1 Völkische Esoterik und Transzendentalisierung der Nation als antisemitische Schuldabwehr in Ungarn

Der theoretische Ansatz dieses Aufsatzes rekurriert erstens auf die in der „Dialektik der Aufklärung“ formulierten Thesen (HORKHEIMER/ADORNO 2004), nach denen der Antisemitismus eine Weltanschauung in entfremdeten, weil an vermeintlich organischen „archaischen Schemata orientierten“ (HORKHEIMER/ADORNO 2004, S. 177) Gesellschaften ist. In ihnen entsteht aus einer falschen und pathisch-projektiven Identifikation mit Volk und Nation ein paranoides System von Wahnvorstellungen (HORKHEIMER/ADORNO 2004, S. 184ff). Motiviert wird das Wahnsystem durch die religiöse Suche nach einer verloren geglaubten Urharmonie, die aber das den universalistischen Konfessionen innewohnende Motiv der Gnade und der Nächstenliebe nicht kennt. Sie verkommt vielmehr zu einer neuvergeistigten Götzenverehrung, die in das Kulturgut eingegliedert wird. Ihre vermeintlichen Verteidiger erscheinen wie Wagnersche Gralshüter als Elitegarden objektiviert mit einem Erneuerer der Erde an der Spitze, durch die der Volksgenosse mit der Sanktionierung seiner Wut rechnen kann. Die vorgestellte völkische Harmonie ist von Verfolgung nicht zu trennen, weil ihre Gleichheitsidee der Feindbilder bedarf (HORKHEIMER/ADORNO 2004, S. 172ff).

Wichtig für die Arbeit ist ein bis jetzt kaum reflektiertes Leitmotiv in der ungarischen Politik und Kultur: die diesseitige Metaphysik. Metaphysik meint hier die Wirklichkeit jenseits der physikalisch-materialistischen Realität mit dem Zusammenhang „des Einen, Unbeantwortbaren, des Großen, Unbekannten“ (HORKHEIMER 2011, S. 18). Damit hängt auch die Metapolitik (HENTGES/GLASER 2020) zusammen, die im Gegensatz zur Realpolitik einen permanenten spirituellen „Kulturkampf“, eine „konservative Revolution“ (MARSOVSZKY 2020) bedeutet, die mit ihrem antisemitischen Weltbild zur antimodernen Transformation der Gesellschaft führt. Diesseitig ist diese Metaphysik deshalb, weil es in ihr dezidiert nicht um christliche, sondern um säkularisierte Vorstellungen geht.

Wichtig sind auch die Feststellungen Detlef CLAUSSENs (2005, S. 20) über den Zusammenhang zwischen dem modernen Konformismus und der Alltagsreligion, die in der ohnmächtigen Angst eine Art Erlösung biete. Damit hängen auch die Kategorien von gesellschaftlicher Selbstfindung durch Schuldabwehr (ADORNO 1997; SALZBORN 2020, S. 67) und nationalem Opfermythos (SALZBORN 2006) zusammen, die das antisemitische Weltbild in Ungarn weiter beflügeln.

In dieser Arbeit wird das nicht-bewusste, unreflektierte und abwehrende Moment betont. Der analytische Begriff „völkisch“ impliziert – wie im deutschen, so auch – im ungarischen Kontext den ethnisch-homogenen, rassischen Blick, so dass beispielsweise auch seine adäquate Übersetzung ins Englische „racial-national“ sein müsste, so wie auch die durch dieses Denken entwickelte Identitätsgemeinschaft, die „Volksgemeinschaft“ adäquat „racial-national community“ heißen muss (GRIFFIN 2020, S. 147).

Im gegenwärtigen völkischen Antisemitismus Ungarns sind Menschen, die als „Juden“ wahrgenommen werden, Projektionsobjekte des Hasses, unabhängig davon, ob sie Jüdinnen und Juden sind oder nicht. Es geht im Antisemitismus in Ungarn vielmehr um Prinzipien, die als „verjudet“ wahrgenommen werden. Die Menschen, gegen die sich der Hass richtet, verkörpern im Wahn der Projektion den moralischen Gegenpol der vorgestellten völkischen Harmonie. In der so genannten „Ticket-Mentalität“ (HORKHEIMER/ADORNO 2004, S. 217), die die Orientierung auf Austauschbarkeit, Empathielosigkeit und Desinteresse anderen gegenüber bedeutet, werden eigene vom empathielosen, unreflektierten Subjekt nicht zugelassene Empfindungen dem prospektiven Objekt zugeschrieben (SALZBORN 2010, S. 310). Die Funktion des „Juden“ kann in der gegenwärtigen antisemitischen Phantasie Ungarns prinzipiell fast jeder einnehmen. Durch die umfassende Weltanschauung, die der Antisemitismus liefert, vermögen die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen durch die Wutprojektion in einer destruktiven, negativen Integration zueinander zu finden. So kann das wahnhafte Phantasma mit seiner entstellenden Wirklichkeit zur Norm werden. Deren Ziel ist dann die Herstellung einer vorgestellten völkischen Homogenität, deren Versprechen nur mit der Entfernung oder Vernichtung der als nicht-identisch fantasierten Menschen erfüllbar zu sein scheint, aber die Vernichtung der abstrakten Möglichkeit von Nicht-Identität und Ambivalenz auf jeden Fall mit einschließt (HOLZ 2001, S. 186, 289; SALZBORN 2010, S. 188). Als Alltagsreligion existiert „völkische Harmonie“ nur in der diesseitigen Metaphysik, auch Spiritualismus genannt, weshalb „Nationalgläubige“ (Selbstbezeichnung der Völkischen in Ungarn) einerseits immer größere, ja zwanghafte Anstrengungen unternehmen, diese nachzuweisen. Andererseits wächst auch das Lager derer, denen, als vermeintlich Nicht-Identischen, die Lebensgrundlage entzogen wird.

In dieser Arbeit werden zunächst die Entwicklung der homogenisierenden Negationsbegriffe „Volk“ und „Nation“, dann die Ursprünge und die Anfänge der ungarischen völkischen Esoterik nach 1920 und die Grundzüge der Ideologie aufgezeigt. Hierbei bieten Beispiele aus den Oeuvres der „Kosmiker“ Béla Hamvas (1897–1968) und Ferenc Badiny-Jós (1909–2007) wichtige Anhaltspunkte. Den Aufschwung der Esoterik im Realsozialismus und der Zeit nach der Wende 1989 bedeutete die erneute Intensivierung der antimodernen Gegenkultur. Institutionalisiert wurde der metaphysische Spiritualismus während der ersten Orbán-Regierung (1998–2002). Seit dem großen Wahlsieg der gegenwärtigen Regierungskoalition 2010 fand der metaphysische Spiritualismus Eingang in die Gesetzestexte, so auch ins Grundgesetz Ungarns (01.01.2012) und bildet nun die Grundlage der destruktiven Integration der Gegenwartspolitik.

2 Entwicklung der homogenisierenden Negationsbegriffe „Volk“ und „völkische Harmonie“ in Ungarn

Ungarn gehört zu den Ländern Mitteleuropas, in denen nach der Aufklärung nicht das Konzept der politischen Nation mit dem Ansatz der universalen Menschenrechte, sondern die exkludierende Vorstellung von ethnisch homogenen Nationalstaaten Fuß fasste. Als Teil der tradierten Ideengeschichte des deutsch-österreichischen Kulturraumes entwickelte sich eine völkische Weltanschauung, in der seit dem 19. Jahrhundert „Volk“ und „Nation“ – wie im deutschen Verständnis – als Art‑, Ahnen‑, Blut- oder Rassengemeinschaft verstanden wurden. Wie bereits nachgewiesen (HROCH 2002, S. 17, 2005, S. 12), sind der Ausdruck „Volk“ und die relevanten Ausdrücke in Mittelosteuropa (slav.: „narod“, ung.: „nép“) – in Anlehnung an den Volks- und Nationsbegriff des deutschen Idealismus – semantisch mit dem Wort „gens“ verwandt. Sie sind auch im Ungarischen ethnisierend, damit auch homogenisierend, und implizieren eine abstammungsorientierte, gentilistische und rassisierende Sicht (HANÁK 1993, S. 227).

