Zusammenfassung
„No guideline but guidance“ ist das Motto dieses Leitfadens der European Society of Cardiology (ESC), der als lernende Orientierungshilfe für Ärzte in der Coronapandemie konzipiert ist. 62 europäische Kardiologen haben als Autoren und 29 weitere Experten als Reviewer zu dem 119 Seiten starken Dokument beigetragen. Der Leitfaden ist geprägt von einer vorsichtigen Strategie im Umgang mit einer Pandemie, von der vieles noch nicht bekannt ist. Er beschränkt sich bewusst auf kardiovaskuläre Erkrankungen. In seiner letzten Fassung vom 10. Juni 2020 gibt er zahlreiche praktische Anleitungen zur kardiovaskulären Diagnostik und Therapie unter Pandemiebedingungen. Die Empfehlungen sind oft redundante Rückgriffe auf die bekannten Leitlinien der ESC. Informativ, aber in Teilen ergänzungsbedürftig sind die Abschnitte zur Pathophysiologie und zu den Pathomechanismen, über die SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“) spezifisch auf das Herz-Kreislauf-System wirken dürfte. Kontraproduktiv ist die Empfehlung, auf pathohistologische und molekulare Untersuchungen von Gewebe betroffener oder verstorbener Patienten zu verzichten. Den hohen Ansprüchen an einen sich immer wieder ergänzenden Leitfaden genügt die letzte verfügbare Fassung dennoch in weiten Teilen. Sie benötigt aber eine baldige Aktualisierung, wenn sie ihren Ambitionen gerecht werden will.
Abstract
“Not a guideline but a guidance” is the motto of this document of guidance by the European Society of Cardiology, which is designed as an orientation aid to learning for physicians in the coronavirus disease 2019 (COVID-19) pandemic. A total of 62 European cardiologists as authors and 29 further experts as reviewers have contributed to this 119-page document. The emphasis of the guidelines is on a cautious strategy in dealing with a pandemic, which is still characterized by many unknown factors. It is consciously limited to cardiovascular diseases. In the last update from 10 June 2020 many practical instructions for cardiovascular diagnostics and treatment under the conditions of a pandemic are given. These recommendations largely depend on the already well-known guidelines of the ESC. To recapitulate them might be helpful but much is redundant. The sections on the pathophysiology and pathomechanisms by which severe acute respiratory syndrome coronavirus 2 (SARS-CoV-2) could specifically affect the cardiovascular system, are informative but sometimes in need of supplementation. It is counterproductive to recommend that pathohistological and molecular investigations of tissues from affected and deceased patients should be avoided. This document of guidance is an ambitious attempt of a learning recommendation that needs some further improvement. It needs an early update if it intends to do justice to the ambitions.
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Es verwundert nicht, dass die European Society of Cardiology (ESC) ihre Überlegungen zur Diagnose und zum Management kardiovaskulärer Erkrankungen bei der COVID-19(„coronavirus disease 2019“)-Pandemie nicht als Leitlinien formuliert hat, sondern in das Gewand einer Orientierungshilfe bzw. von Empfehlungen gekleidet hat [1]. Denn bei der Veröffentlichung am 21. April war es zu früh, und zum Ende des Jahres 2020 gab es zwar eine Flut von Veröffentlichungen, aber wir wussten immer noch zu wenig. Die Fassung vom 10. Juni 2020 lag als letztverfügbare Version diesem Beitrag zugrunde. Leider fehlt damit auch der Erkenntnisfortschritt des 2. Halbjahrs 2020. Mit der Evolution der Pandemie und der in Europa im November 2020 angekommenen 2. Welle werden deshalb weitere Updates in diesem lernenden Dokument folgen müssen. „Not a guideline but guidance“ war initial situationsbedingt das passgenaue Format. „Guidance“ meint allerdings nicht nur Orientierungshilfe. In dem englischen Wort steckt auch ein gewisser Führungsanspruch.
