Abstract
For Juli Zeh contemporary literature by definition needs to be both, related to the identity politics of the present and concerned with its own highly challenged sovereignty in the attempt to represent identity issues. The combined use of dramatic and epic forms reveals a performative approach to the meaning of <Gegenwart> whereas the narrating voice is performed and deconstructed at the same time. Finding a focus on the difficulties of the post 1989 generations to represent a generation at all, Zeh’s writing develops unreliable literary figures to be placed in the middle of the political conflicts of globalization where sovereignty can only be reclaimed.
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Literatur
Vgl. Weitin, Thomas: Recht und Literatur. Münster 2010, S. 12.
Vgl. Vismann, Cornelia: »Action writing. Zur Mündlichkeit im Recht.«. In: Friedrich Kittler/ Thomas Macho/ Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S. 133–151.
Vgl. Meyer-Krentler, Eckhardt: »<Geschichtserzählungen>. Zur <Poetik des Sachverhalts> im juristischen Schrifttum des 18. Jahrhunderts«. In: Jörg Schönert (Hg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 117–157.
Vgl. zur Fallgeschichte: Weitin, Thomas: Zeugenschaft. Das Recht der Literatur. Kap. 3: <Erzähltes Recht. Die Wahrheit und die literarische Form>. München 2009, S. 257–367.
Vgl. dazu wissenschaftsgeschichtlich außerdem: Pethes, Nicolas: <Vom Einzelfall zur Menschheit. Die Fallgeschichte als Medium der Wissenspopularisierung in Recht, Medizin und Literatur>. In: Gereon Blaseo/ Hedwig Pompe/ Jens Ruchatz (Hg.): Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 63–92.
Im Gespräch mit Thomas Geiger beschreibt Zeh exakt die Wirklichkeitskonstruktion der juristischen Methode: »Man geht von einem Fall aus, oder anders gesagt, es ist etwas passiert. Das nennen wir jetzt hilfsweise mal Wirklichkeit. Dann gibt es einen Paragraphen. Da steht zum Beispiel drin: Wer einen anderen Menschen tötet, wird nicht unter xy bestraft. Und jetzt mußt Du das Wort <töten>, das in dem Gesetz drinsteht, in Einklang bringen mit dem, was da passiert ist. Da hat jemand irgendeinem eine Pfanne auf den Kopf gehauen, und es ist die Frage: Hat er den getötet oder nicht? Das ist die juristische Arbeit. Du mußt also herausfinden: Was bedeutet töten ganz genau? Auf der anderen Seite mußt Du herausfinden: Was genau ist passiert? Entsprechen sich der Sachverhalt und das Wort? Bei der Literatur ist es erst mal umgekehrt. Ich schreibe sozusagen <töten>. Er tötet wie? Und dann denkt sich der Kopf dazu eine Wirklichkeit, und ich muß mir dann als Schriftsteller überlegen, ob ich meine Wörter genau so gesetzt habe, daß daraus die Form von fiktiver Welt entsteht, die ich haben will. Das ist eigentlich ein komplementäres Verfahren. Wenn man genauer hinsieht, werden sich die beiden Verfahren allerdings immer ähnlicher. Denn auch bei juristischen Texten ist natürlich eine Form von Welterschaffung involviert. Bevor ich ein Urteil mache, schreibe ich erst mal den Tatbestand. Da schreibe ich rein, was passiert ist. Das ist angeblich eine Wirklichkeitsdarstellung. Aber es ist nichts anderes als Literatur, weil ich ja erkläre, dass der Soundso an dem Tag um soundsoviel Uhr in den Raum gekommen ist und das und das gemacht hat. Und das ist ja auch wieder ein sprachliches Phänomen. Das heißt, in Wahrheit baue ich mir sprachlich eine juristische Wirklichkeit und komme dann mit einem sprachlichen Instrumentarium, um diese Wirklichkeit, die ich mir grade selbst erschaffen habe, zu beurteilen.« (Zeh, Juli/ Geiger, Thomas: <Es geht immer um Sprache. Ein Gespräch über Jura und Literatur>. In: Sprache im technischen Zeitalter 44/180 (2006), S. 417–431, S. 427 f.)
Müller-Diez, Heinz: <Zur negativen Utopie von Recht und Staat — am Beispiel des Romans Corpus Delicti von Juli Zeh>. In: Juristenzeitung 2 (2011), S. 85.
Zeh, Juli: Spieltrieb. München 2006, S. 209. Im Folgenden zitiert als ST.
Darauf hat als erster Christopher Schmidt aufmerksam gemacht: Vgl. Schmidt, Christopher: »Die Erfindung der Realität. Über Juli Zehs Erstlingsstück Corpus Delicti«. In: Sprache im technischen Zeitalter 46/187 (2008), S. 263–269, S. 266.