Im Gegensatz zum wenig – im Sinne von „demos“ – gebräuchlichen pluralistischen Begriff „Bevölkerung“ (ung.: lakosság), der Diversität wiederspiegelt, wird in „Volk“ (ung.: nép) auch im Ungarischen das Individuum nur als Teil einer Gemeinschaft verstanden, aber nicht als autonomes Subjekt. Von diesem semantischen Zusammenhang wird die Gedankenwelt Ungarns bis in die Gegenwart beeinflusst, Footnote 1worüber in Ungarn nur ganz selten reflektiert wird (BIBÓ 1986, S. 615; CSEPELI 2001, S. 34).

In der allgemein verbreiteten projektiven Wahrnehmung vergesellschafteter Individuen wirken „Volk“ und „Nation“ in Ungarn auch heute als „Mutterimago“ und drücken in der kulturpessimistischen Gesellschaft die Sehnsucht nach Geborgenheit aus, so dass sie als gesellschaftliche Klammer fungieren. Bis in die Gegenwart hinein wird – sowohl in der Fidesz-Regierung (zwischen 1998–2002 und seit 2010 an der Macht) als auch im größten Teil der Opposition (MARSOVSZKY 2021a, S. 267ff.) – im Namen von „Volk“ und „Nation“ politisiert. Da diese vorgestellte (homogene) nationale Identität nur über die permanente Konstruktion von Fremden und die Suche nach vermeintlichen Feinden gestärkt werden kann, ist die imaginierte völkische Harmonie von Verfolgung und von der Angst, verfolgt zu werden, nicht zu trennen.

„Volk“ und „Nation“ sind im Ungarischen bis heute Negationsbegriffe, zu denen sich im traditionellen konservativen Denken auch die „Christlichkeit“ gesellt; ihnen allen haftet im kollektiven Gedächtnis die Bedeutung von „nicht-jüdisch“ an (LUKACS, 1999, S. 99), so dass sie eine destruktive, negative Integration herbeiführen.

3 Ursprünge und Grundstrukturen der ungarischen völkischen Esoterik

Die Ursprünge der völkischen Esoterik reichen ins 19. Jahrhundert zurück. Theosophie und Ariosophie sind hier zu erwähnende Stichworte, die zusammen mit den östlichen Religionen, wie dem Hinduismus und dem Buddhismus (DOERING-MANNTEUFFEL 2011; Pos. 1498) einen neuen diesseitig-religiösen, spirituellen Synkretismus schufen. Grundlage dieses religiösen Sykretismus ist der Glaube an die so genannte Philosophia perennis, eine ewig gültige, immerwährende Philosophie, die einen gemeinsamen Ursprung aller Philosophien und Religionen postuliert (DOERING-MANNTEUFFEL 2011; Pos. 291–294).Footnote 2 Die völkische Esoterik hat nichts mit Geisterbeschwörung zu tun, sondern ist eine antiliberale, gegenaufklärerische, anti- und gegenmoderne ideologischeFootnote 3 Richtung, in der der Mensch selbst durch die Transformation seines Bewusstseins für das Erwachen zuständig ist, aber die Führung auf dem Weg zur Erlösung einem bereits erlösten spirituellen Meister oder Führer überlässt. Es geht in ihr also um Meister-Schüler-Verhältnisse, um Heiler und Erlöser und um deren weltanschauliche Modelle (DOERING-MANNTEUFFEL 2011; Pos. 265). In dieser Ideologie werden entlehnte Kategorien und Begriffe aus den Naturwissenschaften mit denen aus dem Sozialdarwinismus vermischt und versucht, den Menschen in das Zusammenhanggeflecht zwischen der Natur und dem Kosmos zu platzieren. Hinzu kommt auch die Rassenlehre (oder die Ahnenlehre, der Ahnenkult), mit deren Hilfe die Menschheit hierarchisiert und „Lebenswerte“ von „Lebensunwerten“ (genannt Tschandalen)Footnote 4 voneinander unterschieden werden.

Der wichtigste Unterschied zwischen dem völkisch-nationalen und dem völkisch-esoterischen Denken ist es, dass im ersten auf die vermeintliche Abstammung in einem bestimmten geographischen Gebiet konzentriert, während im zweiten die vermeintliche Abstammung aus dem kosmischen Bereich abgeleitet wird. Völkische Esoteriker werden daher auch „Kosmiker“ genannt, so z. B. die Intellektuellengruppe in München Anfang des 20. Jahrhunderts (GRÄFE 2015).

Zentrale Metapher ist in ihr das „Blut“, Grundlage der Imagination einer gemeinsamen, blutmäßigen Abstammung und der angestrebten „Reinheit des Blutes“. Doch auch die „Blutsgemeinschaft“ ist eine Fiktion, eine „Religion des Blutes“ (ROSENBERG 1930, S. 14), in der die Zugehörigkeit nicht auf anthropologische Merkmale, sondern auf die „vereinte Seelenkraft“ und die „Mission …, jeden Menschen … zum Magyaren [zu] veredeln“ (KARÁCSONY 1985, S. 42) zurückgeführt und durch das voluntaristisch anmutende „Glaubensbekenntnis“ bekräftigt wird.

Typisch in der völkischen Esoterik ist die durch das religiöse Geheimwissen der Gnosis (WEGENER 2014, S. 80ff) befeuerte dualistische Sicht (Gut-Böse, Licht-Dunkel, Chaos-Ordnung) und der damit einhergehenden immerwährenden Suche nach dem Bösen, um sich – in Abgrenzung von ihm – als das Gute definieren zu können.

Damit hängen die Sehnsucht nach einer „reinigenden Veredelung“ der Gesellschaft und der Menschheit und die zyklische Auffassung der Weltgeschichte zusammen, nach der die Welt alle paar tausend Jahre einen apokalyptischen Untergang erlebe, und darauffolgend – quasi angeleitet von der Philosophia perennis, die konstant bleibe – die „Lebenswerten“ in einer Reinkarnation wiederauferstehen, die „Lebensunwerten“ aber untergehen würden. Dass dabei das „Aussterben“ mancher Menschengruppen eine „karmische Notwendigkeit“ sei, war die folgenreiche Idee der russischen Theosophin Helena Petrovna BLAVATSKY (1831–1891) (BLAVATSKY o.J.). Die Sehnsucht nach dem „Wiederauferstehen“ oder „Erwachen“ ist gleich mit der nach einem kosmischen Endkampf, der den Wunsch nach der Realisierung sozialdarwinistischer Ordnungsprinzipien bedeutet. Somit ist das Ziel der völkischen Esoterik gleich mit der Vorstellung eines (mit heutigem Begriff) weißen Suprematismus. In Texten der Vordenker der ungarischen völkischen Esoterik der 1930-er Jahre steht dafür auch der Begriff „übervölkische metaphysisch-geistige Gemeinschaft“ (GEIGER 1935, S. 41). Mit „übervölkisch“ ist (mit heutigem Begriff) der Ethnopuralismus oder ein „Europa der Nationen“ gemeint, was nach GRIFFIN (1993, S. 171) ein faschistisches Konzept ist.

