1 Stellenwert des Vorsorgeprinzips

Das Vorsorgeprinzip ist in allen gesellschaftlichen Bereichen fest verankert und gilt als allgemeiner Rechtsgrundsatz in der Europäischen Union (EU), aber auch national und international als Ermächtigungsgrundlage für vorsorgende Schutzmaßnahmen der Behörden. Es soll dazu beitragen, Risiken auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse und Prognosen zu erkennen, zu minimieren und langfristige Schäden zu vermeiden, ohne dass eine abschließende wissenschaftliche Bewertung erforderlich ist. Das Vorsorgeprinzip umfasst alle Aspekte des menschlichen Lebens und der Umwelt, einschließlich Gesundheit, Umwelt und Wirtschaft, mit dem Ziel, die Nachhaltigkeit, Sicherheit und Widerstandsfähigkeit von Gesellschaft und Natur zu fördern (European Commission 2000b; Godard 2001; Kriebel und Tickner 2001; Cazala 2004; Goldstein 2005; Sandeleer 2006; Kühn 2006; Gazsó et al. 2007; Carpenter und Sage 2008; Dettling 2008; BioInitiative Working Group et al. 2012; Bundestag 2019; Krewski et al. 2022).

Bei der Entscheidung, wann und wie das Vorsorgeprinzip anzuwenden ist, stehen die Entscheidungsinstanzen vor der schwierigen Aufgabe, zwischen den Freiheiten und Rechten von Einzelpersonen und Unternehmen und der Risikominimierung für die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen abzuwägen (European Commission 2000b). Wenn eine solche Abwägung zu verhältnismäßigen, nicht diskriminierenden und zugleich transparenten und kohärenten Entscheidungen führen soll, müssen diese in einem abgestuften Entscheidungsprozess auf der Grundlage wissenschaftlicher Daten und anderer objektiver Informationen getroffen werden. Sie dürfen nicht auf hypothetischen Überlegungen beruhen (Meisterernst und Ballke 2009). Das Vorsorgeprinzip darf auch nicht dazu missbraucht werden, Handelsbarrieren zu errichten (Majone 2002; Goldstein und Carruth 2004, 2005; Goldstein 2005; Kühn 2006; Sandin 2006; Rottmeier 2021) oder Innovationen zu verhindern (Gad 2001; McMahon 2003; IKW 2005; Hansjürgens und Nordbeck 2005; Kühn 2006; Monaco und Purnhagen 2022).

Das Konzept der Risikoanalyse, das ursprünglich aus den Arbeiten der Codex Alimentarius Kommission der WHO hervorgegangen ist und heute rechtlich in Art. 6 der Lebensmittel-Basisverordnung (EG) Nr. 178/2002 (BasisVO) Eingang gefunden hat, umfasst die 3 Komponenten Risikobewertung, Risikomanagement und Risikokommunikation (Renwick et al. 2003; Goldstein und Carruth 2004, 2005; Grandjean 2004; Goldstein 2005; Heberer et al. 2007; Houghton et al. 2008; IFT 2009). Die eigentliche Risikobewertung kann wiederum in 4 Schritte unterteilt werden:

  • Gefahrenidentifikation,

  • Gefahrencharakterisierung,

  • Expositionsabschätzung mit der Analyse der Dosis-Wirkungsbeziehung und

  • Risikocharakterisierung (Goldstein 2005; IFT 2009).

Auch wenn in einigen Fällen ein vollständiges Verbot eines Produkts die einzig mögliche Reaktion auf ein bestimmtes Risiko zu sein scheint, ist dies nicht in allen Fällen eine angemessene Reaktion (vgl. Sandin 2006).

Das Vorsorgeprinzip kann angewendet werden, wenn eine vorläufige objektive wissenschaftliche Bewertung zu der begründeten Besorgnis führt, dass die potenziell gefährlichen Auswirkungen eines Stoffes auf die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen das hohe Schutzniveau gefährden, zu dessen Gewährleistung die Europäische Kommission verpflichtet ist. Das Vorsorgeprinzip räumt den Entscheidungsgremien einen erheblichen Ermessensspielraum bei der Festlegung eines akzeptablen Risikoniveaus ein, geht aber auch mit der Verpflichtung einher, Maßnahmen entsprechend zu begründen und zu rechtfertigen. Sobald wissenschaftlich begründete Zweifel an der gesundheitlichen Unbedenklichkeit eines Produktes bestehen, obliegt es den Unternehmen, ihre “Unschuld” zu beweisen (Cazala 2004). Darunter ist zu verstehen, dass es Aufgabe der Lebensmittelunternehmen ist, alle lebensmittelrechtlichen Vorschriften einzuhalten. Die Lebensmittelunternehmen sind selbst dafür verantwortlich, dass die Lebensmittel, die von ihnen hergestellt und/oder in den Verkehr gebracht werden, sicher sind (Sorgfaltspflicht) (BMEL 2021). Jede Person, die Lebensmittel oder Futtermittel herstellt oder in den Verkehr bringt, ist dafür verantwortlich, dass ihre Produkte gesundheitlich unbedenklich sind und den geltenden lebensmittelrechtlichen Vorschriften entsprechen. Darüber hinaus muss das Lebensmittelunternehmen für Schäden, die durch nicht konforme Produkte verursacht werden, zivil- und gegebenenfalls strafrechtlich haften. Zur Sorgfaltspflicht der Unternehmen gehört es daher zweifellos auch, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Sicherheitsbewertung ihrer Produkte beeinflussen können, bei der Herstellung, dem Verkauf, den Verzehrempfehlungen und der Werbung zu berücksichtigen.

