Einleitung

Die COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie, verursacht durch SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“), führt bei etwa 10 % der Patienten zu einer Pneumonie und bei etwa 2 % zu einer Pneumonie mit einem schweren Verlauf. Der Ausbruch der Pandemie in Deutschland im Frühjahr 2020 hat zu Umstrukturierungen im Gesundheitssystem geführt mit dem Ziel, die erwartete steigende Zahl von schwer erkrankten Patienten mit SARS-CoV‑2 versorgen zu können [1]. Dies betraf die Verschiebung von elektiven kardiologischen und herzchirurgischen Eingriffen, aber auch die Akutversorgung kardiologischer Patienten. Obwohl das deutsche Gesundheitssystem im Frühjahr 2020 durch die COVID-19-Pandemie nicht an seine Kapazitätsgrenzen gekommen ist, ergaben sich doch unerwartete Auswirkungen auf die Akutversorgung von Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen. So fragte die New York Times Anfang April 2020: „Where have all the heart attacks gone?“ In diesem Übersichtsartikel analysieren wir die Effekte der 1. Welle der COVID-19-Pandemie im Frühjahr 2020 auf die kardiovaskuläre Versorgung von Patienten unter besonderer Berücksichtigung des akuten Koronarsyndroms (ACS) in Deutschland.

Rückgang der Aufnahmen von Patienten mit akutem Herzinfarkt im Frühjahr 2020

Die ersten Berichte über einen Rückgang der Anzahl der Krankenhausaufnahmen mit akutem Herzinfarkt kamen aus dem besonders durch die Pandemie betroffenen Norditalien [2]. Hier konnte eine hoch signifikante Abnahme der Aufnahmen wegen eines akuten Herzinfarkts mit zunehmender Anzahl von durch die COVID-19-Pandemie betroffenen Patienten beobachtet werden. Einen wesentlichen Anteil hierbei hatte sicherlich die Überlastung der Intensivstationen der Krankenhäuser der Region durch die vielen COVID-19-Patienten und die damit verbundenen eingeschränkten Behandlungskapazitäten für kardiologische Notfälle. Auch aus Österreich wurde in einer landesweiten Erhebung über die Abnahme von Aufnahmen wegen ACS berichtet [3]. Im Gegensatz zu Italien war hier aber nicht die Überlastung der Intensivstationen zu verzeichnen. Ähnliche Berichte gibt es aus multiplen anderen Ländern wie den USA, England, China, Schweden und einzelnen Regionen in Italien [4,5,6,7,8,9,10,11,12,13,14,15,16], auch hier – wo berichtet – meist mit einem ausgeprägteren Rückgang beim Nicht-ST-Strecken-Hebungs-Myokardinfarkt (NSTEMI) im Vergleich zum STEMI.

Auch aus Deutschland liegt eine Reihe von Publikationen zu diesem Thema vor [17,18,19,20,21]. Eine Analyse aus einer Klinik in Rheinland-Pfalz ergab weniger Aufnahmen wegen NSTEMI im Vergleich zu den Vormonaten und auch zu den entsprechenden Monaten in den Vorjahren bei vergleichbaren Zahlen bei Patienten mit STEMI. Eine Auswertung des FITT-STEMI-Registers aus 41 Krankenhäusern in Deutschland ergab einen 12,6 %igen Rückgang der Behandlungen wegen STEMI [19]. Wichtige Zeitintervalle waren während der COVID-19-Pandemie nicht verändert, und es ergab sich in dieser Analyse keine Erhöhung der Sterblichkeit [19]. Allerdings zeigte eine Analyse von Daten aus 36 großen Notaufnahmen eine deutliche Reduktion der Aufnahmen wegen eines Herzinfarkts, die z. B. in der Kalenderwoche 12/2020 für Herzinfarkt bei 40 % lag [22]. Die Zahlen haben sich im weiteren Verlauf bis Ende Mai fast wieder normalisiert. Interessanterweise ergaben sich ähnliche Effekte auch für die chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD) und den Schlaganfall [22]. Eine große Datensammlung aus 15 Herzinfarktnetzwerken in Deutschland mit über 9000 Patienten ergab einen Rückgang der Aufnahmen wegen ACS (sowohl STEMI als auch NSTE-ACS; [23]).

In einer Metaanalyse von 27 internationalen Studien, von denen 16 die Effekte auf das ACS untersuchten, zeigte sich eine Abnahme von Krankenhauseinweisungen wegen ACS um 40–50 % [24].

Effekte auf die Zeitintervalle zwischen Symptombeginn und Reperfusion beim akuten Herzinfarkt

In einer Metaanalyse von 27 internationalen Studien, wovon 16 spezifisch das ACS analysierten, zeigte sich eine Zunahme des Intervalls zwischen Symptombeginn und Aufnahme beim Herzinfarkt [24]. Dies dürfte mit dem längeren Warten der Patienten bis zum Notruf zu erklären sein. Die Dauer des Krankenhausaufenthalts war in mehreren Untersuchungen verkürzt als Hinweis auf die Tendenz, möglichst die Dauer der potenziellen Infektionsgefahr in der Klinik zu reduzieren. Die Spannweite der Verzögerung von Symptombeginn bis zur Reperfusion und auch der Door-to-balloon- bzw. der Door-to-device-Zeiten betrug 15–238 min [13, 16, 25]. Interessanterweise gab es in Schweden sogar eine Verkürzung der intrahospitalen Reperfusionszeiten [14].