Auf 119 Seiten mit 21 Abbildungen und 18 Tabellen und 276 Literaturstellen haben 62 europäische Kardiologen als Autoren und 29 Reviewer versucht, sowohl das Wissen als auch den Wissensbedarf zusammenzutragen, und im Verlauf der Monate von Januar bis zum 10.06.2020 immer wieder kleinere Änderungen vorgenommen [2]. Es konnte zu Beginn der Pandemie naturgemäß nur ein Kompendium von Expertenmeinungen sein. Sie stellen damit eine Momentaufnahme („moving target“) dar. Zu den nachvollziehbaren Limitationen gehört das weitgehende Fehlen von evidenzbasierten Therapiestudien sowie eines Kapitels zu einem Impfstoff, an dem seit Beginn der Pandemie in zahlreichen Laboren und pharmazeutischen Firmen geforscht und gearbeitet wird.
Der Anspruch der 66 Autoren war ambitioniert, das Ergebnis ist zwar nicht perfekt, aber es kann sich sehen lassen.
Die National Institutes of Health (NIH) der USA [3] haben am 19. April 2020 eine kurze Behandlungsempfehlung zur COVID-19-Pandemie herausgegeben, die sie ebenfalls ergänzen wollen, sobald verlässliche Therapiestudien vorliegen. Auch hier stehen noch zahlreiche Ergebnisse randomisierter internationaler Studien aus, ebenso aber auch ein „Update“ der NIH. Die S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (DEGAM) und der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) vom April 2020 ist ebenso als eine Empfehlung für die hausärztliche Praxis gedacht, bei der allerdings erst in einem Jahr Ergänzungen vorgesehen sind [4].
Zwischenbilanz
In ihrem wöchentlichen Bulletin beschreibt die World Health Organisation (WHO) die pandemische Situation [5]. Am 30.10.2020 waren weltweit 44.888.869 Menschen mit SARS-CoV‑2 („severe acute respiratory syndrome coronavirus 2“) infiziert und 1.178.475 im Zusammenhang mit der Virusinfektion verstorben. In Deutschland gab es am 03.11.2020 560.379 infizierte und 10.661 im Zusammenhang mit einer Coronainfektion verstorbene Patienten. Die Zahl der Genesenen belief sich laut Robert Koch-Institut (RKI) auf 371.500. Der Anstieg der Neuinfektionen in Deutschland vor dem 2. Lockdown („light“) lag damit noch über den Infektionen vor dem 1. Lockdown im März 2020 (Abb. 1; [6]).
Epidemiologie
SARS-Cov‑2 betrifft als Viruserkrankung verschiedene Organe eines Patienten. Im Vordergrund steht zu Beginn der Erkrankung die Lunge, da die Atemwege die Eingangspforte für das Virus sind. Betroffen sind besonders Patienten, die auch an kardiovaskulären Begleiterkrankungen leiden sowie häufig solche, die dem männlichen Geschlecht angehören und in höherem Alter sind, wenn sie erkranken. In einer ersten chinesischen Studie litten 12,8 % an Hochdruck, 5,3 % an Diabetes und 4,2 % an einer koronaren Herzkrankheit (KHK; [7]). Im Staat New York, in Long Island und im Westchester County (USA) waren die Komorbiditäten denen in Europa vergleichbar: 56,6 % litten an Hochdruck, 41,7 % an Übergewicht, 33,8 % an Diabetes, 11,1 % an einer KHK und 6,9 % an einer Herzinsuffizienz [8]. Unklar ist bis heute, inwieweit die Assoziation allein dem Alter der Patienten oder auch der kardiovaskulären Komorbidität und evtl. sogar deren Behandlung geschuldet ist.
Pathomechanismen und Pathophysiologie
Bei Viruserkrankungen sind der verursachende Virus und die Antwort des Immunsystem phasenbezogen in unterschiedlichem Ausmaß an der Kardiopathologie beteiligt (Abb. 2; [9, 10]).