Wissenschaftliche Unsicherheit wurde vom wissenschaftlichen Ausschuss der EU als die Lücken zwischen wissenschaftlich begründeten Annahmen und endgültigen wissenschaftlichen Beweisen definiert, wobei sich die Lücken insbesondere aus fehlenden Daten ergeben können. Die verfügbaren Daten müssen im Rahmen der Risikobewertung für regulatorische Zwecke nutzbar gemacht werden, indem die Datenlücken durch Simulationen, Extrapolationen und Modellrechnungen geschlossen werden, um eine Risikoprognose zu ermöglichen (European Commission 2000b, c; Renwick et al. 2003; Reichl und Schwenk 2021).

Unabhängig von der Art der abgeleiteten Maßnahme muss eine Überprüfung der Maßnahme erfolgen, sobald neue Erkenntnisse und Daten vorliegen. Maßnahmen sind daher in regelmäßigen Abständen im Lichte des wissenschaftlichen Fortschritts zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren (Arndt 2009; European Commission 2003; Sadeleer 2006; Matissek 2020).

2 Geschichte des Vorsorgeprinzips im nationalen und internationalen Recht

Der Ansatz, Vorsorge und Schadensvermeidung miteinander zu verbinden, fand in den 1960er und 1970er Jahren mit der Veröffentlichung der Technischen Anleitung zur Reinhaltung der Luft 1964 und dem Bundesimmissionsschutzgesetz 1972 Eingang in die deutsche Gesetzgebung, während das Vorsorgeprinzip im englischsprachigen Raum erstmals 1982 erwähnt wurde (Godard 2001; Kühn 2006; Zander 2010; Aronson 2021). Das Vorsorgeprinzip wurde also zunächst im Bereich des Umweltschutzes etabliert. Als Zeitpunkt seines endgültigen völkerrechtlichen Durchbruchs wird die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung (UNCED) 1992 in Rio de Janeiro angesehen, da sich dort ein breiter Konsens über die Notwendigkeit des Vorsorgeprinzips für die internationale Gemeinschaft abzeichnete (Kühn 2006; Aronson 2021). Seit Ende der 1980er Jahre haben sich die Verweise auf dieses Prinzip in nationalen Rechtsordnungen, völkerrechtlichen Verträgen und im Recht internationaler Organisationen vervielfacht (Cazala 2004) und finden sich seither in so unterschiedlichen Rechtsgebieten wie gentechnisch veränderten Organismen, Lebensmittelsicherheit, Spielzeugsicherheit und der Ausbreitung invasiver, nicht endemischer Tier-, Pflanzen-, Pilz- oder Mikroorganismenarten wieder (Cazala 2004; Kühn 2006; Aronson 2021).

Ein frühes Beispiel für Sekundärrechtsakte, die einem Vorsorgeansatz im europäischen Lebensmittelrecht folgen, war bereits die Richtlinie 76/621/EWG, mit der 1976 ein Grenzwert für Erucasäure in Speiseölen und -fetten eingeführt wurde, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht tatsächlich fundiert belegt war, dass Erucasäure zu unerwünschten gesundheitlichen Auswirkungen beim Menschen führt (Arndt 2009). Die logische Konsequenz dieser Entwicklungen war die Einführung präventiver Zulassungsverfahren bis Anfang der 1990er Jahre im Arzneimittelrecht, für Lebensmittelzusatzstoffe und für Pestizide. Mit der Etablierung von Zulassungsverfahren wurden hier erstmals den risikoverursachenden Unternehmen Nachweispflichten hinsichtlich der Unbedenklichkeit ihrer Produkte auferlegt (Arndt 2009). Auf europäischer Ebene wurden Inhalt, Anwendungsvoraussetzungen und Stellenwert des Vorsorgeprinzips im Rahmen des Risikomanagements erstmals im Grünbuch der Kommission über die allgemeinen Grundsätze der Lebensmittelsicherheit und in ihrer Mitteilung "Gesundheit der Verbraucher und Lebensmittelsicherheit vom 30. April 1997“ näher erläutert. Im Weißbuch der Kommission zur Lebensmittelsicherheit vom 12.1.2000 (European Commission 2000a), das kurz nach der Dioxinkrise vorgelegt wurde, wird das Vorsorgeprinzip als Grundsatz für das zukünftige gemeinschaftliche Lebensmittelrecht genannt (Kühn 2006; Arndt 2009; Szajkowska 2010). Obwohl die Richtlinie 1999/39/EG zur Änderung der Richtlinie 96/5/EG über Getreidebeikost und andere Beikost für Säuglinge und Kleinkinder bereits in ihrer Einleitung das Vorsorgeprinzip als allgemeines Grundprinzip im Umgang mit Lebensmitteln klar benennt (Szajkowska 2012), wurde dessen Anwendung und konkrete Konsequenzen im Europäischen Wirtschaftsraum erst durch die BasisVO, insbesondere in Art. 7, mehr als 20 Jahre nach der ersten Anwendung in der oben genannten Verordnung zur Regulierung von Erucasäure in Speiseölen präzisiert und fest etabliert (Szajkowska 2010).