Dass diese Quasi- oder Alltagsreligion, dieser Spiritualismus mit dem Christentum unvereinbar ist, kann in vier Punkten zusammengefasst werden. Erstens wird in ihm statt christlicher Nächstenliebe „Artenliebe“ propagiert. Zweitens verkehrt er die christliche Erlösungslehre radikal in ihr Gegenteil, weil er aus der kulturpessimistischen Annahme ausgeht, dass die Gegenwart degeneriert weil entspiritualisiert sei, weshalb die christliche Erlösung versagt hätte und die Welt durch einen „neuen Erlöser“ (spirituellen Führer, Erneuerer der Erde) erneut erlöst werden müsse. Drittens bedeutet in ihm die Erlösung – im Gegensatz zur christlichen Eschatologie – nicht die Befreiung von den Sünden nach dem Tode, sondern die Reinkarnation, an der aber nur die „Lebenswerten“ teilhaben können (MARSOVSZKY 2018, S. 500). Auch wird in ihm das Christentum von seiner jüdischen Herkunft „gereinigt“, selbst Jesus erscheint „entjudet“ als „parthischer Prinz“ und Arier.

4 Anfänge der ungarischen völkischen Esoterik nach 1920

Die ungarische völkische Esoterik steht sowohl in der Tradition der Theosophie Blavatskys als auch in der des Rassenmystikers, Ariosophen und Vordenkers der Los-von-Rom-Bewegung der Habsburgermonarchie um 1900 (TRAUNER 1999, S. 207), Jörg Lanz von Liebenfels (1874–1954), der zwischen 1918 und 1933 in Ungarn lebte, seine Thesen über die „sakrale Menschenreinzucht“ verbreitete (GOODRICK-CLARKE 2006, S. 107), und dessen Nachfolger in Ungarn im Pilis-Gebirge, dem vermeintlichen sakralen Zentrum (Chakra) der Welt, auch heute unzählige spirituelle Zentren betreiben.

Nach 1920 erlebte die Theosophie einen Aufschwung ohne gleichen. Im Ersten Weltkrieg auf der Verliererseite wurden Ungarn im Sinne des Vertrags von Trianon bei Versailles zwei Drittel seiner Gebiete den Nachbarländern zugesprochen. Der Irredentismus bestimmte danach nicht nur Ungarns Politik zwischen den beiden Weltkriegen, sondern war auch nach 1945, im Realsozialismus lebendig geblieben und bestimmt seit der Wende 1989 bis heute die Politik aller rechtskonservativen Regierungen. Im Geschichtsbild des rechten politischen Spektrums – auch in dem der gegenwärtigen Regierung – wird der Vertrag als „Friedensdiktat“ gedeutet (MAGYAR NEMZET 2020) und ist Anknüpfungspunkt einer Dolchstoßlegende (SEMJÉN 2011), in der das „Magyarentum“ als Opfer erscheint.

1921 erschien in einer irredentistischen Zeitschrift ein folgenreiches kleines Gedicht mit dem Titel „Magyarisches Glaubensbekenntnis“, das aus nur vier Zeilen besteht:

Ich glaube an den einen Gott,

Ich glaube an die eine Heimat:

Ich glaube an die eine ewige göttliche Wahrheit,

Ich glaube an die Auferstehung des Magyarenlandes. Amen! (SZIKLAY-PAPP-VÁRY 1921).Footnote 5

Im Alltag „Nationales Glaubensbekenntnis“ genannt, musste es zwischen den beiden Weltkriegen in jeder Schule morgens aufgesagt werden. Die Dichterin des kleines Gedichtes war eine treue und praktizierende Anhängerin der ungarischen Theosophie in den 1920-er Jahren, beschwor den kosmischen Endkampf, und ihre Gedichte waren voller Sehnsucht nach dem die Gesellschaft reinigenden apokalyptischen Untergang und dem der reinkarnativ-nationalen Erwachung (PELLE 2015). Ihr Logos war ein säkulaisierter.

Weitere wichtige Vordenker der ungarischen völkischen Esoterik waren u. A. der französische Metaphysiker René Guénon (1856–1951), die deutschen Philosophen Oswald Spengler (1880–1936), Leopold Ziegler (1881–1958), der politische Philosoph Carl Schmitt (1888–1985), der italienische Kulturphilosoph, Berater von Mussolini und Anhänger von Himmler und der SS, Julius Evola (1898–1974) und der österreichische Philosoph, Alfred Geiger (Lebensdaten unbekannt).Footnote 6

Der heute in Ungarn äußerst beliebte Julius Evola, der zwischen 1936 und 1942 öfters Vortragsreisen ins Land unternahm, für den „kulturellen Niedergang“ Europas das „demokratische Übel“ als „semitisches Gift“ und das Fehlen von „Führer-Wesen“ verantwortlich machte (EVOLA 1933, S. 2), wurde durch den wichtigsten Denker der völkischen Esoterik, den heute ebenfalls äußerst beliebten Schriftsteller Béla Hamvas bekannt.

5 Béla Hamvas (1897–1968)

Hamvas, schon zu Lebzeiten, aber erst recht nach seinem Tod als spiritueller Meister betrachtet, publizierte zwar bereits zwischen den beiden Weltkriegen mit der Hoffnung auf „Vertiefung des deutschen und italienischen Geistes“ im Sinne von Evola (HAMVAS 1942), seine Thesen erfuhren aber erst in den 1960-er Jahren, also im Realsozialismus eine weite Verbreitung. Er knüpfte mit seiner Arbeit nach Kriegsende, bereits ab Herbst 1945 genau da an, wo er zuvor aufgehört hatte, wollte er doch zusammen mit seinen Mitstreiter*innen eine ungarische „Kosmiker-Gruppe“ nach dem Muster des deutschen George-Kreises aufbauen, der als spirituelle Führungselite die Gesellschaft dazu verhelfen sollte, aus der entspiritualisierten, gesunkenen und degenerierten Gegenwart zu entkommen und zur spirituellen, kosmischen „heiligen Ordnung“ (primordialer, arischer Urzustand) zurück zu gelangen. Als hermetische Kultgemeinschaft sollte der Kreis von aristokratischen Auserwählten, quasi als Elitegarde, die Führungsaufgabe innehaben, Ungarn zur kollektiven Erlösung zu führen und spirituell-metaphysisch (arisch) zu transformieren (HAMVAS 2005, S. 283–287).

Wie seine Vordenker*innen, stand auch Hamvas den traditionellen und konfessionellen Gottesvorstellungen kritisch gegenüber, deutete die dunkle und aussichtslose Gegenwart als Herausfallen und Absinken aus dem goldenen (arischen) Zeitalter und war von der Notwendigkeit einer andersartigen Religion überzeugt, die die Gesellschaft spiritualisiere. Deshalb näherte auch er sich dem Buddhismus und dem Hinduismus, war ein Anhänger des asiatischen Kollektivismus, lehnte die Evolutionstheorie ab und stellte eine „archaisch-kosmische Anthropologie“ auf. Den Ursprung der Menschheit führte er auf die Zeit einer vermeintlichen goldenen „kosmischen“ Urharmonie, bzw. einer „ur-arischen“ (nordischen/borealen), kosmischen Ordnung zurück und bettete das Christentum (in Anlehnung an Leopold Ziegler [HAMVAS 1966]) im Sinne der Philosophia perennis in diese primordiale Ordnung ein, das heißt, dass die Urwahrheit bei ihm über dem Christentum stand. Um das zu verdeutlichen, hört man heute immer wieder das Gleichnis: das Obst sei hierbei die Idee, die Theorie, die alles umhüllende uranfängliche (primordiale) Wahrheit und Ordnung (das okkult Esoterische), während der Kern die aktuelle Religion oder die aktuelle Politik (das sichtbar Exoterische), die Praxis also, an die die Idee zu ihrer Umsetzung delegiert werde.