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die vor einigen Jahren gemachte, aber erst kürzlich veröffentlichte Beobachtung, dass bei MERS („Middle East respiratory syndrome“) Myokarditiden und Herzinsuffizienz bereits als Organmanifestationen beschrieben wurden [11]. MERS ist eine von einem anderen Coronavirus (MERS-CoV) verursachte Erkrankung. Eine Myoperikarditis wurde auch für COVID-19-Patienten bereits frühzeitig postuliert, u. a. als fulminante Myokarditis infolge eines Zytokinsturms [12]. Autopsiebefunde mit mononukleären myokardialen Zellinfiltrationen wurden auch bei verstorbenen COVID-19-Patienten in der Autopsie beschrieben [13]. Bemerkenswert war in den wenigen kasuistischen Histologiebefunden, dass die Zahl infiltrierender Zellen eher niedrig ausfiel und nicht den Kriterien einer fulminanten Myokarditis (>50 Lymphozyten und Makrophagen/mm2) entsprach [14]. Exemplarisch zeigte sich dies bei der sorgfältig histopathologisch und elektronenmikroskopisch aufgearbeiteten Kasuistik eines 29-jährigen Patienten mit klinisch „fulminanter Myokarditis“: Nur sporadisch eingestreute Entzündungszellen fanden sich im Myokard. Virus oder Virus-RNA war aber weder in den Myozyten noch im Endothel nachzuweisen.
Perikarditis und Epikarditis finden sich bei etwa 20 % der hospitalisierten Patienten. Die Diagnose einer Myoperikarditis stützte sich in diesen Fällen häufig auf den echokardiographischen Nachweis eines Perikardergusses [15] oder eines LGE („late gadolinium enhancement“) im Myokard durch eine Magnetresonanztomographie (MRT; [16]) sowie auf pathologische Troponinwerte und nicht auf pathohistologische Befunde [17, 18]. Das gilt auch für den ersten Fall einer fulminanten Myokarditis in Wuhan [19].
Hauptsächliche Eintrittspforte des Einzelstrang-RNA-Virus SARS-CoV‑2 ist der Respirationstrakt. Die Bindung des Virus an Epithel, Endothel und Perizyten erfolgt über den ACE2(„angiotensin-converting enzyme 2“)-Rezeptor, der in Lunge, Herz, Gefäßen, Nieren und Gastrointestinaltrakt exprimiert ist [20].
Der Leitfaden der ESC beschreibt im Kapitel der Interaktionen des Virus mit den Wirtszellen des Patienten detailliert die Rolle des ACE2-Rezeptors und geht auch auf die erforderliche Koaktivierung durch die Serinproteinase TMPRSS2 („transmembrane protease serine subtype 2“) ein, die das Auffalten der Virushülle und die Inkorporation in das Epithel erst ermöglicht [21]. Die nachfolgenden Schritte der Membranfusion und der Endozytose, der Freisetzung der viralen RNA („uncoating“) und deren Replikation, die Synthese des Hüllproteins sowie die Extrusion der vermehrten Viruspartikel kommen allerdings etwas zu kurz und sind mit größerer Detailgenauigkeit in Abb. 3 aufgeführt.
Dass die Behandlung von Hypertoniepatienten mit Inhibitoren des Renin-Angiotensin-Aldosteron-Systems (RAAS) die Bindung von SARS-CoV‑2 an den ACE2-Rezeptor durch eine gesteigerte Expression von ACE2 überkompensieren [22] und damit die Andockmöglichkeiten des Virus fördern könnte, bleibt ebenso spekulativ wie die Überlegung, dass Antagonisten des AT1-Rezeptors (Angiotensin-II-Rezeptor Subtyp 1; Angiotensinrezeptorblocker [ARB]) auch eine protektive Rolle gegenüber einer SARS-CoV-2-Infektion spielen könnten [23]. Alle kardiologischen Gesellschaften einschließlich der ESC empfehlen unisono, ARB bei damit behandelten Patienten nicht abzusetzen.
Diagnostik der SARS-CoV-2-Infektion
Die im ESC-Leitfaden geschilderten diagnostischen Strategien wurden weitgehend umgesetzt oder sind verfügbar:
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Symptome (Husten, Geruchsstörung, Fieber) mit oder ohne Kontakt mit an COVID-19 erkrankten Personen,
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COVID-19-typisches Bild in der Computertomographie (CT) der Lunge,
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PCR(„polymerase chain reaction“)-Nachweis von SARS-CoV‑2 aus Nasen- und Rachenabstrichen,
-
ELISA („enzyme-linked immunosorbent assay“) oder POC(„point of care“)-Tests zum Antigen- oder Antikörpernachweis.
Es wird eine breite Testung zur Nachverfolgung und zur Eingrenzung der Ausbreitung des Virus ermpfohlen.
