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Ermittlung der Gegenwart: Theorie und Praxis unsouveränen Erzählens bei Juli Zeh

Beyond Unreliable Narration. Juli Zeh’s Concept of Contemporary Literature

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Abstract

For Juli Zeh contemporary literature by definition needs to be both, related to the identity politics of the present and concerned with its own highly challenged sovereignty in the attempt to represent identity issues. The combined use of dramatic and epic forms reveals a performative approach to the meaning of <Gegenwart> whereas the narrating voice is performed and deconstructed at the same time. Finding a focus on the difficulties of the post 1989 generations to represent a generation at all, Zeh’s writing develops unreliable literary figures to be placed in the middle of the political conflicts of globalization where sovereignty can only be reclaimed.

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Literatur

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  27. Vgl. Geulen, Eva: »Der Erziehungswahn und sein Sinn (Nietzsche)«. In: Dies./Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg 2007, S. 229 f.

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  33. Max berichtet von folgendem Gespräch mit der Radiomoderatorin Clara: »Ihr seid exzentrisch in Wien, sagte sie, Völkerrechtler sind keine richtigen Juristen. Absolut korrekt, sagte ich, und Völkerrecht ist kein richtiges Recht. Mehr eine Religion.« (Zeh, Juli: Adler und Engel. Frankfurt a. M. 2003, S. 118). Mit dem Kanzleichef Rufus führt er wegen des Gutachtens für den fraglichen Militäreinsatz folgendes Gespräch: »Mäx, sagte er, auf einem Gebiet wie dem Völkerrecht, das sich seiner Natur nach vor allem durch Schwammigkeit auszeichnet, kann man nur eins sein: Positivist. Sonst können wir unsere Disziplin auch gleich umbenennen in Weltpolitik und sie den Diplomaten und Moralisten überlassen.« (Ebd., S. 253).

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Weitin, T. Ermittlung der Gegenwart: Theorie und Praxis unsouveränen Erzählens bei Juli Zeh. Z Literaturwiss Linguistik 42, 67–86 (2012). https://doi.org/10.1007/BF03379679

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