Einfluss auf diese intrahospitalen Zeitverzögerungen während der Pandemie haben sicherlich auch die Empfehlungen der Fachgesellschaften genommen, die spezifische Schutzmaßnahmen für das medizinische Personal und adaptierte Reperfusionsstrategien mit zum Teil Präferenz einer Fibrinolyse bei STEMI bzw. auch konservative Strategien bei NSTEMI beinhalteten [26, 27].

Rückgang der Aufnahmen wegen anderer kardiologischer Erkrankungen

Eine Auswertung von Daten aus 82 Kliniken des größten deutschen privaten Krankenhausträgers ergab einen Rückgang der Krankenhausaufnahmen wegen 6 wichtiger kardiologischer und vaskulärer Erkrankungen [28]. Während der Hochphase der Pandemie im April betrug dieser Rückgang bei elektiven und akuten Aufnahmen wegen Herzinsuffizienz 37 %, wegen kardialer Arrhythmien 38 %, wegen stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK) 33 %, wegen Herzklappenerkrankungen 39 %, wegen arterieller Hypertonie 28 % und wegen peripherer arterieller Verschlusskrankheit (pAVK) 36 % [28]. Wenn nur die notfallmäßigen Aufnahmen berücksichtigt wurden, dann ergaben sich Rückgänge bei akuter Herzinsuffizienz von 22–28 %, bei Bradykardien, Vorhofflimmern/-flattern und supraventrikulären Tachykardien von 13–27 % sowie bei interventionellen Eingriffen und Device-Implantationen von 15–27 % [29]. Ähnliche Berichte und Rückgänge gab es bei elektiven perkutanen Koronarinterventionen (PCI) im Vereinigten Königreich und bei anderen akuten kardiovaskulären Ereignissen in den USA [12, 30].

Einfluss der Pandemie auf die kardiale Sterblichkeit

Die Ergebnisse bezüglich der Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf die Sterblichkeit beim Herzinfarkt sind heterogen, da viele Register nur prozedurale Aspekte, Patientencharakteristika und die In-hospital-Versorgung von Patienten berichten (Tab. 1). Aus diesem Grund gibt es einen gewissen Selektionsbias, und mögliche Todesfälle prähospital werden nicht erfasst. Ebenso sind mögliche Langzeitauswirkungen einer verzögerten Reperfusion, wie Herzinsuffizienz oder maligne Herzrhythmusstörungen, bisher nicht erfasst bzw. berichtet worden. Ausgehend von der Gesamtpopulation unabhängig von Krankenhausaufnahmen, gibt es einige Berichte, die eine erhöhte kardiovaskuläre Sterblichkeit beschreiben. In den USA gab es in der Phase der 1. Pandemiewelle eine Erhöhung der Mortalität, die zu 67 % durch COVID-19 bedingt gewesen ist. Die restlichen 33 % gingen v. a. auf eine kardiovaskuläre Übersterblichkeit im Vergleich zum Vergleichszeitraum zurück (siehe hier auch den Artikel von Schieffer und Hilfiker-Kleiner mit der Beschreibung, dass COVID-19 auch Myokardinfarkte auslösen kann; [31]). In Deutschland zeigte eine populationsbasierte Analyse aus Hessen einen Anstieg der kardialen und kardiovaskulären Sterblichkeit während des Lockdowns im März und April 2020 von relativen 7,6 % (IRR [„incidence rate ratio“]: 1,08; 95 %-Konfidenzintervall [KI]: 1,01–1,14; p = 0,02) bzw. 11,8 % (IRR: 1,12; 95 %-KI: 1,05–1,19; p < 0,001; [32]).

Tab. 1 Einfluss der COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie auf die Sterblichkeit beim akuten Herzinfarkt im Frühjahr 2020