Schutzmaßnahmen für alle
Zu den allgemeinen Schutzmaßnahmen der Infektionsprävention in der Bevölkerung gehört das AHA(Abstand halten, Hygienemaßnahmen beachten, Alltagsmaske tragen) + L(Lüften)-Prinzip, das sich inhaltlich auch im Leitfaden wiederfindet. Denn SARS-CoV‑2 wird durch Tröpfchen und die viel kleineren Aerosole übertragen und haftet an Oberflächen (Türklinken, Einkaufswagen, Plastikmaterial) oft über Stunden. Ultraviolett(UV)-Strahlung, die auch im Sonnenlicht enthalten ist, inaktiviert es. Für die Winterzeit wurde AHA vom RKI um L erweitert, damit es im Schulbetrieb mit oder ohne Maskenpflicht angewandt werden kann (Tab. 1):
Lüften als zusätzliches Prinzip der Infektionsprävention findet sich im ESC-Leitfaden noch nicht explizit.
Prävention und Schutzmaßnahmen für Ärzte und Pflegepersonal
Ärzte in der Praxis und in den Krankenhäusern sowie ebenso Krankenschwestern, Pfleger und Angestellte im Gesundheitswesen gehören zur Risikogruppe der SARS-CoV‑2 besonders exponierten Bevölkerung. Der ESC-Leitfaden stützt sich dabei u. a. auf chinesische Daten: 1716 der 44.672 Infizierten (3,8 %) gehörten den medizinischen Berufsgruppen an [24].
Hierfür werden 3 Stufen an Schutzmaßnahmen im Leitfaden vorgeschlagen (Tab. 2).
Kardiale Diagnostik im Kontext der COVID-19-Erkrankung
Die Leitsymptome einer COVID-19-Erkrankung wie trockener Husten, Luftnot, ARDS („acute respiratory distress syndrome“) und Schock können auch ohne Virusinfektion Bestandteil eines kardiologischen Krankheitsbildes sein. Eine SARS-CoV-2-Infektion kann aber auch ein bestehendes Koronarsyndrom oder eine manifeste Herzinsuffizienz überlagern und exazerbieren. In Zeiten der COVID-19-Pandemie gehören deshalb sowohl die PCR-Diagnostik der Pandemie durch Mund- und Rachenabstrich und die Thorax-CT mit ihren coronatypischen Infiltrationen ebenso zur Primärdiagnostik wie das an Leitlinien orientierte diagnostische und therapeutische Management kardiovaskulärer Erkrankungen. D. h. die Diagnostik einer kardialen Erkrankung im Zusammenhang mit der COVID-19-Infektion stützt sich unverändert auf die bekannten ESC-Leitlinien zur KHK, zum akuten Koronarsyndrom, zum Herzinfarkt, zur Herzinsuffizienz (HFrEF/HFmrEF/HFpEF [„heart failure with reduced/mid-range/preserved ejection fraction“]), zu den Kardiomyopathien, zu den Perikarderkrankungen, zu den Rhythmusstörungen, zum plötzlichen Herztod sowie auf die „Position Statements“ zur Myokarditis. SARS-CoV‑2 kann dabei auch der Treiber einer Koagulopathie sein, die zu Thrombose, Schlaganfall oder Herzinfarkt führt.
Nahezu jedes kardiovaskuläre Syndrom kann, so die Schlussfolgerung, als alleinige Folge einer SARS-CoV-2-Infektion auftreten, d. h. unter dem klinischen Bild einer Myokarditis, einer Herzinsuffizienz, eines akuten Koronarsyndroms, einer Perikarditis, oder SARS-CoV‑2 kann sich auf eine vorbestehende oder vorbekannte Herzerkrankung aufpfropfen.
Wie lässt sich ein COVID-19-bedingtes Symptom von einem ähnlichen Krankheitsbild aus dem Spektrum der kardiovaskulären Erkrankungen unterscheiden?