Zeh, Juli: Corpus Delicti. Ein Prozess. Frankfurt a. M. 2009, S. 158. Im Folgenden zitiert als CD.
Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a. M. 2002.
Ich folge: Schumacher, Eckhard: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 16.
Vgl. Martinez, Matias/ Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, Kap. II.2.a: »Distanz«. München 2007, S. 47–51.
Brinkmann, Rolf Dieter: Erkundungen für die Präzisierung eines Gefühls für einen Aufstand. Reinbek 1987, S. 129.
Brinkmann, Rolf Dieter: Briefe an Hartmut. 1974–1975. Mit einer fiktiven Antwort von Hartmut Schnell. Reinbek 1999, S. 194.
Diese Struktur verfolgt die Literaturgeschichte bekanntlich auf Sophokles’ König Ödipus zurück, den Schiller im Briefwechsel mit Goethe als Vorbild für jenen Kunstgriff darstellt, mit dem das, was nach den dramaturgischen Regel der Einheit von Raum und Zeit sonst nicht darstellbar wäre, doch für die Bühne gewinnen werden kann: »Der Oedipus ist gleichsam nur eine tragische Analysis. Alles ist schon da, und es wird nur herausgewickelt. Das kann in der einfachsten Handlung und in einem sehr kleinen Zeitmoment geschehen, wenn die Begebenheiten auch noch so compliciert und von den Umständen abhängig waren. Wie begünstiget das nicht den Poeten.« (Schiller, Friedrich: Brief an Goethe vom 2. Oktober 1797. In: Ders.: Werke. Nationalausgabe. Hg. Norbert Oellers/ Frithjof Stock. Weimar 1977, Bd. 29, S. 141). Heinrich von Kleists Der zerbrochene Krug (der in Goethes Inszenierung ein totaler Misserfolg beim gelangweilten Weimarer Publikum war) wendet die dramaturgische Technik der Analysis auf die Komödie an (vgl. Weitin, Thomas: Zeugenschaft, S. 124).
Vgl. zur Archivpraxis der Popliteratur: Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten. München 2002.
Für die Absetzung Juli Zehs gegen die Popliteratur: Wehdeking, Volker: Generationenwechsel. Intermedialität in der deutschen Gegenwartsliteratur. Berlin 2007, S. 88.
Goetz, Rainald: Rave. Frankfurt a. M. 1998, S. 17. Vgl. dazu Schumacher: Gerade Eben Jetzt, S. 50 (wie Anm. 11).
»Wo die Gleichheit die formalen Fundamente der Beziehungen zwischen den Menschen ergreift, wird sie zum Mittel, ihre individuellen Ungleichheiten zum schärfsten und folgenreichsten Ausdruck zu bringen […]« (Simmel, Georg: Philosophie des Geldes. Gesamtausgabe in Bänden. Hg. David P. Frisby/ Klaus Christian Köhnke. Frankfurt a. M. 1989, Bd. 6, S. 610)
Zeh, Juli: »Sag nicht ER zu mir«. In: Dies.: Alles aus dem Rasen. Kein Roman. Frankfurt a. M. 2008, S. 228.
Diesen Zusammenhang betont auch die Spieltrieb-Lektüre von Breger, Claudia: »Moral Play? Poetics, Ethics and Politics in Juli Zehs Spieltrieb«. In: Mark W. Rectanus (Hg.): Über Gegenwartsliteratur. Interpretationen und Interventionen. Festschrift für Paul Michael Lützeler zum 65. Geburtstag von ehemaligen Studenten. Bielefeld 2008, S. 105–122.
Vgl. Hörisch, Jochen: »Was generiert Generationen: Literatur oder Medien?« in: Ders. (Hg.): Mediengenerationen. Frankfurt a. M. 1997, S. 7–15.
Vgl. Bogdal, Klaus-Michael: »Veränderungen der Gegenwartsliteratur durch die Mediengesellschaft«. In: Clemens Kammler/ Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen — Analysen — Vermittlungsperspektiven. Heidelberg 2004, S. 86, 93.
Zeh trennt ganz klar zwischen literarischem und nicht-literarischem Schreiben: »Die literarische Arbeit prüft das verwendete Material auf seine Tauglichkeit zur Metapher, zum Motiv, zum Symbol — und gehorcht damit den Gesetzen einer intratextuellen Notwendigkeit, die mit den Auswahl- und Darstellungsverfahren einer empirisch verankerten Berichterstattung nicht identisch ist.« (Zeh, Juli: »Zur Hölle mit der Authentizität«. In: Die Zeit vom 21.9.2006)
»Ich bin ja auch so ein Musil-Jünger. Und was er im Mann ohne Eigenschaften macht, das bräuchte man genau jetzt für dieses Land.« (Zeh/Geiger, S. 424) Vgl. zur Musil-Rezeption Zehs detailliert: Martens, Gunter: »Musils gesprächig-schweigender Erzähler: neue Adresse, neuer Adressat?«. In: Annette Daigger/ Peter Henninger (Hg.): Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Bern 2008, S. 153–160.
