendig „second look“ nach 36–48 h mit erneuter Beurteilung der Gewebevitalität, nochmaligem Débridement bei grober Verunreinigung, Weichteildeckung oder Wundverschluss

  • Weichteildeckung spätestens innerhalb von 3 Tagen

  • Wundverschluss spätestens innerhalb von 7 Tagen

  • Vakuumversiegelung zur Wundkonditionierung, Drainage von abgestorbenen, beweglichen Gewebeanteilen, Reduktion der Defektgröße

  • Wechsel des Vakuumverbands alle 3–5 Tage bis zur Weichteildeckung und zum endgültigen Wundverschluss

Fehler, Gefahren, Komplikationen

  • Gefäß- oder Nervenschaden durch exzessives Débridement: primäre Gefäß- oder Nervennaht in Kooperation mit plastischer oder Gefäßchirurgie oder Sekundärnaht der verletzten Nervenstruktur bei postoperativ festgestellten neurologischen Ausfallerscheinungen

  • Infektion bei inadäquatem Débridement und primärem Verschluss: operative Revision und Erweiterung der antibiotischen Therapie gemäß Antibiogramm

  • Infektion durch Anaerobier bei Kontamination mit Fäkalkeimen und primärem Wundverschluss: Erweiterung der Antibiose mit hochdosiertem Penicillin, ggf. mehrere Second-look-Operationen mit Entnahme von Hygieneproben bis zur sicheren Keimfreiheit

  • Schrittweise Rückkürzung der Extremität durch Fehleinschätzung der Vitalität des Gewebes im Rahmen des Débridements („Salami-Technik“): frühzeitige Entscheidung zur Amputation, wenn eine Erhaltung der Extremität aussichtslos ist

  • Fehlschlag nach lokaler oder freier Lappenplastik: Revisionsoperation mit Entfernung der avitalen Gewebe und NPWT zur Optimierung der Lappenintegration

Ergebnisse

Mehrere Arbeiten untersuchten die Infektionsrate abhängig vom Zeitpunkt des endgültigen Wundverschlusses. Hierbei zeigte sich ein inhomogenes Bild bezüglich Art und Zeitpunkt des sekundären Wundverschlusses.

Der primäre Wundverschluss kann jedoch als endgültiger Wundverschluss im Rahmen der Erstoperation definiert werden. Beim primären Wundverschluss ist für Verletzungen Grad I, II und III A nach GA die Infektionsrate im Vergleich zum sekundären Wundverschluss nicht erhöht (Tab. 2).

Tab. 2 Vergleich der Infektionsraten zwischen primärem und verzögertem Wundverschluss abhängig vom Schweregrad nach Gustilo-Anderson (GA)

Bei Grad-III B- und -III C-Verletzungen lässt sich aufgrund der geringen Fallzahlen keine klare Aussage bezüglich des Infektionsrisikos beim primären Wundverschluss machen. Dieser wurde jedoch von Moola et al. [44] bei solchen Frakturen durchgeführt.

Auch Rajasekaran et al. [45] berichteten in ihrer prospektiven Studie, aus einer konsekutiven Gruppe von 557 Patienten bei 173 Patienten (151 Männer, 22 Frauen im Alter von 3 bis 75 Jahren) mit insgesamt 185 offenen Frakturen GA-Grad III A und III B einen primären Wundverschluss erzielt zu haben. Der mittlere Nachuntersuchungszeitraum betrug 6,5 Jahre. Das Ergebnis wurde folgendermaßen bewertet:

  • Sehr gut – primäre Wundheilung oder Wundheilung mit marginaler Wundrandnekrose ohne die Notwendigkeit zur operativen Intervention, keine Infektion, knöcherne Heilung ohne Interventionsbedarf.

  • Gut – Wundheilung mit Nekrose, die eine operative Intervention notwendig macht oder oberflächliche Infektion, knöcherne Heilung ohne Interventionsbedarf.

  • Schlecht – Wunddehiszenz, die eine Lappendeckung notwendig macht, tiefe Infektion, Pseudarthrose.

Bei 150 Patienten (86,7 %) war das Outcome sehr gut, bei 11 Patienten (6,4 %) gut und bei 12 Patienten (6,9 %) schlecht. Es kam zu 33 Komplikationen bei 23 Patienten: oberflächliche Infektionen bei 11, tiefe Infektionen bei 5 und notwendige sekundäre Hautlappendeckung bei 3 Patienten. Bei 6 Patienten heilte die Fraktur nicht.