Schlüsselwörter

1 Einleitung

Im Rahmen der interdisziplinären Erforschung der Wechselwirkungen zwischen Recht und Literatur wird u. a. danach gefragt, wie ‚das Recht‘ ‚die Literatur‘ zum Gegenstand rechtlicher Normierungen macht und damit Möglichkeiten eröffnet, wie literarische Texte und Literatur anderer Art und Funktionsbestimmung entstehen und zur Wirkung kommen können, zugleich aber auch Bedingungen statuiert für die Unterscheidung zwischen Texten, die als literarische ‚Werke‘ gelten, und anderen, für die das nicht gilt. Dabei stellt sich zugleich auch die Frage nach dem rechtlichen Status des sprachlichen Materials, das ggf. zu Werken verarbeitet werden kann oder irgendwie bei der Entstehung von Literatur eine Rolle spielt. Enggeführt werden diese Fragen unter anderem in der nach dem Verhältnis zwischen Material und Werk im Urheberrecht.Footnote 1

Bekanntlich regelt das Urheberrecht (bzw. Copyright LawFootnote 2) in modernen Gesellschaften, wie und unter welchen Bedingungen „Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst“ (§ 1 UrhG) produziert und genutzt werden können. Es soll erklärtermaßen „den Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werkes“ schützen und „der Sicherung einer angemessenen Vergütung für die Nutzung des Werkes“ dienen (§ 11 UrhG). Geschützt werden die ‚ideellen‘ und ‚materiellen‘ Interessen der Urheber an ihren jeweiligen Werken, die unter Umständen beeinträchtigt werden könnten durch bestimmte Weisen der Nutzung oder Aneignung der betreffenden Werke durch Dritte, unter Umständen auch schon durch die unberechtigte Verwendung von Ausdrucksformen, die als Teil eines geschützten Werkes gelten oder auch nur einem Teil eines solchen Werkes irgendwie ähnlich sind. Der Schutz, den das Urheberrecht dem Urheber gewährt, besteht im Wesentlichen in der Zuweisung bestimmter ausschließlicher Rechte zur Verfügung über sein Werk in sämtlichen Instantiationen, Varianten oder BearbeitungenFootnote 3 sowie in der Gewähr von Rechtsmitteln zur Durchsetzung dieser ausschließlichen Rechte.Footnote 4

Anders als der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgekommene NameFootnote 5 „Urheberrecht“ suggeriert, beschränkt sich die Funktion dieser objektiv-rechtlichen Institution allerdings nicht darauf, Urhebern subjektive Rechte zuzuweisen und die Durchsetzbarkeit dieser Rechte zu garantieren. Durch die Eröffnung der Möglichkeit klarer rechtlicher Verhältnisse in vielen für die Produktion, Distribution und Rezeption von Werken unterschiedlicher Art (s.u. 2) relevanten Belangen trägt das Urheberrecht maßgeblich bei zur Schaffung der Bedingungen, unter denen die von seinen Regelungen erfassten Aktivitäten des „geistigen Schaffens“Footnote 6 bzw. der „Kreativwirtschaft“ im weitesten SinnFootnote 7 sich entfalten können. Die Regelung dieser Bedingungen hat erhebliche Auswirkungen auf die ontologische Konstitution der WerkeFootnote 8 und damit auch auf den rechtlichen Status aller bereits realisierten oder möglichen Sätze oder Zeichenkonfigurationen, nicht nur derjenigen, die ggf. als schutzfähiger Teil eines urheberrechtlich geschützten Werkes gewissen Einschränkungen ihrer möglichen Verwendung durch Dritte unterliegen. Die rechtliche Unterscheidung zwischen geschützten Werken und anderen Texten (bzw. Bildern, Klängen, Formen usw.) weist nicht nur den geschützten Werken und den schutzfähigen Teilen der betreffenden Werke einen bestimmten rechtlichen Status zu, sondern zugleich auch allen anderen Texten bzw. allem realisierten oder realisierbaren sprachlichen, musikalischen oder anderweitig für die Schaffung von Werken der Literatur, Wissenschaft oder Kunst (usw. – s. u. 2) in Frage kommenden Material, das nicht in die Klasse der urheberrechtlich geschützten Werke oder ihrer Teile fällt – z. B. den Status des ‚gemeinfreien‘, für alle und jeden uneingeschränkt verfügbaren und auch für die Schaffung neuer Werke ohne Einschränkung nutzbaren Materials.Footnote 9

Im Folgenden wird zunächst (2) der urheberrechtliche Werkbegriff und insbesondere der Begriff des Werkes der Literatur bzw. des Sprachwerkes in Grundzügen rekapituliert und (3) aufgezeigt, welche – prima facie nicht besonders ausgeprägte – Rolle der Begriff des ‚Materials‘ im Urheberrecht spielt. In der Hauptsache werden (4) einige grundlegende Konflikte diskutiert, die sich ergeben, wenn urheberrechtlich geschützte Werke als Material zur Hervorbringung neuer Werke benutzt werden, und die Regelungsansätze, mit denen diese Konflikte durch das Urheberrecht reguliert werden. Daraus ergeben sich (5) Perspektiven für die Diskussion über den Einfluss rechtlicher Rahmenbedingungen auf die Produktion und Zugänglichkeit literarischer Texte sowie außerliterarischer Artikulationsformen.