Vgl. Geulen, Eva: »Der Erziehungswahn und sein Sinn (Nietzsche)«. In: Dies./Nicolas Pethes (Hg.): Jenseits von Utopie und Entlarvung. Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum Erziehungsdiskurs der Moderne. Freiburg 2007, S. 229 f.
»Entscheidungen gibt es nur, wenn etwas prinzipiell Unentscheidbares (nicht nur: Unentschiedenes!) vorliegt.« (Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1995, S. 308).
Vgl. Thürer, Daniel: »Entwicklung, Inhalt und Träger des Selbstbestimmungsrechts«. In: Erich Reiter (Hg.): Grenzen des Selbstbestimmungsrechts. Die Neuordnung Europas und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Graz 1996, S. 34–60.
Vgl. Crawford, James: »Right to Self-Determination in International Law«. In: Philip Alston (Hg.): People’s Rights. Oxford 2001, S. 7–68.
Saxer, Urs: Die internationale Steuerung der Selbstbestimmung und der Staatsentstehung. Selbstbestimmung, Konfliktmanagement, Anerkennung und Staatennachfolge in der neueren Völkerrechtspraxis. Heidelberg u. a. 2010, S. 3.
Vitzthum, Wolfgang Graf: »Gerechtigkeit für Bosnien? Zu Juli Zehs Bildern vom Balkan«. In: Susanne Kaul/ Rüdiger Bittner (Hg.): Fiktionen der Gerechtigkeit. Literatur — Film — Philosophie — Recht. Baden-Baden 2005, S. 120.
Max berichtet von folgendem Gespräch mit der Radiomoderatorin Clara: »Ihr seid exzentrisch in Wien, sagte sie, Völkerrechtler sind keine richtigen Juristen. Absolut korrekt, sagte ich, und Völkerrecht ist kein richtiges Recht. Mehr eine Religion.« (Zeh, Juli: Adler und Engel. Frankfurt a. M. 2003, S. 118). Mit dem Kanzleichef Rufus führt er wegen des Gutachtens für den fraglichen Militäreinsatz folgendes Gespräch: »Mäx, sagte er, auf einem Gebiet wie dem Völkerrecht, das sich seiner Natur nach vor allem durch Schwammigkeit auszeichnet, kann man nur eins sein: Positivist. Sonst können wir unsere Disziplin auch gleich umbenennen in Weltpolitik und sie den Diplomaten und Moralisten überlassen.« (Ebd., S. 253).
Zeh, Juli: Die Stille ist ein Geräusch. Eine Fahrt durch Bosnien. Frankfurt a. M. 2003, S. 143 f.
Vgl. zum metaphorischen Vergleich als stilprägend bei Zeh: Palm Meister, Christine: »Die Vergleiche der Juli Zeh«. In: Bo Anderson/ Gernot Müller/ Dessilava Stoeva-Holm (Hg.): Sprache — Literatur — Kultur. Text im Kontext. Uppsala 2010, S. 121–128.
Vgl. Auerbach, Erich: »Figura.«. In: Ders.: Neue Dantestudien. Zürich u. a. 1944, S. 11–71
Balke, Friedrich: Figuren der Souveränität. München 2009.
So schildert Cremer die Position von Jack L. Goldsmith und Eric A. Posner: Vgl. Cremer, Hans-Joachim: »Völkerrecht — Alles nur Rhetorik?«. In: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 67 (2007), S. 267–296.
Vgl. Kindt, Tom: Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß. Tübingen 2008, S. 54.
Vgl. Jahn, Manfred: »Package Deals, Exklusionen, Randzonen. Das Phänomen der Unverläßlichkeit in den Erzählsituationen«. In: Ansgar Nünning (Hg.): Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur. Trier 1998, S. 95.
Lemma »Unzuverlässigkeit, erzählerische«. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze — Personen — Grundbegriffe. Hg. von Ansgar Nünning. Stuttgart/Weimar 2004, S. 682.
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Weitin, T. Ermittlung der Gegenwart: Theorie und Praxis unsouveränen Erzählens bei Juli Zeh. Z Literaturwiss Linguistik 42, 67–86 (2012). https://doi.org/10.1007/BF03379679
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