Während die deutsche Trinkwasserrichtlinie vom 15. Juli 1980 noch einen klaren Vorsorgeansatz unabhängig vom jeweiligen Risikopotenzial der einzelnen Stoffe verfolgte (Arndt 2009), wird das Vorsorgeprinzip nun als Ansatz für das Risikomanagement in Situationen wissenschaftlicher Unsicherheit definiert und soll dann angewendet werden, um bei einem potenziell ernsthaften Risiko Schutzmaßnahmen zu ermöglichen, ohne die Ergebnisse wissenschaftlicher Untersuchungen abwarten zu müssen (Arndt 2009; Cazala 2004). Dabei obliegt es den Mitgliedstaaten, im Rahmen einer Risikobewertung festzulegen, auf welchem Niveau sie den Schutz der öffentlichen Gesundheit gewährleisten wollen (Arndt 2009; siehe auch Beschluss des BGH vom 23.06.2022—5 Str 490/21 Rdnr. 15).

Mit der Regelung des Art. 7 BasisVO aus dem Jahr 2002 skizziert die Gemeinschaftsgesetzgebung bereits die Anwendungsvoraussetzungen des Vorsorgeprinzips und erhebt es explizit zu einem zentralen Grundsatz des Lebensmittelrechts (Arndt 2009). Im Jahr 2007 hat die Europäische Union im Vertrag von Lissabon die Zielbereiche „Umwelt, Schutz der menschlichen Gesundheit, umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen, Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels“ für die Anwendung des Vorsorgeprinzips weiter definiert (Aronson 2021). Inzwischen gilt das Vorsorgeprinzip nicht nur als allgemeiner Rechtsgrundsatz in der Europäischen Union, sondern hat im Laufe der Jahre auch im Sekundärrecht, insbesondere im Lebensmittelrecht, an Bedeutung und praktischer Relevanz gewonnen (Bundestag 2019).

3 Lebensmittelrechtliche Anwendungsfälle in der gerichtlichen Praxis

Eine Anwendung des Vorsorgeprinzips zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher im Lebensmittelbereich, die zu internationalen Konflikten und einem Handelsstreit um hormonbelastetes Rindfleisch führte, war das Verbot des Einsatzes bestimmter Hormone als Mastbeschleuniger in der Tierzucht in der EU im Jahr 1989, gefolgt von einem Importverbot für so erzeugtes Fleisch aus den USA im Jahr 1998. Da jedoch keine ausreichenden wissenschaftlichen Beweise für ein potenzielles Risiko für den Menschen plausibel dargelegt werden konnten, war das Vorsorgeprinzip in diesem Fall nicht anwendbar und wurde gerichtlich nicht akzeptiert (Majone 2002; Arndt 2009; Szajkowska 2010).

Ein Meilenstein in der Manifestierung des Vorsorgeprinzips im Lebensmittelrecht war die BSE-Entscheidung des EuGH in seinem Urteil vom 05.05.1998—C-157/96 und C-180/96—als Folge der BSE-Krise. Mit diesem Urteil wurde die Anwendung des Vorsorgeprinzips erstmals gerichtlich bestätigt. Mit Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung 96/239/EG zum Exportverbot für Rinder und Rindfleisch aus Großbritannien von 1996 wurde erstmals europarechtlich festgehalten, dass staatliche Organe Schutzmaßnahmen ergreifen können, ohne abwarten zu müssen, bis die Existenz und Schwere der Gefahr in vollem Umfang erkennbar ist (Godard 2001; Kühn 2006; Arndt 2009; IFT 2009; Krewski et al. 2022). Als wegweisend gilt auch das Urteil des European Free Trade Association (EFTA)-Gerichtshofs in der Rechtssache E-3/00 ESA gegen Norwegen zum Vermarktungsverbot von mit Vitaminen und Eisen angereicherten Cornflakes (Arndt 2009; Baudenbacher 2012). Mit diesem Urteil hat der EFTA-Gerichtshof als erstes europäisches Gericht das Vorsorgeprinzip im Lebensmittelrecht anerkannt und entschieden, dass die Vermarktung eines Produkts auch dann untersagt werden kann, wenn nicht mit letzter Sicherheit feststeht, dass ein Gesundheitsrisiko besteht. Voraussetzung sei, dass ein ernstzunehmender Teil der Wissenschaft ein solches Risiko annimmt und die getroffenen Maßnahmen transparent, verhältnismäßig und nicht als diskriminierend einzustufen sind. Offensichtlich in Anlehnung an die Mitteilung der Kommission vom 2. Februar 2000 über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips (European Commission 2000b), die ihrerseits von der WTO-Entscheidung im Hormonfall beeinflusst war, stellte der EFTA-Gerichtshof fest, dass solche Maßnahmen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen müssen. Dieses Urteil hat die spätere Rechtsprechung des EuGHs maßgeblich beeinflusst (vergleiche auch EuGH, Urteil vom 23.12.2003—C-192/01) und stellt seither ein Grundprinzip der Rechtsprechung in der Europäischen Union dar (Arndt 2009; Baudenbacher 2012; Recuerda 2008). Die Kommission beruft sich seither mit Erfolg darauf, dass die Rechtsprechung des EFTA-Gerichtshofs als rechtsfortbildend anzusehen sei, und stützt sich in Fragestellungen wie der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen, der Anreicherung von Futtermitteln mit Antibiotika sowie der Bekämpfung von BSE auf diese Rechtsprechung (Arndt 2009; Meisterernst und Ballke 2009; Baudenbacher 2012; Leonelli 2020).

Das Verbot der norwegischen Lebensmittelbehörde, in Dänemark hergestellte und mit Vitaminen und Eisen angereicherte Cornflakes auf den Markt zu bringen, wurde hingegen nicht bestätigt (EFTA, Urteil vom 05.04.2001—E-3/00; EuGH, Urteil vom 23.09.2003—C-192/01), da es nicht auf einer Risikobewertung beruhte, sondern auf der willkürlichen Entscheidung, dass kein Ernährungsbedarf bestehe und die Versorgung durch die Abgabe entsprechender Produkte bereits gedeckt sei (Arndt 2009; Baudenbacher 2012).