Hamvas deutete die Humanisierung als Entartung und war ein entschiedener Gegner der modernen, kritischen Wissenschaft und der Demokratie. Die „heilige Wissenschaft“ (Scientia Sacra) war für ihn die gegendemokratische, gegenmoderne Wissenschaft (HAMVAS 2000), so dass er auch „den Gegenprozess zur Aufklärung“ (HAMVAS 1966, S. 65) forderte. Er entwickelte das Ideal eines männlich-hierarchischen Staates, in dem die Authentizität der Frau nur in der Relation zum Mann, als Ehefrau, als Mutter oder als spirituell-mythische Jungfrau (Sophienmystik [LATOUR 2001, S. 141]) gegeben ist. Die „fleischliche“ Wirklichkeit der autonomen Frau und der „weibliche Mann“ (Homosexualität) werden in diesem Ideal als „entartet“ interpretiert. Sein antisemitischer Antikapitalismus, in dem er seine Unzufriedenheit auf die für die zerstörerische „korrupte Verweltlichung“ verantwortlichen „Banken“ und „Großindustrie“ (Synonyme für den „Juden“) projizierte (SALZBORN 2010, S. 163; HAMVAS 2002/I, S. 162), sein antisemitischer Antikommunismus, in dem er den „Materialismus“, den „Sozialismus“ und den „Kommunismus“ als kosmopolitisch (synonym für „verjudet“) ablehnte und mit dem Faschismus gleichsetzte (HAMVAS 2004, S. 89, 95) führten zu einer ausgeprägten Diversitätsfeindlichkeit. Den permanenten Kreislauf von apokalyptischem Untergang und arischer Reinkarnation nannte er in seinem Hauptwerk (Scientia Sacra) „Samsara“ und als deren Symbol „Swastika“ (HAMVAS 2000, S. 316, 265). Hamvas glaubte an einen „säkularisierten Logos“ (HAMVAS 1941, S. 376–377).

Wie seine Vorgänger*innen ging er davon aus, dass es Gruppen von „niederen Menschen“ und „Überresten“ oder Menschen mit einem „simplen Bewusstsein“ gäbe, die für die Allgemeinheit quasi nicht zu gebrauchen seien. Lebensunwerte waren bei ihm erstens die Rom*nja, er nannte das „Zigeunertum“ eine „Tschandala“, bzw. Abschaum (HAMVAS 2002/II, S. 86f). Seine elitistische Kulturauffassung hinderte ihn nicht daran, auch die gesellschaftliche Elite, im Sinne der „herrschenden Klasse“ zur kastenlosen Tschandala zu zählen. Er zeigte also nicht nur nach unten auf der gesellschaftlichen Rangliste, sondern auch nach oben, auf die „Elite“ (Synonym für den „Juden“) mit Zuschreibungen. Seine Elitenfeindlichkeit kam in der Zuschreibung von „parasitärer Übermensch-Tschandala“Footnote 7 (HAMVAS: 2002/I, S. 162) zum Ausdruck. Die Elite sei ein korrupter Mob (korrupt ist hier gleich mit entartet und degeneriert), der durch sein Geld, seine Gier (synonym für „verjudet“) alles beherrsche.

Seine zentrale These war, dass „auf der ganzen Welt eine vollkommen neue „sechste Rasse“ (die Bezeichnung bedeutet seit der Theosophie Blavatskys die „arische Rasse“) am Entstehen sei“.

Auf der ganzen Erde … [ist] … eine vollkommen neue, sechste Menschenrasse am Entstehen. Die New Race – also die Entwicklung der neuen Menschenrasse, ihre Entstehung und ihre Entfaltung, ist ein unbegreiflich großes Mysterium (HAMVAS 1943, S. 28).

6 Realsozialismus: De-Politisierung oder Kontinuität der antimodernen Gegenkultur der Vorkriegszeit?

Ungarische Soziolog*innen der Gegenwart beschreiben die Zeit zwischen 1945 und 1989 so, dass unter dem Druck des autoritären Realsozialismus in der Gesellschaft eine Tendenz zur De-Politisierung und zur Des-Ideologisierung der Lebensbereiche erfolgte, was zugleich dazu geführt hätte, dass pragmatische Werte in den Vordergrund getreten seien (CSEPELI 2001, S. 36). In dieser Arbeit wird jedoch im Gegensatz zu dieser These behauptet, dass sich damals wieder einmal die innere Dynamik der autoritären Gegenkultur – mit der Flucht in die „Alltagsreligion Esoterik“ – intensivierte. Wieder einmal, denn die ideologische Kontinuität wurde – bis auf wenige Versuche, wie bei BIBÓ (1986) – gar nicht unterbrochen.

Nach 1945 gelangte Ungarn in den unmittelbaren Einflussbereich der stalinistischen, marxistischen Orthodoxie, die aber ebenfalls autoritär war, so dass auch die völkische Ideologie weiter lebte. Selbst der „Antifaschismus“ war in den realsozialistischen Ländern, so auch in Ungarn, „national“ (PUFELSKA 2011, S. 281). Während beispielsweise in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik nach und nach die Ansätze der Kritischen Theorie Fuß fassten, erfuhr in Ungarn die völkische Esoterik eine Intensivierung ohne Gleichen.

Hamvas’ Lehren, seine antimoderne/gegenmoderne, antidemokratische Haltung verbreiteten sich stetig und infiltrierten die Gesellschaft. Er wurde zu einem der beliebtesten Autoren der nach einer neuen geistigen Orientierung suchenden oppositionellen Intelligenz im Realsozialismus. Nach seinem Tode entwickelte sich eine regelrechte subkulturelle Hamvas-Bewegung in Ungarn, seine Thesen wurden in den 1980-er Jahren bereits in konspirativen Privatwohnungen gelehrt und seine Schriften als Samisdat-Vervielfältigungen (Eigenausgabe) verbreitet. Auch der harte Kern der Gründungsmitglieder der heutigen Regierungspartei Fidesz, sowie die Vordenker der heutigen, 2003 – auf den Vorschlag von Fidesz (KOOB/MARX/MARSOVSZKY 2013, S. 32) – gegründeten neurechten (neurechts im Sinne von antiliberal und gegenmodern [FÜCHS/BECKER 2020]) Partei JobbikFootnote 8 studierten in den 1980er-Jahren Hamvas’ Werke intensiv.

