Von Vorgestern: Warburg in Martinsried, 2012

Die Max-Planck-Institute (MPI) für Biochemie und Zellphysiologie stellen sinnfällig den Kontrast zwischen grundverschiedenen Stadien der Lebenswissenschaften im zwanzigsten Jahrhundert dar. Hier ein flacher Betonbau, 1972 in Martinsried bei München auf freiem Feld eingeweiht, dort Otto Warburgs Dahlemer Institut, erbaut Anfang der 1930er Jahre im Stil eines märkischen Gutshauses und heute Sitz des Archivs der Max-Planck-Gesellschaft (MPG; siehe Abb. 1).

Auch mit Hinblick auf den Forschungsbetrieb scheinen die Differenzen offensichtlich: In Dahlem ein „klassisches Ein-Mann-Institut“Footnote 1, in dem Warburg und seine Mitarbeiter seit den 1930er Jahren etwa Photosynthese- und Krebsforschung betrieben, dort eines der größten Institute der MPG, mit anfangs elf Abteilungen, die etwa zu Elektronenmikroskopie, Proteinstruktur- oder Virusforschung arbeiteten.

Abb. 1
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Die Max-Planck-Institute für Biochemie in Martinsried und Zellphysiologie in Berlin-Dahlem.Footnote

Das ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie beherbergte seit 1932 Warburg und seine Mitarbeiter. Im Vordergrund der Institutsgarten, welcher seit den Nachkriegsjahren auch zum Anbau von Nutzpflanzen genutzt wurde. Das MPI für Biochemie zentralisierte ab 1972 die früheren Einzelinstitute für Lederforschung, Zellchemie und Biochemie auf damals unbebautem Gelände im Süden Münchens. In den frei um ein Zentrum angeordneten Gebäudeflügel forschten Arbeitsgruppen zu biochemischen, biophysikalischen und medizinischen Themen, vgl. Heßler 2007.

Luftaufnahme: Copyright Bavaria Luftbild GmbH, Freigabe-Nr. 2844. Beide Aufnahmen veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Archivs der MPG, Berlin-Dahlem

Überraschend oder nicht, in der von dem Biochemiker Dieter Oesterhelt geleiteten Martinsrieder Abteilung „Membranbiochemie“ fanden sich im Rahmen einer historischen Erforschung der Lebenswissenschaften nach 1970 Spuren einer Kontinuität zwischen diesen unterschiedlichen Epochen der Wissenschaft. Im Keller der Abteilung lagerten aus Holz gefertigte Halterungen und Glasgefäße, die Bestandteile so genannter Warburg-Apparaturen darstellten, einem seit den 1920er Jahren klassischen Instrument zur Bestimmung der Gasentwicklung von Geweben oder Zellsuspensionen. Die Schränke enthielten ferner optische Bänke und Filter sowie ein in Berlin gefertigtes Bolometer, welches vor der Einführung von Halbleitertechnologien zur Quantifizierung von Strahlungsintensitäten genutzt wurde (Abb. 2).

Das Verbindungsglied zwischen Martinsried und Dahlem bildete der Labortechniker Günter Krippahl, der in beiden Instituten angestellt war und dessen im Münchner Umland lebender Sohn auf Nachfrage einen Karton mit Laborbüchern anlieferte, welche fast zwanzig Jahre von Krippahls Arbeit im Institut für Zellphysiologie dokumentieren. Außerdem besaß Oesterhelt bereits drei schwere Handbücher – Warburgs „Kochbücher“, die er von Krippahl kurz vor dessen Tod in den 1990er Jahren erhalten hatte.Footnote 3

Auf welchem Wege gelangten Krippahl sowie diese Instrumente und Unterlagen nach Martinsried, und vor allem, welche Rolle spielten diese zellphysiologischen Verfahren in einem Institut, das just in dem Jahr den Betrieb aufnahm als das Dahlemer aufgelöst wurde? Wie ist die Verbindung der Zellphysiologie der Vorkriegszeit zur Membranbiochemie der 1970er Jahre – dem ursprünglichen Forschungsinteresse des Autors – zu verstehen, die auch in einer gemeinsamen Publikation von Oesterhelt und Krippahl dokumentiert ist? Der Anachronismus von Warburg in Martinsried, oder anders ausgedrückt, die Koexistenz verschiedener Zeitschichten der Wissenschaft, die sich in diesem Fund materialisiert, scheint ein ungewohntes Licht auf die Geschichte der molekularen Lebenswissenschaften zu werfen, insbesondere da deren Wahrnehmung durch sich in der Nachkriegszeit rasch entwickelnde Felder wie Genetik und Strukturforschung dominiert ist (Morange 1998, Olby 1990).