Während verwaltungsgerichtliche Entscheidungen in Deutschland hohe Hürden für Anwendung von Art. 14 Abs. 2a oder 2b der BasisVO auf Botanicals aufstellen (Beisel et al. 2023), zeigen die Fallbeispiele in Tab. 1, dass der EuGH auch bereits lange vor Einführung von Art. 7 BasisVO vorbeugenden Maßnahme zum Schutz der menschlichen Gesundheit einen hohen Stellenwert beimisst, aber behördliche Maßnahmen nur für zulässig hält, wenn sie für den Gesundheitsschutz erforderlich sind (Sadeleer 2006; Kühn 2006; Arndt 2009; Zander 2010). EuGH-Verfahren, die das Vorsorgeprinzip nach Einführung von Art. 7 BasisVO zum Gegenstand hatten sind in Tabelle 2 aufgeführt.

Das Schlüsselelement bei der praktischen Umsetzung des Vorsorgeprinzips ist die Bestimmung des akzeptablen Risikos. Nach dem Vorsorgeprinzip ist jede Person oder Organisation, die ein Lebensmittel in Verkehr bringt, verpflichtet, die Sicherheit des Produkts nachzuweisen, bevor es verkauft wird (BMEL 2021; BVL 2022).

Im Urteil zur Rücknahme einer Arzneimittelzulassung aus Gründen des Gesundheitsschutzes (EuGH, Urteil vom 26.11.2002—T-74/00) wird das Vorsorgeprinzip in der europäischen Rechtsprechung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts beschrieben: „Auch wenn der Vorsorgegrundsatz im EG-Vertrag nur im Zusammenhang mit der Umweltpolitik erwähnt wird, hat er somit einen umfassenderen Anwendungsbereich“. Es bedeutet nicht zwangsläufig, dass ein Produkt verboten werden muss, sondern räumt den Gemeinschaftsorganen einen erheblichen Ermessensspielraum ein, um auf der Grundlage noch unvollständiger wissenschaftlicher Erkenntnisse Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Die wohl bekannteste Krise, in der das Vorsorgeprinzip zur Anwendung kam und in der die Gemeinschaftsgerichte klargestellt haben, dass bei begründeten Zweifeln an der Sicherheit von Lebensmitteln andere Gemeinschaftsprinzipien wie der freie Warenverkehr und die unternehmerische Freiheit hinter dem Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher zurücktreten müssen, ist die BSE-Krise. Die Bewältigung dieser Krise erfolgte durch ein Vermarktungsverbot für britisches Rindfleisch und Rindfleischerzeugnisse zu einem Zeitpunkt, als die Übertragbarkeit von BSE auf den Menschen noch nicht zweifelsfrei geklärt war (Dettling 2008). Damit hat der EuGH bereits lange vor der primärrechtlichen Verankerung des Vorsorgeprinzips in Art. 7 BasisVO das Recht anerkannt, in Situationen wissenschaftlicher Unsicherheit Schutzmaßnahmen zu ergreifen (Arndt 2009). In seinem grundlegenden Urteil vom 5. Mai 1998—C-157/96—erklärte der EuGH die Prinzipien der Vorsorge und Vorbeugung im Interesse der Gewährleistung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts. (Dettling 2008).

Die Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichte verleiht dem Gesundheitsschutz eine kaum bestreitbare Autorität, indem sie feststellt, dass "die Erfordernisse der öffentlichen Gesundheit unbestreitbar Vorrang vor wirtschaftlichen Interessen haben“ (Cazala 2004). Andererseits ist es nicht zulässig, das Vorsorgeprinzip ohne wissenschaftliche Grundlage ungerechtfertigt als Handelshemmnis einzusetzen (Goldstein und Carruth 2004; Recuerda 2021).

Obwohl Art. 7 der BasisVO als sekundärrechtliche Ausprägung des Vorsorgeprinzips angesehen werden kann, findet das Vorsorgeprinzip in der verwaltungsrechtlichen Umsetzung auf nationaler Ebene nicht die Beachtung, die ihm nach den obigen Ausführungen zukommen müsste, wie die verhältnismäßig geringe Anzahl von nationalen Verfahren zeigt, in der das Vorsorgeprinzip erwähnt wird. Dies mag an der im deutschen Rechtsverständnis tief verwurzelten kategorialen Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr einerseits und Vorsorge andererseits liegen (Möstl 2022). Zwar geht die Mehrheit der Obergerichte davon aus, dass Art. 7 unmittelbar als Ermächtigungsgrundlage für Vorsorgemaßnahmen dienen kann (vergleiche NdsOVG Beschluss vom 08.08. 2022—14 ME 203/22; HmbOVG Beschluss vom 08.06.2022—3 BS 263/21; OVG SH Beschluss vom 16.06.2022—3 MB 8/22), doch gibt es auch davon abweichende Auffassungen. So sieht der Bayerische Verwaltungsgerichtshof Art. 7 BasisVO eingebettet im Rahmen und in Verbindung mit Art. 14 BasisVO und Art. 138 KontrollVO (BayVGH Beschluss vom 25. 4. 2022—10 CS 22.530). Die zugrundeliegende Schwierigkeit mag in der unterschiedlichen Begrifflichkeit des noch jungen europäischen Rechts im Vergleich zur traditionellen, den deutschen rechtsanwendenden Personen vertrauten Gefahrenabwehr liegen, die sich im deutschen Recht deutlich von der Risikovorsorge unterscheidet (Möstl 2022).