Der wichtigste Hamvas-Nachfolger, der mit Hamvas noch regen Kontakt hatte und bereits vor der Wende 1989 in überfüllten Kirchen regelmäßig Vorträge über Metapolitik (z. B. LÁSZLÓ 1999) hielt, ist der sowohl von der Regierung als auch von Jobbik geschätzte Philosoph András László (*1941). Weitere bekannte so genannte Hamvaschisten sind u. A. der Ökonom, László Bogár (*1951), Berater des Ministerpräsidenten während der ersten Orbán-Regierung (1998–2002) und heute ebenfalls wichtiger regierungs- und Jobbik-naher Stratege, der Philosoph, Ferenc Buji (*1962), der 2015 von der Orbán-Regierung das Ritterkreuz des Ungarischen Verdienstordens verliehen bekam, sowie der Philosoph und Berater von Jobbik, Imre Baranyi (*1967). Sie sind allesamt Lehrer an der 2012 von Jobbik gegründeten und seit 2016 im Untergrund tätigen neurechten „Akademie für Nationalstrategie und Geisteswissenschaft für die Heranbildung eines neurechten Nachwuchses“ Atilla Király (König Atilla),Footnote 9 an der die Werke von Hamvas Pflichtlektüre sind. Der gegenwärtige Verfassungsrichter Béla Pokol (*1950) ist zwar kein Lehrer an der genannten Hochschule, doch seine zum Teil auch in Deutsch erschienenen Publikationen sind dort als Pflichtlektüre angegeben (vgl. POKOL 2008, 2011).Footnote 10 Als erste Konklusion kann also festgehalten werden, dass sich das neurechte Gedankengut bereits in den 1980er-Jahren und vor allem in den Kreisen etablierte, aus denen sich später die Politiker*innen der heutigen Parteien Fidesz und Jobbik rekrutierten.

7 Ferenc Badiny-Jós (1909–2007)

Erwähnt werden muss der nach der Wende, in den 1990er-Jahren aus dem argentinischen Exil zurückgekehrte Orientalist und Kosmologe, Ferenc Badiny-Jós, ebenfalls eine Art spiritueller Meister, der den „Jesus des Magyarentums“ zu einem „parthischen Prinzen“ (einem Arier aus Persien) erklärte und das Christentum „magyarisierte“, indem er es von seinen jüdischen Wurzeln „befreite“ (BADINY-JÓS 1998, S. 150). Weil er das Vatikan für „judaistisch“ hielt, gründete er die allmagyarisch-völkisch-ariosophisch orientierte „Magyarische Kirche“ (KOVÁCS 2017, S. 293), eine Aktualisierung der Los-von-Rom-Bewegung. 1997 gründete er an einer Privatuniversität in Ungarn (BOON.hu 2009) die Fakultät für Humanwissenschaften, die er bis zu seinem Tod als Professor leitete. Seine Nachfolgerin im Amt, eine ehemalige Studentin und Anhängerin, Dr. Ágnes Gyárfás, die auch das noch von ihrem Meister im Exil gegründete Periodikum „Ösi gyökér“ (Wurzeln der Ahnen) als Nachfolgerin editiert, bekam von der Fidesz-Regierung das Ritterkreuz des Verdienstordens von Ungarn (KOLOZSI 2021). Badiny-Jós’ Werke werden im Fernsehen und an Regierungsportalen propagiert (AHNENFORSCHUNGSINSTITUT 2021).

8 Institutionalisierung und Verbreitung des metaphysischen Spiritualismus

Institutionalisiert wurde die Pflege von Hamvas’ geistigem Erbe durch die erste Fidesz-Regierung (1998–2002), als im Jahre 2000 das „Institut für Kulturforschung Béla Hamvas“ in Budapest eröffnet wurde.Footnote 11 In der Zeit zwischen 2002 und 2010, als Fidesz in der Opposition war, wurde Hamvas’ Oeuvre in den Fidesz und Jobbik nahen Medien derart intensiv propagiert, dass man sich ihm nicht entziehen konnte.

Heute gilt Hamvas allgemein als unumstrittene Größe in Ungarns Literaturlandschaft, er ist einer der beliebtesten Autor*innen überhaupt, dessen Werke nicht nur an der genannten Elite-Akademie der neurechten Partei Jobbik Pflichtlektüre sind, sondern auch an Universitäten gelehrt und im nationalen Lehrplan empfohlen werden (IVÁNKAI 2019).

Hamvas’ Werke gelten auch bei Christen (HAMVAS/BULÁNYI/FARAGÓ o.J.) und bei Linksalternativen als Geheimtipp (SZEMZÖ 2001; ARTNER 2019). Kritisch reflektiert wird sein Oeuvre nicht.

Hamvas wird in Ungarn allgemein für antinational-universalistisch gehalten, doch es ist wichtig festzustellen, dass der in seinem Kontext oft verwendete Begriff „Universalismus“ mit dem universalen menschenrechtlich-emanzipatorischen oder christlichen Ansatz nicht identisch ist. Vielmehr stehen wir hier einer identitären (im Sinne von gegenaufklärerisch, antiemanzipatorisch), diesseitigen, spirituellen Metapolitik gegenüber, in der der antiemanzipatorische Ansatz universalisiert wird. Ziel ist die Transformierung der eigenen Gesellschaft und die Neuordnung Europas und der Welt überhaupt. Dieses Messianistische kann mit SALZBORN (2014, S. 240) „messianistischer Antiuniversalismus“ genannt werden.

Der vor allem in subkulturellen esoterischen Vereinen propagierte Badiny-Jós wird erst seit einigen Jahren in den regierungsnahen Medien und Portalen bevorzugt behandelt.

Die Tradition der Gegenkultur, der Modernisierungs- und Schuldabwehr und die des Opfermythos in der ungarischen Gesellschaft hat viel mit der völkischen Esoterik zu tun.

Bereits 2008 war es das deklarierte Ziel der Konservativen Ungarns, im Falle eines Wahlsieges die Nation auf spirituelle Grundlagen zu stellen und die Verfassung zu ändern (BOGÁR 2008, S. 243; TÓTH 2008, S. 179).

9 Metaphysischer Spiritualismus im Grundgesetz Ungarns

Die Parlamentswahlen 2010 führten in Ungarn zum Sieg der gegenwärtigen Koalition der Parteien Fidesz und Christdemokraten (KDNP). Ihre bequeme zweidrittel Mehrheit ermöglichte die Abschaffung der alten Verfassung und die Verabschiedung des Grundgesetzes,Footnote 12 seit 01.01.2012 in Kraft (GRUNDGESETZ 2012), in das die völkische Esoterik ebenfalls Eingang fand.

Drei Punkte sind im Hinblick auf die Esoterik besonders wichtig:

  1. 1.

    Der Titel des neuen Grundgesetzes ist „Nationales Glaubensbekenntnis“. Dass es sich in ihm nicht um das christlich-apostolische Glaubensbekenntnis und um die Auferstehung Christi, sondern um das Erwachen der Nation handelt, wird durch den schon dargestellten Zusammenhang mit seiner theosophischen Provenienz klar. Die Wahl des Titels des bereits erwähnten irredentistischen Gedichts für das neue Grundgesetz bedeutet für diese Regierung Auftrag und Mission zugleich, wird doch aus ihm auch heutzutage immer gerne – vor allem vom Parlamentspräsidenten – zitiert (BARANYAI 2020), und – vor allem vom Ministerpräsidenten – die „Berufung, ein Magyare zu sein“, betont (ORBÁN 2021). Darüber, dass dieser Logos ein säkularisierter ist, wird auch unter Kritiker*innen kaum reflektiert.

  2. 2.

    Der Untertitel des Grundgesetzes „Gott segne den Magyaren“ ist die erste Zeile der ungarischen Hymne (1923) des Dichters Ferenc Kölcsey (1790–1838). Kölcsey meinte nicht „die Ungarn“ in Plural (wie es in der offiziellen Übersetzung steht), sondern „den Magyaren“ im ethnischen Sinne, in Einzahl, als homogene Entität. Stark beeinflusst von Kants Verständnis von Volk und Nation (GURKA 2015) ging Kölcsey ebenfalls davon aus, dass die Magyaren eine Abstammungsgemeinschaft seien. Im Untertitel geht es also nicht um Individuen als autonome Subjekte, sondern um das ethnisch-völkisch gedachte, metaphysische Magyarentum (als kulturelle und blutmäßige Abstammungsgemeinschaft, als Volksgemeinschaft der Magyaren).