Abb. 2
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Experimenteller Aufbau zur Messung von Strahlungsintensitäten mit einer Ulbricht'schen Kugel und einem Bolometer in Warburgs Institut, 1962. Derartige Instrumente wurden am MPI für Biochemie zur Untersuchung der das Bakteriorhodopsin enthaltenden Halobakterien verwandt.Footnote

Die Innenseite der Ulbrichtschen Kugel ist mit einer totalreflektierenden Farbe bestrichen, so dass durch eine Öffnung eingestrahlte und nicht von der dort eingebrachten Probe (etwa eine Flüssigkultur von der Grünalge Chlorella) absorbierte Lichtstrahlen von dem an einer zweiten Öffnung angebrachten Kohlefaden des Bolometers (kleiner schwarzer Kasten mit Aufsatz in der Bildmitte) absorbiert werden. Die so verursachte Leitfähigkeitsänderung des Kohlefadens ermöglicht die Quantifizierung von Strahlungsintensitäten – ein Verfahren, das von Emil Warburg an der Physikalisch-Technischen Reichanstalt entwickelt und unter anderem von Max Planck eingesetzt wurde. Einen derartigen Aufbau verwandten Benno Hess, Günter Krippahl und Dieter Oesterhelt 1972–1973 zur Untersuchung der das Bakteriorhodopsin enthaltenden Purpurmembran von Halobakterien.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Archivs der MPG, Berlin-Dahlem

Kontinuität und Kuriosum: Zellphysiologie in Berlin-Dahlem, 1950–1972

Ein Blick in Warburgs Bücher macht schnell klar, dass diese nicht nur „Koch-“ oder genauer Protokollbücher darstellten – es finden sich etwa Präparationsvorschriften chemischer Substanzen, Anleitungen zur Durchführung bestimmter Experimente oder Beschreibungen von Apparaturen – sondern ein vielschichtiges Referenzsystem, in dem Warburg auch Personen, Literaturverweise oder summarische Darstellungen von Theorien handschriftlich vermerkte. Während etwa der Eintrag „Aepfelsäure“ spezielle Eigenschaften dieses Zwischenproduktes des Intermediärstoffwechsels zusammenfasst, beschreibt „Ascites-Tumoren“, wie Proben dieses Modellsystems der Krebsforschung präpariert wurden.Footnote 5 Unter „Brunnenwasser“ stößt der Leser auf die mineralische Zusammensetzung des Wassers aus dem Dahlemer Institutsbrunnen, der Eintrag „Chlorella“ beschreibt die Anzucht dieser einzelligen Grünalge für Photosyntheseversuche und „Fett für Manometer“ spezifiziert, mit welchem Schmierstoff die Schliffstopfen von Glasgefäßen der Warburg-Apparaturen gasdicht gemacht wurden. Die Bezeichnung „Kochbuch“ erklärt sich beispielsweise aus der Präparationsvorschrift für das so genannte „Diphospho-pyridin-nukleotid“ (DPN), eines von Warburg in den 1930er Jahren charakterisierten Coenzyms: Man zerbröckele 20 kg Bäckerhefe, mische sie mit 20 l Phenol, rühre, zentrifugiere und filtriere, versetze die Lösung mit 32 l Äther, um nach vielen weiteren Schritten einige Gramm eines Trockenpräparates zu erhalten – kurzum, der Eintrag zeigt die vermutlich in Warburgs Institut etablierten, handwerklichen Routinen, die nötig waren, um Material für bestimmte biochemische Untersuchungen zu gewinnen.