Hierzu gibt der Leitfaden wichtige und richtige Hinweise. Nicht-invasive Parameter kardiovaskulärer Erkankungen sind der Nekrosemarker hs(„high sensitive“)-Troponin, der Herzinsuffizienzmarker NTproBNP („N-terminal pro brain natriuretic peptide“), die Inflammationsmarker C‑reaktives Protein (CRP) und Zytokine sowie das EKG ohne oder mit Belastung, die Farbdopplerechokardiographie mit oder ohne Belastung, die Kardio-MRT, die CT-Koronarangiographie, eine Positronenemissionstomographie (PET) oder eine SPECT („single photon emission computed tomography)“ zur Untersuchung des Herzstoffwechsels. Ein deutlich über der Normgrenze liegender Troponinanstieg fand sich bei während der Pandemie in Wuhan verstorbenen Patienten [25]. Die nicht-invasiven Methoden können Hinweise zur Dringlichkeit einer Koronarintervention im Rahmen einer Triage geben. Da die transösophageale Echokardigraphie („transesophageal echocardiography“, TEE) bei infizierten Patienten mit einer hohen Infektionsmöglichkeit für den Untersucher belastet ist, sollte sie auf dringende Fälle (z. B. Abszessbildung bei Endokarditisverdacht) beschränkt werden. Die Beschränkung einer TEE auf dringliche Fälle hat auch unmittelbare Folgen für die nur elektive Durchführung von Ablationsbehandlungen wie der Pulmonalvenenisolation bei Vorhofflimmern.
In der Klinik reicht häufig eine Herzultraschalluntersuchung am Krankenbett mit mobilem Gerät als POC-Ultraschall (PoCUS) oder als fokussierte Ultraschalluntersuchung („focused cardiac ultrasound“, FoCUS), die sich überwiegend auf B‑Bilder stützt, aus. Sie schont den Patienten und dürfte meist ausreichend sein.
Herzkatheter und Endomyokardbiopsie
Das übliche invasive Management in der kardiovaskulären Medizin umfasst Herzkatheter, Koronarangiographie, perkutane Koronarintervention (PCI) oder Herzchirurgie. Bei V. a. eine inflammatorische Kardiomyopathie gehört die Endomyokardbiopsie zum Routinerepertoire. Nur wenn durch Endomyokard- oder Perikardbiopsie bzw. post mortem oder im Perikarderguss auch SARS-CoV‑2 nachgewiesen wird, kann von einer direkten ätiologischen Kausalität des kardiovaskulären Syndroms durch das Coronavirus ausgegangen werden. Hier ist die Empfehlung des ESC-Leitfadens, der von einer Endomyokardbiopsie im Abschnitt 9.5.2 („Myocarditis“; S. 60) abrät, falsch, gerade weil wir noch nicht wissen, ob das Virus die Entzündung und Destruktion im Myokard selbst bewirkt oder indirekt über Zytokine und autoreaktive Prozesse des Immunsystems agiert. Dieses Unwissen wird im Leitfaden zwar konzidiert, aber leider wird daraus nicht die notwendige wissenschaftliche Konsequenz gezogen. Aus diesem diagnostischen Nihilismus folgt im ESC-Leitfaden auch eine therapeutische Reaktionsunfähigkeit. Dabei hätte die Botschaft an die Ärzte gerade umgekehrt sein müssen: Nur das Wissen über die Pathomechanismen ermöglicht eine geeignete antivirale Therapie. Eine ähnlich kontraproduktive Empfehlung hatte zu Beginn der Pandemie auch das RKI ausgesprochen, als es von einer Sektion der infizierten Patienten abriet.
Anmerkung.
Diese Zurückhaltung von ESC und RKI ist vermutlich der Furcht vor Ansteckung der medizinischen Mitarbeiter geschuldet, berücksichtigt aber nicht, dass die heute übliche Schutzkleidung im Umgang mit infizierten Patienten und infektiösem Material auch tatsächlichen Schutz für die wissenschaftlichen Mitarbeiter und Ärzte gestattet.
Indirekte Hinweise auf kardiale Schädigung
Eine indirekte kausale Assoziation von SARS-CoV‑2 mit einer neu aufgetretenen kardialen Schädigung ist durch erhöhte Troponinwerte und den simultanen Nachweis einer Coronavirusinfektion des Patienten möglich. Dabei bleibt ungeklärt, ob das Virus durch direkte Schädigung des Koronarendothels den Infarkt oder durch Befall der Herzmuskelzellen die Myokarditis verursacht hat oder ob der Schaden im Myokard über die Zytokinschiene (Zytokinsturm; Abb. 2 und 3) verursacht wurde. Unter den nicht-invasiven Imaging-Verfahren weist ein Perikarderguss im Herzultraschall oder in der Kardio-MRT auch auf eine Beteiligung des Peri- und Epikards im Rahmen des Infektionsgeschehens hin. Beides ermöglicht aber keine Erkenntnisse über den Pathomechanismus der Myokard- und Perikardschädigung.