  3. 3.

    Dass das Grundgesetz nicht „Verfassung“ genannt wird, hat einen einfachen Grund: diese Bezeichnung wird schon durch die sogenannte „historische Verfassung“, Footnote 13zentrales Element in der Präambel, besetzt. Dort heißt es:

Wir halten die Errungenschaften unserer historischen Verfassung und die Heilige Krone in Ehren, die die verfassungsmäßige staatliche Kontinuität Ungarns und die Einheit der Nation verkörpern. Wir bekennen uns dazu, dass der Schutz unserer in unserer historischen Verfassung verwurzelten Identität eine grundsätzliche Pflicht des Staates ist. Wir erkennen die infolge der Besetzung durch fremde Mächte eingetretene Aufhebung unserer historischen Verfassung nicht an (GRUNDGESETZ 2020).Footnote 14

In der Präambel von Ungarns höchstem Gesetz, dem Grundgesetz, wird also an zentraler Stelle die so genannte „historische Verfassung“ erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt. Aus dem Gesetzestext wird nur so viel klar, dass sie für die konstitutionelle Selbstidentität des Landes von grundlegendem Wert ist.

Die nähere Erklärung ist in anderen Publikationen der Regierung zu entdecken. Demnach wird die konstitutionelle Selbstidentität des Landes nicht vom Grundgesetz geschaffen, sondern von der im Grundgesetz erwähnten „historischen Verfassung“, die also – quasi als alles umhüllende, für die Allgemeinheit nicht erkennbare (okkulte), aber für eine hermetische (Glaubens‑)Gemeinschaft sehr wohl verstehbare und nachvollziehbare Idee der ewiggültigen primordialen Wahrheit – für die Stärkung der inneren, nationalen Identität wichtig sei, während das Grundgesetz die Werte der „Europäisierung“ zum Ausdruck bringe, sei also für den pragmatischen auswärtigen Gebrauch in der EU bestimmt (TRÓCSÁNYI 2021, S. 28–29; MARSOVSZKY 2021b).

Was aber ist diese „historische Verfassung“, die für die Selbstidentität des Landes so wichtig ist, aber nirgends ausgeführt und deshalb für Außenstehende so geheimnisvoll okkult erscheint?

Diese so genannte „historische Verfassung“, woanders auch „tausendjährige Verfassung“ (SZÁJER 2021, S. 235) oder „Lehre der heiligen ungarischen Krone“Footnote 15 genannt, ist – mit wissenschaftlichem Abstand beschrieben – eine seit dem 19. Jahrhundert esoterisch ausgerichtete Sammlung von (vermeintlich) historisch gewachsenen Traditionen und traditionellen Deutungen von Recht und Ordnung im Karpatenbecken (PÉTER 2012), sowie von Mythen, Legenden und Heldengeschichten, deren vermeintliche Ursprünge auf das Nomadentum, in das „sagenumwobene Skythien“ oder ins antike Persien zurückgeführt werden (MARSOVSZKY 2021b).

Mit der Deutung der „historischen Verfassung“ knüpft die Regierung deklariert und bewusst an die Zwischenkriegszeit und an die des Dualismus zur Zeit der Habsburgermonarchie an (MARSOVSZKY 2021b).

Damals wie heute ist das Symbol der „historischen Verfassung“ das heute im Parlamentsgebäude in Budapest ausgestellte Krönungsdiadem aus dem 11. Jahrhundert, seit dem Mittelalter „heilige Krone“ genannt. Im 19. Jahrhundert erfuhr ihre ursprünglich christliche Deutung eine völkische Wendung, wurde rassisch aufgeladen und stand fortan für die „Hegemonie der magyarischen Rasse“ im Karpatenbecken (MARSOVSZKY 2021b). In der Zwischenkriegszeit blieb diese Deutung erhalten. Damals wurde in Ungarn die Konstruktion eines „spirituellen Königreichs“ entwickelt, in dem die Staatsgewalt bei dem metaphysisch aufgeladenen Gegenstand, der „heiligen Krone“ als göttlich-persönlichen Obrigkeit lag, während das jeweilige Staatsoberhaupt die Staatsgewalt nur als zeitweiliger Verweser innehatte. Dieses spirituelle Königreich war zugleich eine revanchistische Konstruktion, denn die infolge des Trianon-Vertrages verlorenen Gebiete im Karpatenbecken gehörten dazu. „Kronengebiet“ bedeutet auch für die heutige Regierung zugleich „Großungarn“, zu dem die infolge des Trianon-Vertrages verlorenen Gebiete im Karpatenbecken dazu gehören (SZÁJER 2021, S. 237).

Im Zuge der Intensivierung des Esoterismus’ im Realsozialismus (1945–1989) und nach der Wende 1989/1990 verbreitete sich erneut die – im 19. Jahrhundert wurzelnde und mit der organischen Staatstheorie zusammenhängende – Ansicht (SARLÓS 1960), dass die „heilige Krone“ nicht nur ein Symbol, sondern geradezu „eine Persönlichkeit“ sei, die als „Hüterin der magyarischen Nation“ (ZÉTÉNYI 1997) auch Trost zu spenden vermag (MARSOVSZKY 2010a, S. 79). Manche Abgeordnete bekreuzigen sich heute, wenn sie im Parlament am ausgestellten Diadem vorbeigehen (MATÚZ-SIKLÓSI 2008, S. 1:12). Heute wird die „heilige Krone“ – in Anlehnung an HAMVAS (2004, S. 127–163) und BADINY-JÓS (1998) – auch „Nordische Krone/Corona Borealis“ genannt (BARANYI 2003, S. 8–9), weil sie vermeintlich kosmische Impulse weiterleite.

Die gegenwärtige Regierung geht aber noch weiter und konstruiert aus diesem esoterisch-mythischen Kultgegenstand nicht nur eine anzubetende, sondern auch eine „juristische Persönlichkeit“ (ORBÁN/SZALAI 2021, S.4), ein „Rechtssubjekt“, nach der alle verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes zu interpretieren sind (MARSOVSZKY 2021b).

So kann konstatiert werden, dass die Quelle allen ungarischen Rechts (die „heilige Krone“) ein metaphysisch aufgeladener, mythischer Kultgegenstand ist, der wiederum einen weiteren Mythos (die „historische Verfassung“) symbolisiert und alle verfassungsrechtlichen Bestimmungen des Grundgesetzes im Einklang mit ihnen und mit der theosophisch-irredentistischen Idee („nationales Glaubensbekenntnis“) zu interpretieren sind. Der Staatsrechtler, der die „heilige Krone“ mit dem Rassencharakter der Magyaren verknüpfte, ist für die ungarische Regierung eine unumstrittene Größe (CONCHA 1890, S. 246; MARSOVSZKY 2021b).

Die „heilige Krone“, die der „Vermittler der von Gott stammenden irdischen Macht“ sei, wie es ebenfalls im offiziellen Statement der Regierung steht (HORVÁTH 2021, S. 115), verkörpert also nicht den universalen Gott der Gnade und der Nächstenliebe, sondern den säkularisierten Logos der Artenliebe. Der positive Bezug der Regierung auf Carl Schmitts „politische Theologie“ verkörpert nicht – wie angenommen – das Christentum (MEZEI 2021, S. 71), sondern Homogenitätsfantasien und antiindividualistischen Kollektivismus. Dass der Begriff „christliche Freiheit“ ein illiberales, nicht auf die individualistische Nächstenliebe erbautes Konzept ist, erläuterte Orbán selbst (ORBÁN 2019).