Gegen eine Einordnung des Art. 7 in den Rechtsrahmen des Art. 14 in Verbindung mit Art. 138 KontrollVO spricht allerdings, dass die nationale Rechtsprechung die Anwendung des Art. 14 Abs. 2a oder 2b der BasisVO für Fälle in denen Gesundheitsgefahren nicht eindeutig quantifizierbar sind und Datenlücken bestehen, eindeutig verneint (Beisel et al. 2023) und auch die EU-Kontroll-Verordnung (VO (EU) 2017/625) weder den Begriff der „Vorsorge“ noch die Begrifflichkeiten des Art. 7 der BasisVO dort verankert. Die Aufnahme in den Rechtsrahmen des § 39 Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB) erscheint eher möglich, da hier zumindest der Verweis auf den Schutz durch Vorbeugung nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 LFGB und die Zuständigkeit der Behörden für den Vollzug unmittelbar geltender Rechtsakte der EU (§ 39 Abs. 1 LFGB) verwiesen wird.

Die in Art. 7 festgelegten Grundsätze werden zwar zusammen mit den Art. 5, 6 und 8—10 in Art. 4 Abs. 2 BasisVO als „horizontaler Gesamtrahmen“ beschrieben, der bei allen Maßnahmen zu beachten ist. Dabei wird aber auch immer wieder das nach Art. 1 Abs. 1 der BasisVO angestrebte „hohe Schutzniveau für die Gesundheit des Menschen“ als oberster Grundsatz einprägsam wiederholt (vgl. Art. 5 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 und Art. 7 Abs. 1 BasisVO), was nach allen Ausführungen auch die „Vorsorge“ einschließen muss. Art. 4 Abs. 3 und 4 BasisVO sind durch Zeitablauf überholt, machen aber deutlich, dass die in Art. 5 bis 10 BasisVO festgelegten Grundsätze und damit insbesondere auch Art. 7 verbindliche Prinzipien des Lebensmittelrechts sind, hinter denen alle andere Rechtsvorschriften zurückzustehen haben (Gorny 2010; Streinz und Meisterernst 2021).

Insbesondere im Zusammenspiel mit Art. 14 der BasisVO und in der verwaltungsgerichtlichen Umsetzung ergeben sich teilweise Anwendungsschwierigkeiten, wenn die oben dargestellten Prinzipien nicht oder nicht vollständig berücksichtigt wurden (Tab. 3).

Tab. 1 Urteile des EuGH: Behördliche Maßnahmen nur zulässig bei nachweislicher Erforderlichkeit zum Schutz der Gesundheit
Tab. 2 Urteile des EuGH: Anwendung des Vorsorgeprinzips nach Einführung von Art. 7 BasisVO
Tab. 3 Nationale Urteile und Beschlüsse, die das Vorsorgeprinzip nach Art. 7 BasisVO berücksichtigen

Zusammenfassend kann daher festgehalten werden, dass die aktuelle nationale Rechtsprechung in ihren Urteilen zunehmend davon ausgeht, dass die zuständigen Behörden den Spielraum des Art. 7 der BasisVO nutzen sollten, wenn eine Anwendung des Art. 14 Abs. 1 Nr. 2a der BasisVO aufgrund fehlender wissenschaftlicher Daten fraglich ist (VGH Bayern Beschluss vom 25.04.2022—20 CS 22.530; OVG Schleswig–Holstein–Beschluss vom 16.06.2022—3 MB 8/22; OVG Lüneburg—Beschluss vom 08.08.2022—14 ME 203/22). Nach Auffassung des OVG Hamburg ist eine auf Art. 7 Abs. 1 BasisVO gestützte Anordnung vom gesetzlichen Sofortvollzug nach § 39 Abs. 7 Nr. 1 LFGB ebenso erfasst, wie Anordnungen nach Art. 14 Abs. 1, Abs. 2a zur Durchsetzung der Anordnungen der zuständigen Behörden nach Art. 137 Abs. 1 der Verordnung 2017/625 über amtliche Kontrollen zur Beseitigung und Eindämmung von Gefahren für die menschliche Gesundheit (vgl. OVG Hamburg, Beschluss vom 08.06.2022—3 Bs 263/21). Die Gerichte kommen häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen, wenn es um die Frage geht, ob die Behörden das Inverkehrbringen eines Lebensmittels verbieten durften. Die Entscheidung hierüber wird in der Regel anhand der Prüfung der genauen Vorgehensweise der Behörde, der korrekten Durchführung des jeweiligen Risikomanagements, insbesondere aber der korrekten Abgrenzung zwischen Art. 14 BasisVO mit endgültigen Maßnahmen und Art. 7 BasisVO mit vorläufigen Maßnahmen im Sinne des Vorsorgeprinzips getroffen (Schäfer 2023). Ein Flussdiagramm mit einem Vorschlag zur Anwendung des Vorsorgeprinzips in der Lebensmittelüberwachung ist in Abbildung 1 dargestellt.