Triage
Im Abschnitt „Triage“ des Leitfadens wird vorgeschlagen, COVID-19-positive Patienten mit akutem Behandlungsbedarf von kardiovaskulären Notfällen ohne Infektionsnachweis zu trennen. Sollte die Prognose bei COVID-19-negativen Patienten ungünstig sein, kann die Dringlichkeitsstufe der Überwachung auf der Intensivstation oder der Intermediate-Care-Einheit ggf. herabgestuft werden, wenn Intensivbetten fehlen. Außerdem wurde für den akuten Herzinfarkt bei nicht mehr verfügbarer Kapazität im Herzkatheterlabor oder auf Intensivstation wieder der Rückgriff auf die systemischen Lysetherapie als eine geeignete Therapiemöglichkeit erwähnt.
Für kardiovaskuläre interventionelle oder operative Eingriffe wird eine zeitliche Hierarchie der Eingriffe vorgeschlagen (Tab. 3; [1]).
Die Versorgung eines Patienten auf der Intensivstation folgt einer der 3 bewährten Indikationen:
-
1.
Die invasive Beatmung ist erforderlich.
-
2.
Die Überwachung einer Herzinsuffizienztherapie mit mechanischen Unterstützungssystemen (z. B. extrakorporale Membranoxygenierung [ECMO] oder Assist-Systeme, z. B. linksventrikuläres Assist-Device [LVAD] oder Impella®) oder zumindest eine i.v.-Noradrenalin-Behandlung (Dosierung >0,1 µg/kg/min) ist unverzichtbar.
-
3.
Eine Nierenersatztherapie (Dialyse, Hämo- oder Ultrafiltration) erfordert eine intensivmedizinische Überwachung.
Der ESC-Leitfaden nennt im Rahmen einer Priorisierungsnotwendigkeit grundsätzliche Ausschlusskriterien für eine intensivmedizinische Behandlung (Tab. 4, A) sowie zusätzliche Triage-Kriterien bei einem Mangel an verfügbaren Intensivbetten während der Pandemie (Tab. 4, B). Der Vorschlag ist nicht neu; ein vergleichbares Konzept wurde bereits vor 14 Jahren für eine Influenzapandemie entwickelt [26].
Anmerkung.
Eine öffentliche Diskussion der Triage-Strategie, auch die pragmatische medizinische Empfehlung des ESC-Leitfaden, dürfte in den europäischen Ländern zu einem politischen Diskurs der ethischen Grundlagen führen.
Therapie
Virusspezifische Behandlungsoptionen mit den Interaktionsorten finden sich in Abb. 3: Virusneutralisierende Antikörper nach einer überstandenen Infektion oder infundierte Antikörper von Rekonvaleszenten könnten die Viruslast oder die Reinfektion des Patienten verhindern. Umifenovir (Arbidol®) könnte die ACE2-Interaktion mit Spike-Protein verhindern, Camostatmesylat inhibiert den Koaktivator TMPRSS2 und damit die Fusion des Virus mit der Epithel- oder Endothelzelle. Chloroquin und Hydroxychloroquin, bekannt aus der früher üblichen Malariaprophylaxe, blockieren die Endozytose des Virus und üben zusätzliche Effekte auf immunkompetente Zellen aus. Beide Substanzen können aber auch QT-Verlängerungen im EKG bewirken und stellen dann ein rhythmogenes Risiko dar. Lopinavir und Darunavir inhibieren die 3CL(„3-chymotrypsin-like“)-Protease, Ribavirin, Remdesivir und Favipiravir die RNA-abhängige RNA-Polymerase.
Von Antizytokinen, wie dem Anti-Interleukin(IL)-6-Antikörper Tocilizumab, verspricht man sich eine Abschwächung des Zytokinsturms.