Der durch die „historische Verfassung“ und die „heilige Krone“ symbolisierte völkische Souverän steht somit vor der – im Grundgesetz an zweitrangiger Stelle erwähnten – Achtung der Menschenwürde (Souverän des Individuums). Ungarn heißt heute auch nicht mehr Republik, sondern „Magyarenland“ (MARSOVSZKY 2015).

10 Destruktive Integration der Gegenwartspolitik seit 2010

Die Umstrukturierung der Gesetzeslage nach vermeintlich organischen „archaischen Schemata“ begann sofort nach Regierungsantritt der gegenwärtigen Koalition. Das neue Staatsbürgerschaftsgesetz nach dem „Ius-Sanguinis“-Prinzip (in Kraft seit 2010 [SZÁJER 2021, S. 238]) betont die gentilistische Ahnenlinie. Es integriert die sogenannten „Diasporamagyaren“, wie sie im ethnonationalen Jargon genannt werden, in die „Volksgemeinschaft“. Die ungarische Staatsbürgerschaft können Personen erhalten, deren Vorfahren irgendwann einmal die ungarische Staatsbürgerschaft innehatten, auch, wenn sie nicht in Ungarn leben. In den letzten zehn Jahren erhielt über eine Million Menschen die ungarische Staatsbürgerschaft und wurde so wahlberechtigt. Bei Bewahrung der „ethnischen Homogenität“ (ORBÁN 2017) wurde aus den Magyaren inzwischen eine „Weltnation“ (Index 2019, MTI 2021). Um die „Nation zu erhalten“, wurde das „Nationale Institut für die Humane Reproduktion“ gegründet (BOTOS 2019). Die „Artgleichheit“ oder die „Blutsgemeinschaft der Magyaren“ werden immer öfter – selbst vom Ministerpräsidenten – betont (Index 2019; NARANCS 2019). Der 2007 entstandene Song einer Ethnorock-Band „Wir sind aus dem gleichen Blut“ (RIPOST 2019) mutiert zur beliebtesten Alternativhymne (HÍR TV 2019), wird auch an Schulfeierlichkeiten gesungen (HAJDU ONLINE 2017) und erklingt im Gesamtgebiet „Großungarns“ als Zeichen der „nationalen Einheit“ (ORIGO 2020). „Nationale Einheit“ bedeutet eine allmagyarisch-völkische Solidarität, sie richtet sich an die Minderheitenmagyaren in den Nachbarländern, nicht aber an die Ausgegrenzten innerhalb des Landes (MARSOVSZKY 2020). Unter Minderheiten werden die „ethnischen Magyaren“ außerhalb der gegenwärtigen Landesgrenzen verstanden (SALZBORN 2015, S. 80).

Dem irredentistischen Bild der Nation entsprechend ist das Ziel der Regierung die Wiederherstellung des Zustandes vor 1914:

Nationale Treue bedeutet in der ungarischen Politik den Willen, mit dem die territoriale Einheit des historischen Landes wiederhergestellt werden kann (KÖVÉR 2020).

Die Suche nach den Ursprüngen des Volkstums führte 2019 zur Gründung eines Ahnenforschungsinstituts,Footnote 16 in dem auch mit DNA-Analysen dem Ursprung des Magyarentums nachgeforscht wird. Die wichtigste Aufgabe des Instituts, wie der zuständige Minister für Humanressourcen, Miklós Kásler es immer wieder darlegt, sei die Spiritualisierung der Gesellschaft (HERCZEG 2018). Auch er bettet das Christentum in eine primordiale Ordnung ein und leitet das Bildungs- und Schulsystem Ungarns aus der Verschmelzung des christlichen Glaubens mit primordialen magyarischen Traditionen ab (NARANCS 2020). In Gesprächsrunden führt Kásler seit vielen Jahren in die Geheimnisse der „heiligen Kronenlehre“ ein (NEMZETI NAGYVIZIT 2013). Auch der stellvertretende Ministerpräsident betont immer wieder die Wichtigkeit der „Transzendentalisierung des Staates“ (SEMJÉN 2020).

Bekenntnisse zur „Rasse und Nation“ werden heute beinahe täglich publiziert, so zuletzt vom Fidesz-Mitglied und Journalisten Zsolt Bayer, der ein Zitat aus der Zwischenkriegszeit aktualisierte:

Die Rasse und die Nation sind immer noch erhaben, immer noch selbstlos. Die Kämpfe [gehen] über die unmittelbaren Ziele des Einzelnen hinaus (BAYER 2020).

Doch die „Rassenfrage“ sei nicht Ungarns Problem, es sei der Westen, der dem Land dieses Thema aufzwinge, sagt Historikerin, Maria Schmidt (M5TV 2020, S. 2:20). Ungarn müsse seine eigene kulturelle Tradition vor dem imperialistischen kulturellen Vorstoß des Westens (gemeint sind die Menschenrechte) schützen. Das „Rassenproblem“ sei ein Problem der ehemaligen Kolonialländer, sie müssten ihre koloniale Vergangenheit aufarbeiten, nicht Ungarn, das nie Kolonialmacht gewesen sei und deshalb nie „mit anderen Rassen“ zusammenleben musste. Die Leiterin des während der ersten Orbán-Regierung eröffneten Haus des Terrors, damals – wie heute – Beraterin von Fidesz, ist eine führende Revisionistin.Footnote 17

Die Regierung fühlt sich in Bezug auf alles, was den menschenrechtlich-emanzipatorischen Ansatz und die Reflexivität fördert, irritiert.

Mobilisiert wird – z. B. vom „Zentrum für Grundrechte“Footnote 18 – gegen eine vermeintliche „Genderlobby“ (MAGYAR HÍRLAP 2021), und mit der Begründung, die Gendertheorie würde die biologische Abstammung negieren, wurde 2019 das Universitätsfach Gender-Studies verboten (SCHIRMER 2018). Auch das Fach Psychologie wird als schädlich erlebt (ANONYMER STUDENT 2020), so auch die wenigen universalistisch-christlichen Kirchengemeinden, allen voran die Evangelische Bruderschaft Ungarns, der der Kirchenstatus aberkannt und die Mittel für deren Unterrichtstätigkeit drastisch gekürzt wurden (IVÁNYI 2020). Nach und nach wird die Existenzgrundlage gerade den Stiftungen entzogen, die sich den Opfern gesellschaftlicher Ausgrenzung annehmen (BOGATIN 2020), und weitere, die sich für Menschenrechte einsetzen, stehen permanent unter Beschuss (BAUMANN 2018). Mit dem Titel „Die Söldner des Spekulanten“ erschien 2017 sogar eine Art „Judenliste“ in einem Internetportal mit den Namen der menschenrechtlich orientierten NGOs (FIGYELÖ 2018).

Im Sinne des Grundgesetzes und der „Historischen Verfassung“ wurden in den vergangenen zehn Jahren demokratische Institutionen geschwächt und Grundrechte sowie die Gewaltenteilung und – im Sinne des neuen Mediengesetzes – die Medienlandschaft stark eingeschränkt. Im Sinne des neuen Bildungsgesetzes wurde die gesamte Kultur- und Bildungspolitik umgestaltet, nach dem regierungseigenen Narrativ: patriotisiert. Nach und nach wurden dabei z. B. kritische Autor*innen aus dem Nationalen Lehrplan entfernt und durch völkische ersetzt, so gelten im neuen nationalen Lehrplan antisemitische Autor*innen der Zwischenkriegszeit, wie beispielsweise Albert Wass, sowie József Nyírö, als Pflichtlektüre (JOÓB 2020). Dass der Nobelpreisträger und Holocaust-Überlebende Imre Kertész aus dem nationalen Lehrplan fehlt, dürfte damit zu tun haben, dass im von der Regierung kürzlich neu eröffneten Kertész-Institut sein Oeuvre im Sinne der Regierungsideologie noch umgedeutet wird.Footnote 19 Direktorin des Kertész-Institutes ist die erwähnte Maria Schmidt.

