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“Zeitalter der Revolutionen” Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels

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Zusammenfassung

‘Affinitäten’ sollen den Gang der Dinge in Goethes Roman bestimmen, doch die Erwartungen werden getäuscht. Nicht mehr stoffliche Anziehung, sondern quantitative Verhältnisse leiten das Denken der Chemiker Anfang des 19. Jahrhunderts. In diesem als revolutionär empfundenen Wandel spiegeln sich die historischen Umbrüche der Epoche: ‘Quantitäten’ beherrschen allseits den Diskurs; auch den der ‘Wahlverwandtschaften’.

Abstract

‘Affinities’ seem to determine the plot in Goethe’s novel, but this impression is misleading. No longer qualitative attraction, but quantitative proportion structured scientific thought in chemistry at the beginning of the 19th century. This revolutionary change was experienced as parallel to the historical events of the time: ‘Quantities’ governed all discourse, also that of the ‘Wahlverwandtschaften’.

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Literatur

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  2. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Die Wahlverwandtschaften, Goethes Werkes Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. Erich Trunz, 11. Auflage, München 1982, VI, 276. In der Folge mit Seitenzahl oder mit Teil und Kapitel im Text aufgeführt.

  3. Vgl. Beda Allemann, “Zur Funktion der chemischen Gleichnisrede in Goethes Wahlverwandtschaften”, in: Vincenz J. Günther u.a. (Hrsg.), Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, Berlin 1973, 199–218, hier: 204ff.

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  7. In den sozialgeschichtlich orientierten Arbeiten zu dem Roman wird dieser Aspekt zumeist vernachlässigt. So legt Hans Rudolf Vaget den Text alléin als Zeugnis der “Krise des Adels” und Revision eines allzu optimistischen Bildes seiner Reformwilligkeit aus, wie es Goethe noch in Wilhelm Meisters Lehrjahre gezeichnet habe. Vgl. Hans Rudolf Vaget, “Ein reicher Baron. Zum sozialgeschichtlichen Gehalt der Wahlverwandtschaften”, Schiller Jb 24 (1980), 123–161.

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  8. Daß Goethe das Phänomen ‘Masse’ sehr genau studiert hat, läßt sich in Wilhelm Mommsens Studie zu Goethes politischen Vorstellungen nachlesen, die trotz ihrer Zeitgebundenheit immer noch den besten Überblick zu diesem Thema gibt. Vgl. Wilhelm Mommsen, Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1948, insb. 109–119.

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  17. Vgl. Waltraud Wiethölter, “Zur Mythologie von Goethes Wahlverwandtschaften”, DVjs 56 (1982), 1–64, hier: 41. Den Geburtstag des Hauptmanns erschließt Wiethölter aber nur kombinatorisch, im Roman wird er nicht erwähnt.

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  20. Lavoisier ging bei seinen Untersuchungen, die ihn über den Nachweis des Sauerstoffs zur modernen Oxydationstheorie führten, von der Messung der Stoffgewichte vor und nach der Reaktion aus: “Im Umgang mit Quantitäten geschult, interessierten ihn [Lavoisier] nicht in erster Linie chemische Eigenschaften der Stoffe und ihre qualitativen Umsetzungsprozesse, sondern Gewichts- und Volumenveränderungen in chemischen Prozeduren. Zwar war die Benutzung von Meßergebnissen in der Chemie keine Erfindung Lavoisiers.... Lavoisier aber ging davon aus, daß quantitative Verhältnisse in der Chemie nicht bloß auch in Rechnung zu stellen, sondern daß sie vielmehr zur Grundlage der Deutung von Versuchsergebnissen zu machen seien” (Elisabeth Ströker, Theoriewandel in der Wissenschaftsgeschichte. Chemie im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1982, 221).

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  26. Das Allgemeine Landrecht erkennt die Ausübung der Gerichtsbarkeit durch Privatpersonen auf Grund von erlangten “Regalien” oder “dem Besitze gewisser Grundstücke” zwar ausdrücklich an, diese unterliegt aber der “Oberaufsicht des Staats”. Vgl. ALK II (Anm. 52), 620, Siebzehnter Titel, Erster Abschnitt, §§ 19 ff. Eine ähnliche Auffassung wird in Sachsen-Weimar vertreten. Vgl. Christian Wilhelm Schweitzer, Oeffentliches Recht des Grofiherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, Weimar 1825, 157f.

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  27. Ein berühmter Zeitgenosse stand den pädagogischen Bemühungen von Ottilie und dem Architekten Pate. Um die Jahrhundertwende hatte Johann Gottfried Herder, als Generalsuperintendent des Konsistorialbezirks Weimar dienstlich mit dem Landschulwesen befaßt, vorgeschlagen, für die Jugend einen obligatorischen “Handfertigkeitsunterricht” einzuführen: “man wollte Knaben und Mädchen stricken und spinnen, außerdem jene Socken fertigen und Obstbaumzucht, diese gern auch Spitzen klöppeln lehren” (H. Ranitzsch, “Herder und das Weimarer Seminar”, Pädagogische Blatter für die Lehrerausbildung und Lehrerbildungsanstalten [Gotha] 32 [1903], 584–610, hier: 604). Eine weitere Quelle nennt F. A. Kittler (Anm. 10), 133.