Da weder Papier noch Einband der Bücher Spuren von Laborarbeit aufweisen, kann vermutet werden, dass die drei Bände eine Schnittstelle zwischen dem Institut und anderen Orten der wissenschaftlichen Arbeit darstellten – etwa einem Schreibzimmer in Warburgs Ferienhäusern. Obwohl die meisten Eintragungen von Warburg selbst sorgfältig vorgenommen wurden, finden sich auch einige Protokolle in den Handschriften seiner Mitarbeiter sowie gelegentlich eingeklebte Produktbeschreibungen, etwa von Reagenzien.

Warum es sich um drei Bücher handelt, ist nicht eindeutig geklärt. Vermutlich führte er zunächst parallel ein nach Stichworten gegliedertes Buch mit Literaturverweisen und eines für längere Protokolle und synoptische Darstellungen, bevor er ab Mai 1963, dem notierten Beginn des jüngsten Buches, ein weiteres hinzunahm. Obwohl die beiden älteren Bücher nicht eindeutig datierbar sind und die Einträge auf Literatur von der Vorkriegszeit bis ins Jahr 1965 verweisen, lässt sich aus dem Fabrikat abschätzen, dass sie in den frühen 1950er Jahren angeschafft und wohl auch begonnen wurden.Footnote 6

Nachdem das kriegsbedingt in die Uckermark ausgelagerte Kaiser-Wilhelm-Institut für Zellphysiologie 1945 von der Roten Armee geplündert worden war und das Dahlemer Gebäude zunächst als Sitz des Oberkommandos der alliierten Streitkräfte diente, hatte Warburg seinen Institutsbetrieb um 1950 im Rahmen der Neugründung der MPG wieder in Dahlem eröffnen können und eine neue Generation Mitarbeiter eingestellt, zu der unter anderem die Labortechniker Hans-Siegfried Gewitz und Günter Krippahl gehörten. Krippahl, Jahrgang 1926, hatte nach dem Kriegseinsatz eine Ausbildung zum Fernmeldemonteur begonnen und arbeitete seit 1948 für Warburg. 1953, in der Zwischenzeit hatte er in der Abendschule einen Ingenieursabschluss erworben, stieg er zu Warburgs „persönlichem Assistenten“ auf und zeichnete seither als Mitautor auf diversen Veröffentlichungen zur Photosynthese.Footnote 7 Warburg setzte also seine Arbeitsweise der Vorkriegszeit fort, mehrheitlich technische Assistenten als langfristige Mitarbeiter zu beschäftigen und nur mit wenigen Akademikern zusammenzuarbeiten. Viele dieser Techniker hatten zuvor im Bereich der Feinmechanik gearbeitet und wurden sowohl zur Geräte- und Methodenentwicklung als auch der Durchführung von Messungen eingesetzt (Abb. 3; Krebs 1979: 24 f.).

Abb. 3
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Mitarbeiter des MPI für Zellphysiologie, 1961. Im dunklen Kittel in der rechten Bildmitte Günter Krippahl.Footnote

Von den zwölf abgebildeten Personen stellen acht wissenschaftlich arbeitende Labortechniker dar, die Warburg als Mitautoren führte.

Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Archivs der MPG, Berlin-Dahlem