4 Anwendung des Vorsorgeprinzips auf Cannabidiol (CBD)-haltige Produkte

Während die Verwendung von Cannabidiol (CBD), einem Cannabinoid aus der Hanfpflanze, in einer Vielzahl von Produkten durch die intensive Bewerbung der möglichen gesundheitlichen Vorteile von CBD in den letzten Jahren stark zugenommen hat und der EU-Markt für CBD-Produkte ein Volumen von 1,6 Mrd. Euro erreicht hat (Lachenmeier et al. 2023), stehen die Lebensmittelunternehmen vor dem Problem, dass die Nahrungsergänzungsmittel mit CBD und Hanfextraktkonzentraten mittlerweile unstrittig als Novel Food eingestuft sind und damit ohne Zulassung nicht verkehrsfähig sind. Aus den vorliegenden wissenschaftlichen Daten lässt sich jedoch derzeit nicht ableiten, unterhalb welcher Tagesdosis die Produkte sicher sind (Dietz et al. 2022; Lachenmeier et al. 2023; EFSA 2022; COT 2021; BLV 2021). Das von hoch-dosierten CBD-Produkten ausgehende Risiko ist dagegen durch mehrere unabhängige Risikobewertungsansätze von Behörden und wissenschaftliche Studien in der Peer-Review-Literatur hinreichend belegt. Das derzeitige Marktvolumen von CBD-Produkten und die Gehalte in den Produkten geben ausreichend Anlass zur Sorge, dass der Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher nicht gewährleistet ist. Wie bei anderen Botanicals werden an die toxikologischen Einstufungen nach Art. 14 BasisVO und die daraus resultierenden Verkehrsverbote hohe Maßstäbe angelegt (Beisel et al. 2023). Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung in der EU haben die zuständigen Behörden grundsätzlich einen weiten Ermessensspielraum bei der Festlegung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, wenn ein hinreichend plausibles Risiko besteht und die Maßnahmen klar nachvollziehbar und eindeutig begründet sind. Wesentlich ist dabei auch, dass die Maßnahme verhältnismäßig sein muss und den Handel nicht stärker beeinträchtigen darf, als es zur Erreichung des Gesundheitsschutzziels erforderlich ist. Art. 7 Abs. 1 der BasisVO bietet im Falle von CBD eine weitere Rechtsgrundlage für die Festlegung von Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Verbraucherinnen und Verbraucher vor Schäden durch den Verzehr von CBD-Produkten. Wesentlicher Eckpfeiler ist dabei die Befristung der behördlichen Maßnahmen bis zum Vorliegen wissenschaftlicher Daten, die die genannten Datenlücken insbesondere bei niedrig dosierten Produkten schließen können. Bis dahin kann das Vorsorgeprinzip nach Artikel 7 auf Produkte angewendet werden, bei denen noch wissenschaftliche Unsicherheiten bei der Bewertung bestehen.

Das europäische Lebensmittelrecht basiert auf dem Grundsatz, dass nur sichere Lebensmittel in Verkehr gebracht werden dürfen, unabhängig von ihrem möglichen Nutzen. Wenn die Möglichkeit gesundheitsschädlicher Auswirkungen festgestellt wird, aber aus wissenschaftlicher Sicht noch Unsicherheiten und Datenlücken für eine abschließende Bewertung und genaue Quantifizierung eines Risikos bestehen, sind gemäß Artikel 7 der Lebensmittel-Basisverordnung vorläufige Risikomanagementmaßnahmen zu treffen, um das in der Gemeinschaft gewählte hohe Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen, bis weitere wissenschaftliche Informationen für eine umfassendere Risikobewertung vorliegen (Vorsorgeprinzip). Ein mögliches Risiko muss dabei durch Daten belegt sein und darf nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) nicht auf rein hypothetischen Überlegungen beruhen.

Während für CBD in Arzneimitteln mit pharmakologischen Tagesdosen über 300 mg/Tag zahlreiche Daten aus Zulassungsstudien vorliegen, ist die Datenlage für niedrigere ernährungsspezifische oder physiologische Tagesdosen noch sehr begrenzt. Auch die toxikologische Bedeutung anderer Cannabinoide in den verwendeten CBD-reichen Hanfextrakten und deren Wechselwirkungungen untereinander sowie mit parallel eingenommenen Arzneimitteln sind weitgehend unbekannt. Die Behörden können daher im Sinne des Vorsorgeprinzips aufgrund eines möglichen Gesundheitsrisikos prioritäre Schutzmaßnahmen ergreifen, die über die ohnehin erforderlichen Maßnahmen der Novel Food-Verordnung hinausgehen. Die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) weist auf eine Reihe verschiedener Gefahren im Zusammenhang mit der Aufnahme von CBD hin. Insbesondere die vorliegenden Studien zur Lebertoxizität führten zur Ableitung eines LOAEL (Lowest Observed Adverse Effect Level) für CBD von 4.3 mg/kg Körpergewicht. Im Rahmen des Novel-Food-Zulassungsverfahrens für CBD-haltige Nahrungsergänzungsmittel kam die EFSA zu dem Schluss, dass die Sicherheit von CBD aufgrund zahlreicher Datenlücken zu Wirkungen insbesondere auf den Gastrointestinaltrakt und die Leber, zu neurologischen, psychiatrischen und psychologischen Wirkungen sowie zu Wirkungen auf das endokrine und reproduktive System des Menschen und zu Wechselwirkungen mit gleichzeitig eingenommenen Arzneimitteln derzeit nicht abschätzbar ist. Das Zulassungsverfahren wurde ausgesetzt (EFSA 2022). Ein NOAEL (No Observed Adverse Effect Level, höchste Konzentration oder Menge eines Stoffes, bei der in einer exponierten Population keine nachweisbare schädliche Wirkung auftritt) konnte für Lebensmittel bisher nicht aus Studien abgeleitet werden. Mehrere nationale Behörden, die für die Lebensmittelsicherheit zuständig sind, gehen derzeit aber davon aus, dass CBD auch bereits in Mengen, die eine Zehnerpotenz unter dem LOEL liegen, nicht sicher ist.