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  30. “Durch Vollziehung einer rechtmäßigen Ehe erlangt der Ehemann das Recht Ehrerbietung und Folgsamkeit, Dienste für das Hauswesen und zu seiner Handthierung von der Frau zu fordern, dann aber die Vormundschaft uber seine Ehefrau und alle mit derselben verbundene Rechte in Betreff ihrer Person und ihres Vermögens” (Thuiskon Friedrich Sachse, Handbuch des Großherzoglich-Sächsischen Privatrechts, Weimar 1824, 138). Dies schloß die Vertretung der Frau in Rechtsgeschäften nach außen ein.

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  31. Vgl. Friedrich Lütge “Bauernbefreiung”, in: Erwin von Beckerath u.a. (Hrsg.), Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12 Bde., Göttingen 1956ff., I (1956), 658–670, hier: 659f.

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  32. Goethe sprach an diesem Punkt aus eigener Erfahrung. Im Jahr 1798 erwarb er das Freigut Oberrofßla, das in der Nähe von Apolda gelegen war. Die Verwaltung uberläßt er einem Pächter. Schon 1803 wird Oberrofßla jedoch wieder verkauft. Die Probleme, die sich ergaben, scheinen ähnliche gewesen zu sein, wie sie uns im Roman begegnen. Der Ertrag deckte bei weitem nicht die Kosten, die unter anderėm auch für Verbesserungen zu Vergnügungszwecken anfielen. Vgl. Karl Otto Conrady, Goethe. Leben und Werk, 2 Bde., Königstein i.Ts. 1982/85, II (1985), 237f.

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  33. Vgl. Albrecht Thaer, Grundsäze der rationellen Landwirthschaft in einem für das Bedürfnis und die Verhältnisse der Schweiz und des südlichen Deutschlands eingericbteten vollständigen Auszuge, Frauenfeld 1810, 11 ff.

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  34. Einige Erwerbungen in Goethes Bibliothek zu Themen des Landbaus und der Betriebsführung zeigen, daß er sich anfangs der Oberrofßlaer Episode eingehender mit Fragen der Landwirtschaft beschäftigt hat, Thaers Werk befindet sich jedoch nicht darunter. Vgl. Hans Ruppert (Bearb.), Goethes Bibliothek. Katalog, Weimar 1958, 436ff. ‘Gutsbeschreibung’ neben der eigentlichen Vermessung, die Güte der Böden, Lage und Verhältnis der Grundstücke zueinander sowie die mit dem Grundbesitz verbundenen Rechte.

  35. Zu den ‘Gerechtsamen’ gehören Wald-, Weide-, Wege- und Wasserrecht sowie Schank-, Brau- und Mühlenkonzessionen. Vgl. Ottomar Batzel, Grundentlastung und Bauernbefreiung im Grofiherzogtum Sack sen-Weimar-Eisenach, Teildruck Diss. Phil. Berlin 1935, 26ff. Wenn Vaget (Anm. 10), 153, von “Nutzungsrechten” spricht, die “veräußert” werden, ist das ein rechtliches Unding. Da alle Gerechtsamen an die Grundherrschaft gebunden waren, wurden sie entweder mit dieser zusammen verkauft oder im anderen Faile eben abgetreten.

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  36. Carl Gottlieb Svarez, Über die Ehe, Vorträge über Recht und Staat, hrsg. Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, Köln, Opladen 1960, 316–327, hier: 316. Fast wortwörtlich fließen diese Überlegungen auch in die Bestimmungen des entsprechenden Abschnitts im Allgemeinen Landrecht ein. Vgl. ALR II (Anm. 52), 345, Erster Titel, § If.

  37. Vgl. Eduard Hubrich, Das Recht der Ehescheidung in Deutschland, Berlin 1891, 139ff.

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  38. Vgl. Dirk Blasius, Das Recht der Ehescheidung in Deutschland 1794–1945, Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 74, Göttingen 1987, 27ff. Nach dem Erlaß der ‘Ober-konsistorial-Ordnung für das Ober-Konsistorium zu Weimar vom 7. Januar 1804’ war auch dort die Ehescheidung Zivilsache. Vgl. Teuscher (Anm. 61), 61, Anm. 1.

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  39. Vgl. Teuscher (Anm. 61), 218f. Bis zur Einführung der standesamtlichen Register in Deutschland im Jahr 1876 wurden Taufen, Eheschließungen und Todesfälle zumeist nur in den Kirchenbüchern erfaßt. Vgl. Wolfgang Schütz, 100 Jahre Standesämter in Deutschland. Kletne Geschichte der bürgerlichen Eheschließung und der Buchführung des Personenstandes, Frankfurt/M. 1977.

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  40. Es gab jedoch auch Ansätze, die neuen Erkenntnisse in das alte Konzept der Affinitäten einzubringen. So schlug der Physiker Johann Wilhelm Ritter–mit Goethe gut bekannt–vor, die chemische Affinität von Stoffen–da alles, was sich an chemischen Stoffen anzieht, “bloß Hydrogen und Oxygen untereinander” sind–auf die “electrische” Anziehung von Wasserstoff und Sauerstoff zurückzuführen. Vgl. Johann Wilhelm Ritter, “Versuch einer Geschichte der chemischen Theorie in den letzten Jahrhunderten”, Journal für die Chemie, Physik und Mineralogie 7 (1808), 1–66, hier: 47f. Spuren dieser Überlegungen finden sich in einer Szene, die auf Ritters Experimente mit dem Magnetismus Bezug nimmt (443f.), in den Roman eingearbeitet.

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Hoffmann, C. “Zeitalter der Revolutionen” Goethes Wahlverwandtschaften im Fokus des chemischen Paradigmenwechsels. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 67, 417–450 (1993). https://doi.org/10.1007/BF03396214

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