Alle diese Ansätze wurden in kleinen Studien oder in Einzelfällen angewandt. Die in sie gesetzten Hoffnungen wurden aber bis auf die Verkürzung des Klinikaufenthalts um 2 Tage durch Remdesivir und das verbesserte Überleben durch Dexamethason bei intensivpflichtigen Coronapatienten enttäuscht. Dabei widerspricht der Einsatz von Kortikoiden eigentlich dem „Dogma“, bei Viruserkrankungen auf diese Substanzgruppe zu verzichten.
In Deutschland wurden seit April zahlreiche Therapiestudien initiiert (Tab. 5; [27]), deren Ergebnisse abzuwarten sind. Deutsche Kliniken nehmen auch am internationalen Solidarity Trial der WHO teil.
Kardiospezifische Therapie
Die Behandlung der kardialen Symptome orientiert sich selbstverständlich an den Behandlungsempfehlungen der vorhandenen Leitlinien. Ihre teilweise Wiedergabe stellt ein Repetitorium unter dem Aspekt der Viruspandemie dar. Auf Ihre Darstellung wird in dieser Übersicht bis auf wenige Ausnahmen bewusst verzichtet.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen im ESC-Leitfaden
-
a)
Inhibitoren des (RAAS): Die Spikeproteine des SARS-CoV‑2 können, wie in Abb. 3 gezeigt, an die ubiquitär vorhandenen ACE2-Rezeptoren andocken. Um die Endozytose des Virus zu ermöglichen, muss eine Koaktivierung durch TMPRSS2 erfolgen. Ob die Coronainfektion deshalb zu einer Hochregulierung von ACE2-Rezeptoren im Myokard führt oder die RAAS-Blocker vorhandene Rezeptoren blockieren und deshalb sogar protektiv wirken können, bleibt bisher unbeantwortet. Die bisher zugänglichen Untersuchungen belegen aber nicht, dass RAAS-Blocker das Risiko einer SARS-CoV-2-Infektion beeinflussen, und deshalb sollten sie auf jeden Fall nicht abgesetzt werden.
-
b)
Antikoagulation: Bei mit SARS-CoV‑2 infizierten Patienten war die Zahl thromboembolischer Ereignisse erhöht. Dieser Tatsache zollt auch der ESC-Leitfaden Tribut, indem er sowohl bei neu aufgetretenem Vorhofflimmern als auch bei thrombotischen Erkrankungen auf eine adäquate Antikoagulation hinweist. Bei gleichzeitiger Medikation mit den in Abb. 3 genannten antiviralen Medikamenten sollten nicht-Vitamin-K-abhängige orale Antikoagulanzien (NOAK) mit Vorsicht verordnet werden, oder es sollte auf Vitamin-K-Antagonisten und Heparin zurückgegriffen werden.
Bei der Behandlung von Patienten in einer COVID-19-Therapiestudie gilt die Empfehlung, besonders auf eine mögliche QT-Verlängerung zu achten, um ventrikulären Tachykardien und Kammerflimmern nicht Vorschub zu leisten. Dies gilt nicht nur für Chloroquin und Hydroxychloroquin oder Azithromycin.
Eine vereinfachte Zusammenstellung von Interaktionen bekannter Herzmedikamente mit Medikamenten, die bei einer Behandlung von COVID-19 in Frage kommen, findet sich in Tab. 6.
Impfung
Hierzu gibt es erwartungsgemäß noch keine Empfehlung im ESC-Leitfaden, weil Impfstoffe sich noch in der Entwicklung oder im Zulassungsverfahren befinden.
Fazit
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Der ESC(European Society of Cardiology)-Leitfaden bietet mit wenigen Ausnahmen geeignete Empfehlungen zum Management kardiovaskulärer Erkrankungen während der Coronapandemie.
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Er wiederholt in weiten Teilen bekannte Leitlinien zur Herzinsuffizienz, zur koronaren Herzkrankheit und zum akuten Koronarsyndrom sowie zu Rhythmusstörungen.
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Mit weiteren Fortschritten in der Kenntnis der pathophysiologischen Mechanismen, der Prävention, des Managements von Herzpatienten in der Pandemie und der Behandlung sollten Ergänzungen in Kürze erfolgen.
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Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
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Maisch, B. Die ESC zu COVID-19 – keine Leitlinie, aber ein lernender Leitfaden. Herz 46, 46–55 (2021). https://doi.org/10.1007/s00059-020-05006-x
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