Die Leistungen Warburgs bis 1945 sind im Rahmen dieses Beitrags kaum darzustellen. Im Zusammenhang mit seinen grundlegenden Arbeiten zu Atmungsstoffwechsel, Photosynthese und Krebsforschung stand die Entwicklung manometrischer und photochemischer Techniken, und 1931 wurde ihm für die Arbeiten zu seinem „Atmungsferment“ der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin verliehen (Henning 2004; Werner 1991). In den 1950er und 1960er Jahren veränderte sich Warburgs Rolle und Wahrnehmung allerdings, vor allem in Folge einer wissenschaftlichen Kontroverse zwischen ihm und verschiedenen Forschern in den USA (Nickelsen 2009). Gegenstand der Debatte waren Daten zur Quantenausbeute der Photosynthese, also dem Problem, wie viele Lichtquanten pro Molekül Chlorophyll benötigt werden, um eine photosynthetische Reaktion zu katalysieren. Bereits in den 1920er Jahren hatte Warburg durch den Einsatz manometrischer Techniken wie der Warburg-Apparatur und optischen Instrumenten wie Bolometer und Ulbrichtscher Kugel einen sehr niedrigen Wert für die Quantenausbeute ermittelt, der in den Folgejahren nicht bestätigt werden konnte. Da eine Ursache der Widersprüche in methodischen Details vermutet wurde, lud Warburgs ehemaliger Doktorand Robert Emerson ihn 1948 an die University of Illinois ein, um gemeinsam vor Ort Experimente durchzuführen. Entgegen der damit verbundenen Hoffnungen verschärfte sich aber der Konflikt in der Folgezeit und mündete in Polemiken und persönliche Angriffe. Warburg isolierte sich international zunehmend, und auch wenn das Institut für Zellphysiologie weiterhin aktiv publizierte, räumte sein Biograph Sir Hans Krebs ein, dass die meisten Arbeiten seit 1960 nicht mehr die „bahnbrechende Qualität“ der vorangegangen Phase besessen hätten – sowohl die Photosyntheseforschung als auch Warburgs Theorie der Cancerogenese betreffend (Krebs 1979: 32-42, 69). Obgleich eine „Störung des Atmungsstoffwechsels“ als Krebsursache in der Fachwelt mehrheitlich auf Ablehnung traf, fanden Warburgs Thesen Resonanz in der deutschen Öffentlichkeit, wobei seine fortgesetzte Popularität auch darauf zurückzuführen sein mag, dass er einen Forschertypus verkörperte, der ansonsten weitgehend untergegangen zu sein schien. Abgesehen von einer kurzen Unterbrechung 1941 führte er das Dahlemer Institut seit 1932.Footnote 9

Da Warburg mit der MPG eine Emeritierung nur auf eigenen Wunsch ausgehandelt hatte, blieb er nach seinem achtzigsten Geburtstag im Jahr 1963 Institutsdirektor, und erhielt sich als „Kaiser von Dahlem“ aus der Zeit gefallene Gewohnheiten wie einen Morgenritt im Innenhof seines Wohnhauses.Footnote 10 Auch der Schriftverkehr zwischen dem Institut und der Generalverwaltung der MPG lässt einiges von der anachronistisch anmutenden Szenerie erkennen, welche diese Jahre geboten haben müssen: Warburg nutzte Treibhäuser und Gärten des Instituts wohl nicht nur, um Pflanzenmaterial für die Photosynthese-Forschung zu produzieren, sondern, in konsequenter Umsetzung seiner Hypothesen zur Krebsentstehung durch etwa Nahrungszusatzstoffe, ließ er dort auch Obst und Gemüse anbauen, und hielt Vieh – je nach Blickwinkel in verspäteter Gutsherrnmanier oder als urban gardener vor seiner Zeit (Henning 2004: 141; Werner 2000).

Während sich der ehemalige Dahlemer Campus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mehr und mehr zum Sitz der Freien Universität wandelte, und John F. Kennedy 1963 den Henry-Ford-Bau vis-à-vis des Instituts für Zellphysiologie besuchte, wurde dort weiterhin die Grünalge Chlorella auf den Fenstersimsen kultiviert und führten Warburgs Techniker manometrische und optische Messreihen nach den etablierten Methoden durch. Günter Krippahls nun verfügbare Labortagebücher, ein geschlossener Bestand von 32 Bänden aus den Jahren 1952 bis 1970, führen diese Forschungsroutine eindrücklich vor Augen: Woche für Woche und Jahr um Jahr müssen Flüssigkulturen von Algen oder Präparationen aus etwa Kohlrabi und Spinat hergestellt worden sein, welche in die Glasgefäße der Warburg-Apparaturen gefüllt wurden, um dann über Stunden die Gasbilanzen zu protokollieren, und diese etwa mit der bolometrisch bestimmten Lichtabsorption der Zellen oder anderen physiologischen Parametern zu korrelieren. Noch im Monat vor Warburgs Tod am 1. August 1970, im Alter von 86 Jahren, finden sich Serien von Experimenten sowie handschriftliche Eintragungen Warburgs, und den Büchern zufolge muss die Arbeit auch wenige Wochen später wieder angelaufen sein.Footnote 11