In den vergangenen zehn Jahren wurden zahllose Straßen und Plätze umbenannt, Denkmäler entfernt, neue geschaffen, und der öffentliche Raum wurde in Anlehnung an die Vorkriegszeit umgestaltet. Dies zeigt sich in einem Boom revisionistischer Bezüge, so z. B. in den Würdigungen für den langjährigen Reichsverweser der Zwischenkriegszeit, Miklós Horthy, der bereits ab 1920 antijüdische Gesetze erließ und Mitverantwortung an der Vernichtung der ungarischen Jüdinnen und Juden trug (PÜSKI 2012, S. 20). Es heißt, Horthy habe das Selbstwertgefühl der Nation wieder hergestellt, und auch Ministerpräsident Pál Teleki und Kultusminister Kuno Klebelsberg der Zwischenkriegszeit hätten zur Rettung der Nation beigetragen (SCHMIDT 2019). Man muss wissen, dass Pál Teleki über seine rassentheoretische Ansätze bekannt war (TELEKI 1917), während sich Klebelsberg zu einer antimodernen, antiwestlichen Haltung bekannte und für die Magyaren – im Sinne des Kulturdarwinismus – eine führende Rolle im Karpatenbecken anstrebte (ÚJVÁRY 2003, S. 89). Klebelsbergs Auffassungen bedeuten für die heutige Kultur- und Bildungspolitik Ungarns eine ideologische Richtschnur, ist er doch seit 2013 Namensgeber der gleichnamigen Regierungsorganisation für Schul- und Bildungspolitik Ungarns.Footnote 20

Das Geschichtsbild der Regierung wird von Schuldabwehr geleitet. Es wird behauptet, Ungarn sei von den Siegermächten im Vertrag von Trianon zu Unrecht verurteilt worden. Nicht reflektiert wird über die aggressiv-nationalistische und rassistische Magyarisierungspolitik, die überhaupt zur Teilnahme Ungarns am Ersten Weltkrieg geführt hatte. Diese Schuldabwehr in der Regierungspolitik führt zum nationalen Opfermythos (GYÁNI 2012), in dem quasi der „Leidensweg der Magyaren“ (Trianon) dem „Leidensweg der Juden“ (Holocaust) gegenübergestellt und damit der Holocaust relativiert wird. In diesem Sinne wird auch durch die von der Regierung 2020 eingeweihte Trianon-Gedenkstätte die Geschichte verfälscht (HVG 2020).

Der Opfermythos mit der Relativierung des Holocaust ist auch sonst fester Bestandteil der Politik beider Orbán-Regierungen, so z. B. in der ständigen Ausstellung des Museums Haus des Terrors, eröffnet 2002, in der die Unrechtssysteme und der Terror des ungarischen Nationalsozialismus und des Kommunismus parallelisiert und das Volk der Magyaren als unschuldiges Opfer zwischen den Großmächten dargestellt werden (MARSOVSZKY 2010b). Diese Parallelisierung ist auch Teil der Präambel des Grundgesetzes:

Wir lehnen die Verjährung der gegen die ungarische Nation und ihre Bürger während der nationalsozialistischen und kommunistischen Diktatur begangenen unmenschlichen Verbrechen ab (GRUNDGESETZ 2012).

Vielfalt wird als fremder Einfluss und als Bedrohung, die politische Korrektheit als westliche Überheblichkeit halluziniert. Wichtigste Feindbilder, weil als nicht-identisch fantasiert, sind die liberale Demokratie, der Individualismus, die Diversität und der Pluralismus – Grundlage der politischen Nation (Demos) –, die als „zersetzend“ abgelehnt werden. Dies ist der Grund, warum kritische Intellektuelle, Wissenschaftler*innen oder Journalist*innen als identitätslose dargestellt und an ihrer Arbeit gehindert, gelistet oder gekündigt und Redaktionen geschlossen wurden. Auf die kritische Wissenschaft bei der Ungarischen Akademie der Wissenschaften oder auf die Central European University wird so viel Druck ausgeübt, dass – bis auf bestimmte Fachbereiche – die CEU das Land verlassen musste, und die Zukunft der Akademie unsicher ist.

Die Orbán-Regierung sieht sich deklariert in der Kontinuität des Ideals des männlich-hierarchischen Staates, der in Ungarn zwischen den beiden Weltkriegen zur Relevanz gelangte. Auch heute ist die Authentizität der Frau nur in der Relation zum Mann, als Ehefrau oder als Mutter gegeben, während die „fleischliche“ Wirklichkeit der autonomen Frau und der „weibliche Mann“ (Homosexualität) für die „biologische Reproduktion“ des Volkstums als hinderlich und deshalb als „entartet“ angesehen werden. 2020 nannte in einer regierungsnahen Fernsehsendung der erwähnte Ideologe der Orban-Regierung, Bogár einen führenden homosexuellen EU-Abgeordneten von Fidesz eine „Person mit geschädigter Struktur“ und fügte – im Sinne von Hamvas – hinzu, dass „jede Form der Entartung eine Abwärtsspirale“ bedeute, weshalb sich die Welt heute „in Richtung Apokalypse“ bewege (HÍR TV 2020). Ziel der Regierungspolitik ist es, Ungarn vor der „Entartung“ und Europa vor dem „zivilisatorischen Untergang“ zu bewahren und die „Neugeburt Mitteleuropas“ herbeizuführen (INFOSTART 2020).

11 Resumee

Im vorliegenden Beitrag wurde die antisemitische Weltanschauung in Ungarn im Zusammenhang mit der völkischen Esoterik und in der Relevanz der Kritischen Theorie analysiert. Die Strukturen der völkischen Esoterik wurden in erster Linie mit Hilfe des Oeuvres des heute allgemein – angefangen von der Regierung über neurechte Gruppierungen und linksliberale Oppositionelle bis hin zu Antifaschist*innen – äußerst beliebten Autors, Béla Hamvas ausgearbeitet. Es wurde die ungebrochene Kontinuität dieser Alltagsreligion seit dem 19. Jahrhundert bis heute dargestellt und aufgezeigt, dass sie nach dem Wahlsieg der gegenwärtigen Regierungskoalition (2010) Eingang ins Grundgesetz (2012) gefunden hat und seitdem als ideengeschichtliche Grundlage die Regierungspolitik und -praxis bestimmt. Es wurde auch dargelegt, warum diese Ideologie mit der von der Orbán-Regierung beschworenen christlich-demokratischen Politik unvereinbar ist.

Die völkische Esoterik als Alltagsreligion ist zwar vor allem für das konservative Denken im Lande charakteristisch, die nicht reflektierten diesseitig-religiösen Inhalte sind aber auch darüber hinaus sehr verbreitet, während das emanzipatorisch-individualistische, an den universalen Menschenrechten orientierte Denken kaum vorhanden ist. Da die völkische Esoterik die Wirklichkeit zu entstellen vermag, wurde sie zur Norm einer destruktiven, negativen Integration. Sie ist heute kein Gegenstand kritischer Reflexion, so dass sie die Gesellschaft ohne demokratischen Gegenwind weiter infiltriert.