Die Verwendung von CBD in Lebensmitteln und Nahrungsergänzungsmitteln ist in den USA verboten (FDA 2022), wobei das Verbot in erster Linie darauf beruht, dass eine als Arzneimittel zugelassene Substanz in den USA nicht gleichzeitig als „Dietary Supplement“ angeboten werden darf. Darüber hinaus verfolgen die USA und die EU grundsätzlich unterschiedliche Ansätze bei der Regulierung möglicher Risiken von neuartigen Lebensmitteln: Die USA verlangen für ein Verbot einen wissenschaftlichen Nachweis der Schädlichkeit, während die EU das Vorsorgeprinzip (Verbot mit Erlaubnisvorbehalt) anwendet (Zander 2010; Vapnek et al. 2021; Kostenzer 2021; Campden 2021). Abgesehen von diesen grundsätzlich unterschiedlichen Ansätzen besteht jedoch auf wissenschaftlicher Ebene in den USA, Europa und der Schweiz Einigkeit über die möglichen Gefahren durch CBD. Unsicherheit besteht lediglich in der Einschätzung, bis zu welcher Dosierung CBD als sicher angesehen werden kann. Die U.S. Food and Drug Administration (FDA) warnt hier nur grundsätzlich vor der Einnahme von CBD u.a. im Zusammenhang mit Leberschäden, unerwünschten Wirkungen auf die männliche Fortpflanzung und Wechselwirkungen mit Arzneimitteln. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen der Schweiz (BLV) weist darauf hin, dass CBD beim Menschen Leberschäden verursacht und im Tierversuch eine signifikante Reproduktionstoxizität nachgewiesen werden konnte (BLV 2021). Das BLV nennt eine orale tägliche Aufnahmemenge von 12 mg CBD/Erwachsener, die nicht überschritten werden sollte. Das BLV stützt sich dabei auf eine Studie, in der ab 5 mg CBD/kg Körpergewicht signifikant erhöhte Leberenzymaktivitäten im Blut mit Werten über dem Normalbereich bei gesunden Probanden festgestellt wurden und berücksichtigt einen Unsicherheitsfaktor von 30 (10 für die Variabilität beim Menschen, 3 für die Berücksichtigung, dass bereits bei der niedrigsten getesteten Dosis Effekte auftraten). Das wissenschaftliche Komitee (COT) der britischen Lebensmittelbehörde FSA (Food Standards Agency) kommt in seinem Positionspapier zum Risiko von CBD in Lebensmitteln zu dem Schluss, dass oberhalb einer täglichen Aufnahmemenge von 1 mg/kg Körpergewicht, was einer täglichen Aufnahmemenge von 70 mg für eine erwachsene Person entspricht, Sicherheitsbedenken bestehen (COT 2021). Die Modellierung der Benchmarkdosis (BMD) für verschiedene Bioassays bietet einen alternativen Ausgangspunkt (POD—point of departure) für die toxikologische Risikobewertung. Aufgrund der sehr guten Übereinstimmung der so abgeleiteten Health-based Guidance Values (gesundheitsbezogene Richtwerte, HBGV) mit Daten aus Humanstudien sollten Produkte, deren Verzehr zu einer Überschreitung des HBGV von 10 mg/Tag führt, aus Vorsorgegründen als "nicht für den menschlichen Verzehr geeignet“ eingestuft werden (Lachenmeier et al. 2023). Dosierungen unter von 10 mg/Tag könnten demnach für eine erwachsene Person als sicher betrachtet werden. Kommerzielle CBD-Produkte hingegen enthalten in der Regel CBD-Gehalte im Prozentbereich. Toxikologisch bedenkliche Dosierungen können daher bereits durch den Verzehr weniger Tropfen solcher Produkte erreicht werden. Die in den verschiedenen Risikobewertungskonzepten (BLV 2021; COT 2021; FDA 2022; Lachenmeier et al. 2023) genannten potenziell bedenklichen täglichen Aufnahmemengen können daher bereits durch den Verzehr sehr geringer Mengen erreicht und überschritten werden. Behördliches Handeln nach dem Vorsorgeprinzip ist daher auch bei Produkten dringend geboten, die aufgrund der rechtlichen Umgehungsversuche der CBD-Industrie nicht sofort eindeutig als nicht zugelassene Novel Food-Produkte als nicht verkehrsfähig eingestuft werden können.