Bereits einige Jahre zuvor war mit der norwegischen Biochemikerin Birgit Vennesland eine von ihm und der MPG akzeptierte Nachfolgerin gefunden worden – doch im Mai 1970 kam es zum Zerwürfnis mit Warburg. Infolgedessen setzte die MPG nach seinem Tod den Direktor des Münchner Instituts für Zellchemie, Feodor Lynen, geschäftsführend ein, der Warburg kollegial-freundschaftlich verbunden gewesen war.Footnote 12 In der Folgezeit traten jedoch die Konflikte zwischen Mitarbeitern, Jacob Heiß, dem Institutsverwalter und mutmaßlichen ehemaligen Lebensgefährten Warburgs und der MPG offen zu Tage. Zusätzlich zu der gescheiterten Nachfolgeregelung mit Birgit Vennesland, für die eine eigene Forschungsstelle eingerichtet wurde, war es vermutlich die anachronistische Position des Instituts in der Forschungslandschaft der 1970er Jahre, welche die MPG zu der Entscheidung veranlasste, dieses aufzulösen (Henning 2004: 141).

Der Schriftverkehr zwischen der MPG sowie Krippahl, Lynen und Heinz-Günther Wittmann, Direktor am neu geschaffenen MPI für molekulare Genetik, informiert darüber, wie in dieser kritischen Phase über den Verbleib der Ressourcen verhandelt wurde.Footnote 13 Und obwohl der Glasbläser aus Warburgs Werkstatt, Peter Ostendorf, sich Jahre später erinnern sollte, dass Institut sei „damals schon ein Museum“ gewesen, schienen sowohl Instrumente wie Fertigkeiten durchaus auf Interesse zu stoßen.Footnote 14 Während Ostendorf im nur einige hundert Meter entfernten MPI für molekulare Genetik angestellt wurde, wechselten andere wissenschaftliche Mitarbeiter an die „Forschungsstelle Vennesland“.Footnote 15 Auch wenn eine vermutlich von Krippahl zusammengestellte Inventarliste zeigt, dass die Laborausstattung zum großen Teil aus den 1950er Jahren stammte, handschriftlich finden sich Vermerke wie „alt“ oder „Schrott“, waren die Interessenten keine Mittellosen.Footnote 16 So informierte im Juli 1972 die Generalverwaltung der MPG Wittmann, dass Lynen bereits einige Wünsche geäußert und Birgit Vennesland sowie Benno Hess einiges erhalten hätten – das Inventar werde nun ihm und dem ebenfalls benachbarten Fritz-Haber-Institut zugehen. Hess, Direktor am Dortmunder MPI für Ernährungsphysiologie, übernahm ein Bolometer und eine Ulbricht’sche Kugel, und Lynen ließ die nun aufgefundenen Instrumente nach Martinsried überführen, wohin seine Abteilung umgezogen war. Dieter Oesterhelt erinnerte sich, zu diesem Zweck als Teil einer Münchner Delegation nach Berlin gereist zu sein.Footnote 17 Wichtiger als der Transfer von Instrumenten war sicherlich, dass Lynen auch Günter Krippahl in seine Abteilung übernahm, den Ostendorf als „rechte Hand“ Warburgs bezeichnete.Footnote 18 Hans-Siegfried Gewitz, in einer Personalübersicht vom März 1972 ebenfalls als „wissenschaftlicher Assistent“ aufgeführt – so die offizielle Bezeichnung für Warburgs wissenschaftlich arbeitende Techniker – wechselte zunächst an die Forschungsstelle Vennesland und später zur Abteilung Wittmann am MPI für molekulare Genetik, wo er gemeinsam mit einem Doktoranden namens Hans-Jörg Rheinberger pipettierte.Footnote 19

Günter Krippahl am MPI für Biochemie oder das Alte im Neuen, 1972–1994

Dieter Oesterhelt war im Herbst 1970 nach einem Sabbatical in San Francisco an das Biochemische Institut der Ludwig-Maximilians-Universität zurückgekehrt, welches in der Karlstraße nahe dem Münchner Hauptbahnhof angesiedelt war. Die Position eines akademischen Rates sicherte ihm zwar eine gewisse Autonomie, aber nicht die instrumentellen Ressourcen, über die er zuvor als Mitarbeiter in Lynens MPI für Zellchemie verfügt hatte.Footnote 20 Lynen, der auch einen Lehrstuhl an der Universität bekleidete, beklagte selbst, dass der Universität, die bis dahin unter einem Dach mit dem MPI untergebracht gewesen war, nach dessen Auszug 1972 nur wenige Gerätschaften geblieben seien (Will 2011). So ist es nicht verwunderlich, dass Oesterhelt den Kontakt zu Lynen auch nutzte, um in dessen neuen Labors Experimente durchzuführen. Und obwohl Lynen nach Oesterhelts Erinnerung anfangs nicht viel von dessen neuartigen Untersuchungen an einem dem Sehpigment Rhodopsin ähnlichen Protein aus halophilen – salzliebenden – Mikroben hielt, und das Thema in der Tat einen gewissen Bruch mit einer an der organischen Chemie und Enzymologie orientierten Forschung mit sich bringen sollte, willigte er offensichtlich ein, Krippahl in Martinsried für Arbeiten an Halobakterien einzusetzen.