Zahlen zur intrahospitalen Sterblichkeit sind teilweise widersprüchlich. Im deutschen FITT-STEMI-Register wurden keine Unterschiede in der Krankenhaussterblichkeit beim STEMI in den COVID-19-Monaten mit Schwerpunkt März bis Mai 2020 im Vergleich zu den Vergleichsmonaten berichtet [19]. Keinen Einfluss hatte die COVID-19-Pandemie auf die Mortalität in einem Register im Vereinigten Königreich [4]. In einem anderen großen Register, das 6609 STEMI-Patienten in 77 High-volume-Zentren in 18 europäischen Ländern analysierte, zeigte sich hingegen ein Anstieg der intrahospitalen Mortalität von 4,9 % auf 6,8 % (adjustiertes p < 0,001). Ähnliche Ergebnisse zeigten sich im Providence St. Joseph Health System in 6 Bundesstaaten der USA. Das Verhältnis von beobachteter („observed“) und erwarteten („expected“) Mortalität („O/E ratio“) für alle Myokardinfarkte (15.244; 4955 STEMI, 10.289 NSTEMI) war in der frühen Pandemiephase signifikant erhöht (O/E-Ratio: 1,27; 95 %-KI: 1,07–1,48), was besonders bei STEMI-Patienten betont war (O/E-Ratio: 1,96; 95 %-KI: 1,22–2,70). Auch nach Risikoadjustierung war die Mortalität erhöht (OR: 1,52; 95 %-KI: 1,02–2,26). In einer ähnlichen Analyse aus China zeigte sich ein Anstieg der Reperfusionszeit von im Schnitt 20 min während der Hochphase der Pandemie, was mit einer signifikant höheren Rate von Herzinsuffizienz und intrahospitaler Mortalität begleitet wurde [8]. In Italien wurde im Rahmen einer Snapshot-Analyse einer Woche im Vergleich zur gleichen Woche in 2019 eine erhöhte STEMI-Fallsterblichkeitsrate während der Pandemie beobachtet (RR [„risk ratio“]: 3,3; 95 %-KI: 1,7–6,6; p < 0,001). Parallel dazu gab es einen Anstieg bei den Komplikationen (RR: 1,8; 95 %-KI: 1,1–2,8; p = 0,009).

In der oben genannten internationalen Metaanalyse mit Einschluss von 16 Studien zum ACS ergab sich in mehreren Ländern eine höhere Infarktsterblichkeit während der Monate von März bis Mai [24]. Eine Gesamtanalyse zur Mortalität für alle 16 ACS-Studien liefert diese Metaanalyse allerdings nicht.

Für einen Einfluss der Pandemie auf die Gesamtinfarktsterblichkeit – also nicht nur intrahospital – sprechen die Berichte aus Norditalien mit einer Zunahme der prähospitalen Todesfälle und Reanimationen wegen OHCA („out-of-hospital cardiac arrest“) während der Monate März und April 2020 [33]. Ähnliche Ergebnisse wurden aus England berichtet mit Zunahme der OHCA-Fälle während der Pandemie wegen Myokardinfarkts und höherer intrahospitaler Sterblichkeit dieser Patienten [34].

Mögliche Einflussfaktoren auf die kardiologische Versorgung

Die möglichen Ursachen für einen Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die kardiologische Versorgung sind vielfältig und in Tab. 2 zusammengefasst. Sehr wahrscheinlich dürften alle genannten Faktoren eine Auswirkung auf die kardiologische Versorgung im Frühjahr 2020 gehabt haben.

Tab. 2 Mögliche Ursachen für eine Veränderung der kardiovaskulären Notfälle und eine mögliche Erhöhung der kardiovaskulären Mortalität im Frühjahr 2020

Konsequenzen für die 2. Welle

Um einen Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die Versorgung und die Prognose kardiovaskulärer Erkrankungen möglichst gering zu halten, ist eine verstärkte Information der Bevölkerung über die Gefahren erforderlich, die mit der Zurückhaltung einhergehen können, bei kardiologischen Notfällen medizinische Hilfe zu suchen. Dies kann hoffentlich helfen, die indirekten negativen Effekte und einen Kollateralschaden, wie in Abb. 1 dargestellt, abzumildern.

Abb. 1
figure 1

Direkte (rot) und indirekte Effekte (insbesondere kardiovaskulär, aber auch psychisch und mental; akut [blau], chronisch [grün], psychisch und mental [orange]) von COVID-19 („coronavirus disease 2019“) auf die Morbidität und die Mortalität über die Zeit (KHK koronare Herzkrankheit)

Ebenso sollte die Sensibilität dafür, dass SARS-CoV‑2 Herzrhythmusstörungen, Thrombosen, Vaskulitiden und Myokardinfarkte auslösen kann, erhöht werden. Ebenso haben wir durch multiple Publikationen gelernt, dass die antihypertensive Therapie mit ACE(„angiotensin-converting enzyme“)-Hemmern und Angiotensinrezeptorblockern (ARB) COVID-19 nicht befördert und daher nicht abgesetzt werden sollte (siehe Publikation Schieffer und Hilfiker-Kleiner in diesem Heft). Bei über 30.000 Todesfällen durch Herzinfarkt in Deutschland im ersten Halbjahr 2020 im Vergleich zu etwa 10.000 Todesfällen durch SARS-CoV‑2 erscheint dieser Aufruf notwendig. In den Krankenhäusern sollte versucht werden, die etablierten Patientenpfade der Versorgung von Infarktpatienten beizubehalten und eine zu starke Fokussierung auf COVID-19-Patienten zu vermeiden, d. h. bei Luftnot auch an eine kardiale und nicht nur an eine infektiöse Ursache zu denken.