CBD-Produkte sind längst keine Nischenprodukte mehr (Nae 2021). Personen oder Unternehmen, die CBD-haltige Produkte herstellen und vertreiben, finden und nutzen derzeit alle denkbaren Möglichkeiten, diese zu vermarkten. Zunehmend werden Produkte für den menschlichen Verzehr nicht mehr als Nahrungsergänzungsmittel, die als Novel Food bereits eindeutig als nicht verkehrsfähig eingestuft werden können, sondern als vermeintliche Aromen, Duftstoffe, Kosmetika (wie Mundtropfen oder -sprays), als Saatgut oder zur Anwendung bei Tieren (einschließlich Exoten und Fabelwesen) angeboten, was sich in einer steigenden Zahl von Gerichtsverfahren niederschlägt (siehe z.B. VG Würzburg, Beschluss vom 10.02.2021—W 8 S 21.117; VG Sigmaringen Beschluss vom 28.10.2021—10 K 2924/21; VG Würzburg Beschluss vom 19.12.2022—W 8 S 22.1676; VG Würzburg, Beschluss vom 19.12.2022—W 8 S 22.1678; VG Karlsruhe Beschluss vom 20.02.2023—3 K 512/23 und vom 24.02.2023—3 K 515/23). Auch eine steigende Anzahl von Warn-Meldungungen ist im Schnellwarnsystem RASSF (Rapid Alert System for Food and Feed) für Lebens- und Futtermittel zu verzeichnen bezüglich CBD-Gehalten, aber auch überhöhten Gehalten an Δ9-Tetrahydrocannabinol (146 Meldungen seit 2020, davon 60 Meldungen 2022 bis Mitte des Jahres 2023). Entgegen der Deklaration auf der Verpackung werden die Produkte über YouTube, Instagram oder andere Möglichkeiten des Internet-, Influencer- oder Strukturmarketings dennoch als Lebensmittel zum Verzehr beworben. Die dazu im Widerspruch stehenden Deklarationen auf der Verpackung (wie z.B. unplausibel geringe Verzehrmengen oder die Deklaration als vermeintliches kosmetisches Mittel oder als „Non-Food“) werden über diese Kanäle offen als Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen kommuniziert und die eigentliche orale Verzehrsempfehlung an die Verbraucherinnen und Verbraucher kommuniziert. Ein weiteres großes Marktsegment sind CBD-haltige pflanzliche Rauchprodukte (Kraft und Schmidt 2021; Nae 2021), die zum Teil ebenfalls erhebliche Mengen CBD enthalten.

Für CBD ist die Datenlage derzeit so, dass es einen wissenschaftlich gesicherten LOAEL gibt, bei dessen Überschreitung Maßnahmen nach Art. 14 Abs. 1 Nr. 2a BasisVO zweifelsfrei gerechtfertigt sind (Dietz et al. 2022; Lachenmeier et al. 2023). Die für die mögliche Anwendung des Vorsorgeprinzips relevanten Datenlücken beziehen sich somit auf den Dosisbereich zwischen dem LOAEL von 300 mg/Tag und dem HBGV von 10 mg/Tag. Unter Bezugnahme auf Art. 7 (1) BasisVO sollten Produkte, die aufgrund ihres Gehaltes und ihrer Packungsgröße eine Aufnahme von mehr als 10 mg CBD ermöglichen und prinzipiell oral aufgenommen werden können (Dietz et al. 2022; Lachenmeier et al. 2023), aus Sicht der Verfassenden gemäß dem Vorsorgeprinzip des Art. 7 BasisVO bis zur Vorlage neuer Daten vom Markt genommen werden. Denkbare Maßnahmen zur Umsetzung des Vorsorgeprinzips für niedrig dosierte Produkte, deren Aufnahme durch den Mund prinzipiell möglich ist und die in Mengen oberhalb des HBGV von 10 mg aufgenommen werden können, sind verpflichtende deutliche Warnhinweise auf dem Etikett auf das mögliche Risiko absichtlicher oder versehentlicher Aufnahme der Produkte, z.B. mit Hinweisen wie „lebertoxisch bei Aufnahme durch den Mund“. Für Personen mit regelmäßigem CBD Konsum könnte die Empfehlung eines periodischen Gesundheitschecks mit Kontrolle der Leberwerte ausgesprochen werden. Weitere Maßnahmen sind Reduzierung der Packungsgröße oder des CBD-Gehaltes, Warnhinweise zu maximalen Verzehrsmengen, oder eine Vergällung, wenn tatsächlich eine Verwendung als Non-Food beabsichtigt ist.

Diese Maßnahmen sind unter Berücksichtigung der europäischen Anforderungen an das Vorsorgeprinzip zu befristen, bis die Lebensmittelunternehmen die von der EFSA geforderten Datenlücken geschlossen haben und eine endgültige Rechtsgrundlage für CBD-Produkte geschaffen ist, um der stetig wachsenden wirtschaftlichen Bedeutung von CBD-haltigen Hanfprodukten Rechnung zu tragen. Ein gegenüber unseren früheren Überlegungen (Lachenmeier et al. 2019; Beisel et al. 2023) aktualisierter Entscheidungsbaum zur rechtlichen Bewertung von Hanfprodukten ist in Abbildung 2 dargestellt.

5 Fazit

CBD-haltige Produkte, die sich im Grenzbereich Food/Non-Food bewegen oder nicht nach Art. 14 BasisVO beurteilt werden können, da die bestehenden Datenlücken keine abschließende Bewertung mit nachfolgenden Verkehrsverboten zulassen, können und müssen zum Schutz der Verbraucherinnen und Verbraucher nach dem Vorsorgeprinzip gemäß Art. 7 BasisVO behandelt werden. Art. 7 bietet unter Berücksichtigung der bisherigen Rechtsprechung zum Vorsorgeprinzip und der bisher vorliegenden Daten der verschiedenen Institutionen zur Risikobewertung von CBD und konzentrierten Hanfextrakten eine gut fundierte Ausgangsbasis zur Umsetzung des dringend erforderlichen Gesundheitsschutzes. Wesentlicher Eckpfeiler ist dabei die Befristung der behördlichen Maßnahmen bis zur Verfügbarkeit wissenschaftlicher Daten, die die genannten Wissenslücken schließen können.

Abb. 1
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Flussdiagramm zur Anwendung des Vorsorgeprinzips in der Lebensmittelüberwachung

Abb. 2
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Entscheidungsbaum zur regulatorisch-toxikologischen Bewertung von Hanflebensmitteln und verwandten Produkten (aktualisiert nach Lachenmeier et al. 2019 und Beisel et al. 2023)