In Oesterhelts Arbeit standen sich nicht nur etablierte und neuartige Themen gegenüber, sondern auch traditionelle und technologisch avancierte Methoden: Neben automatisierten Aminosäurebestimmungen von Proteinen führte er klassische Nachweisreaktionen zur Charakterisierung chemischer Bindungen durch, und neben spektroskopischen Messungen mit Benno Hess in Dortmund standen die Arbeiten an der Warburg-Apparatur, für die regelmäßig Zellsuspensionen nach Martinsried geschafft wurden. Die Originaldaten dieser Studien stellen von Krippahl mit Zahlenkolonnen zu Gasverbrauch und Lichtabsorption der Zellen eng beschriebene Blätter dar. In der 1973 daraus hervorgegangenen Veröffentlichung wirkt die Arbeitsweise von Warburgs Institut nicht nur in den verwendeten Instrumenten und der Herangehensweise fort, sondern auch in der Tatsache, dass ein technischer Assistent als Mitautor zeichnete.Footnote 21

Ziel des Vorhabens von Oesterhelt und Krippahl war es, Daten zur physiologischen Funktion der das Bakteriorhodopsin enthaltenden „Purpurmembran“ von Halobakterien zu gewinnen. Interessanterweise wurden in San Francisco zunächst molekulare Struktur und chemische Zusammensetzung dieses leuchtend gefärbten Bestandteiles der Zellmembran charakterisiert, die biologisch zentrale Frage aber, wozu ein dem Sehrezeptor ähnliches Protein dem Mikroorganismus diene, blieb offen (Grote 2012).

Es scheint, als seien in San Francisco wie auch in München erst ab 1972 systematisch funktionelle, physiologische Experimente begonnen worden: Während vorher das biochemisch präparierte Membranmaterial als Substrat von Experimenten in vitro diente, wurde nun die Rolle der Purpurmembran im Stoffwechsel lebender Zellen untersucht. Auch wenn Krippahls Ankunft in Martinsried nicht Ursache dieser veränderten Experimentalstrategie gewesen ist, da andere Arbeiten auf der Zellebene vermutlich etwas früher begonnen wurden, veränderte die Inkorporation von Warburgs physiologischem Instrumentarium das Projekt um die Purpurmembran doch signifikant.

Die Grundaussage der Studie von Oesterhelt und Krippahl lässt sich dergestalt zusammenfassen, dass eine Belichtung von die Purpurmembran enthaltenden Halobakterien deren Sauerstoffverbrauch und damit Atmungsaktivität senkt, was als Hinweis darauf verstanden wurde, dass die Purpurmembran im Stoffwechsel der Zelle eine energieliefernde, dem Chlorophyll ähnliche Funktion besitzt. Während der Gasverbrauch von Zellsuspensionen mit einer Warburg-Apparatur gemessen wurde, setzten die Autoren Bolometer und Ulbricht’sche Kugel ein, um die Quantenausbeute der durch die Purpurmembran getriebenen, neuartigen photosynthetischen Reaktion zu bestimmen (vgl. Abb. 2, zu diesen Instrumenten siehe auch Anmerkung 4).

Trotz der Kontroverse um die Quantenausbeute der Photosynthese scheint es, als habe der erneute Einsatz der alten Warburg’schen Methoden relevante und anerkannte Daten geliefert. So wurden die Messungen Krippahls zur „Atmungshemmung“ durch die Purpurmembran auch in einer gemeinsamen Publikation in den renommierten Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA untergebracht, welche die bioenergetische Funktion der Purpurmembran als photocoupler neben die Thylakoidmembran der Chloroplasten stellte und die zu den wichtigsten des neu entstehenden Feldes zählt. Messungen zur Quantenausbeute der Purpurmembran wurden gemeinsam mit Benno Hess publiziert.Footnote 22

Bereits kurz bevor Feodor Lynen 1979 überraschend verstarb, war Oesterhelt zum Leiter der neu geschaffenen Abteilung „Membranbiochemie“ am Martinsrieder Institut ernannt worden. Nun übernahm er nicht nur Krippahl, sondern auch die Dahlemer Instrumente. Obgleich seit den 1970er Jahren Elektroden zur Messung von Gaskonzentrationen die Warburg-Apparatur zunehmend ablösten, wurde diese und die optischen Instrumente weiter genutzt – vielleicht, weil sie verlässlich unter verschiedenen Bedingungen arbeiteten, weil die Ergebnisse besser mit bekannten Werten vergleichbar waren, oder schlicht weil sie existierten und jemand sie zu bedienen wusste. Krippahl zeichnet als Mitautor von mindestens drei weiteren Publikationen aus Oesterhelts Abteilung, deren letzte auf 1992 datiert, und zu denen er jeweils Zellwachstumsversuche oder optische Experimente beitrug. Als sich 1986 zwei Forscher bei ihm für Messungen mit der Warburg-Apparatur bedankten, hatte das Londoner Science Museum bereits Teile der Ausrüstung aus Martinsried übernommen, die dort als „German, mid-twentieth century“ klassifiziert werden.Footnote 23

Darüber hinaus bekleidete Krippahl offenbar eine wichtige Rolle bei Organisation und Unterhalt der Abteilung, die bis zu dreißig aktive Forscher umfasste. Als er nach 43 Jahren Anstellung innerhalb der MPG im August 1991 in den Ruhestand trat, bat Oesterhelt die Verwaltung des Instituts, ihm seine Dienstwohnung in Martinsried weiterhin zu gewähren, damit er seine Aufgaben in Teilzeitbeschäftigung fortsetzen könne. Und als Günter Krippahl im November 1994 verstarb, schrieb Oesterhelt in einer Traueranzeige, dieser habe „Apparate und Menschen in seiner beharrlichen, gerechten, immer kurzen Art [betreut].“Footnote 24

Alte Instrumente, bewährte Techniker – Forschung als Dienst und Beständigkeit?

Ob Krippahls und Warburgs Bücher es ermöglichen könnten, die Kontroverse um den Quantenbedarf der Photosynthese historisch weiter aufzuarbeiten, muss eine detailliertere Untersuchung zeigen. Immerhin war es zu keinem geringen Teil Krippahl, der über zwei Dekaden jene Messungen durchführte, die Gegenstand des Streits waren, und die erhaltenen Bände scheinen geradezu pedantisch geführt. Darüber hinaus könnten die „Kochbücher“ Warburgs weiteren Einblick in dessen Arbeiten der Nachkriegszeit geben. Gegenüber chronologischen Experimentalaufzeichnungen oder Notizen stellen derartige Protokoll- oder Referenzbücher eine oft kollektive Verschriftlichung der Routinen und Kniffe eines Labors dar und dürften in chemischen wie lebenswissenschaftlichen Labors eine wichtige Funktion zur Ausprägung einer Laboridentität besessen haben (Rheinberger 2005: 353 f.).

Im Kontext der Geschichte der molekularen Lebenswissenschaften illustriert der Fund das Fortwirken einer antiquiert erscheinenden wissenschaftlichen Methode in der jüngsten Vergangenheit. Auch wenn es sich hier um einen Einzelfall handelt, wäre zu prüfen, ob Warburg-Apparaturen nicht doch länger eingesetzt wurden als bisher angenommen. Immerhin produzierte der Laborgerätehersteller B. Braun Melsungen bis Mitte der 1980er Jahre solche Geräte. Selbst als diese zu einem Auslaufmodell der Forschung geworden waren, könnten sie aufgrund ihrer Robustheit und Anschaulichkeit in der akademischen Lehre durchaus noch eine Rolle gespielt haben.Footnote 25

Ohne die Dimensionen dieses oder anderer Beispiele hier abschließend einschätzen zu können, erschiene es doch einen Versuch wert, die erfolgreiche Weiternutzung einer einfachen Technologie im Lichte dessen zu begreifen, was David Edgerton programmatisch als Shock of the Old bezeichnet hat (Edgerton 2008). Es wäre also auch mit Blick auf die Laborforschung eine weniger innovations- als nutzungszentrierte Perspektive einzunehmen, und etwa die Verteilung von einfachen oder etablierten Instrumenten sowie deren tatsächlicher Einfluss zu untersuchen. Als Ursachen von instrumentellen Kontinuitäten, die parallele Neuentwicklungen und Modernisierungen nicht ausschließen, könnten Kosten, die Lebensdauer von Gerätschaften, Wissen um deren Bedienung, Spezialanfertigungen, eine Vergleichbarkeit von Ergebnissen oder das Vertrauen in das Bewährte in Betracht gezogen werden – never change a running system.

Neben der Fortdauer einer alten Technologie heben Krippahls und Warburgs Bücher einen weiteren eher unspektakulären Aspekt der wissenschaftlichen Praxis hervor – denken wir noch einmal an das Protokoll zur Herstellung des Coenzyms DPN durch wiederholtes Mischen, Trennen und Extrahieren von Substanzen. Ebenso wie derartige präparative Arbeiten scheint auch die in Krippahls Labortagebüchern dokumentierte Forschung selbst durch wiederholtes Ausführen und Variieren einfacher Schemata gekennzeichnet, das heißt, eher durch Handarbeit, Ablesen, Notieren von Messwerten und Berechnungen als durch Innovationen im Sinne neuer Technologien oder Darstellungsformen. Damit, und dies bringt uns noch einmal zur Figur des Labortechnikers, ist ein weiterer Aspekt angedeutet, unter dem das Verhältnis von Kontinuität und Wandel in den Lebenswissenschaften des 20. Jahrhunderts erneut betrachtet werden könnte.

Günter Krippahl verbrachte mehr als vierzig Jahre in Dahlem und Martinsried zwischen Schüttelkulturen diverser Zellen, Chemikalien, Zentrifugen, Abwaschbecken, Thermostaten und Kinolampen. Auch wenn man diese Kontinuität mit der Außergewöhnlichkeit Warburgs erklären könnte, zeigt sich hier doch ein allgemeines Phänomen: Während Promovierende und Wissenschaftler, jene, die sichtbar neue Verfahren entwickeln und Ergebnisse produzieren, während also das Personal der Innovation schnell wechselt, erfordert ein funktionierendes Labor auch ein großes Maß an Erhaltungs- und Wartungsarbeit, oder maintenance, um eines von Edgertons Schlagworten aufzugreifen. Insofern besitzen Laborassistenten oder Techniker nicht nur eine wichtige, unter Umständen entscheidende Funktion in der Experimentalpraxis, sondern auch eine besondere soziale Rolle.Footnote 26 Im Unterschied zu dem von Steven Shapin (2008) beschriebenen, vorherrschenden Typus des „unsichtbaren Labortechnikers“ waren Warburgs Assistenten aber durchaus sichtbar – er führte diese stets als Mitautoren, beteiligte sie an Patenten, und förderte ihre Weiterbildung. Erwin Negelein beispielsweise begann nach einer Feinmechanikerausbildung bei Siemens & Halske 1919 in Warburgs Abteilung, schloss berufsbegleitend Studium und Promotion der Chemie ab und wurde in der Nachkriegszeit Professor an der Humboldt-Universität und Institutsdirektor in Berlin-Buch (Eichhorst 2000). Es wäre zweifellos interessant, diese besondere Konturierung des Labortechnikers im Institut für Zellphysiologie mit Blick auf Warburgs Charakter und Verständnis von Wissenschaft zu untersuchen.

Im Lichte eines vielfach auf Kreativität, Neuerung und Wandel zentrierten Verständnisses der rezenten Lebenswissenschaften erinnern die Langlebigkeit von Techniker und Instrument, wie auch die in diesem Fund sichtbaren profanen Aspekte der Forschungspraxis daran, wie sehr auch die molekularen Lebenswissenschaften von Handarbeit und strenger Organisation, von Routine und Kontinuität bestimmt wurden und vermutlich noch werden.