2 Der urheberrechtliche Werkbegriff

Der Schutz, den das Recht dem Urheber gewährt, bezieht sich jeweils auf dessen Werk.Footnote 10 Ohne Werk kein Schutz. Die Bezugnahme auf das Werk ermöglicht dem Urheber und ggf. auch anderen Inhabern aus dem Urheberrecht abgeleiteter ausschließlicher Rechte (§§ 28–35 UrhG) Ansprüche gegenüber Dritten, die unter Bezugnahme auf das betreffende Werk oder unter Nutzung von Teilen desselben bestimmte Handlungen vollziehen, vollzogen haben oder vollziehen wollen, z. B. indem sie bestimmte Gegenstände herstellen, oder verbreiten, die dem betreffenden Werk oder Teilen davon in bestimmten, als urheberrechtlich relevant geltenden Hinsichten ähnlich sind. Das Urheberrecht legitimiert die Inhaber solcher Rechte unter bestimmten Umständen zu Unterlassungsansprüchen und zu Handlungen, die der Handlungsfreiheit Dritter bestimmte Grenzen setzen und auch deren Verfügung über ihr Eigentum an Sachen, die sie völlig rechtmäßig erworben oder selbst hergestellt haben, einschränken. Es gewährt den Inhabern ausschließlicher Rechte an Werken nicht nur eigentumsanaloge Ansprüche auf Kontrolle über ihre Werke und über den Gebrauch, den Dritte von ihren Werkstücken oder ggf. anderen Realisationen oder Wiedergaben der betreffenden Werke oder auch von darauf aufbauenden, derivativen Werken machen, sondern auch vermögensrechtlich relevante Ansprüche auf eine „angemessene Vergütung“ (§§ 11, 20b, 27, 32, 54, 60h UrhG) bzw. „Schadensersatz“ (§ 97 UrhG), die im Streitfall gerichtlich durchgesetzt werden können, auch wenn der für kompensationsbedürftig erachtete Schaden nicht in Gestalt einer Beschädigung des Werkes eingetreten ist, sondern z. B. als nachträgliche Lizenzgebühr für nicht genehmigte Nutzungen berechnet wird. Auch Gegenstände oder Handlungen, an deren Zustandekommen, Wiedergabe oder Verbreitung der Urheber eines bestimmten Werkes in keiner Weise beteiligt war, können unter Umständen als Vorkommnis oder Bearbeitung seines Werkes beurteilt werden und ggf. Kontroll- und Unterlassungsansprüchen sowie Vergütungsansprüchen des Urhebers bzw. Rechteinhabers unterliegen.

Möglich wird all dies aufgrund der Weise, wie das althergebrachte Wort ‚Werk‘ – bzw. die ihm entsprechenden Ausdrücke in anderen modernen Sprachen – im Kontext des modernen Urheberrechts zur Sortierung der Beziehungen zwischen vielerlei diversen Arten von Artefakten gebraucht wird. „Was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen Werk bezeichnet?“ (Foucault 1988, 12).

2.1 Das Werk als abstrakte, immaterielle Entität

Der urheberrechtliche WerkbegriffFootnote 11 ist in mehrfacher Hinsicht abstrakt. Er begründet die Einheit des Rechtsgebietes, indem er von den Unterschieden zwischen den verschiedenen Kategorien von Gegenständen, auf die er angewandt werden kann, abstrahiert – seien es ‚Sprachwerke‘, ‚Werke der Musik‘, ‚pantomimische Werke‘, ‚Werke der bildenden Künste‘, ‚Werke der Baukunst und der angewandten Kunst‘, ‚Lichtbildwerke‘, ‚Filmwerke‘, ‚Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art‘ oder Werke, die in keiner dieser Kategorien erfasst sind.Footnote 12 Das Urheberrecht abstrahiert von allen aktuell gebräuchlichen oder in Zukunft möglicherweise bei der Realisierung von Werken welcher Art auch immer zum Einsatz kommenden Materialien und medientechnischen Verfahren, obwohl die Unterschiede zwischen den betreffenden Verfahren folgenreiche Unterschiede in der Gegebenheitsweise und Zugänglichkeit der in ihnen realisierten Werke und auch in den Verhältnissen zwischen dem jeweiligen Werk und seinen Vorkommnissen nach sich ziehen.

Werke in dem Verständnis, das im Zusammenhang mit der Entwicklung des modernen UrheberrechtsFootnote 13 auch über die rechtlichen Anwendungsbereiche hinaus zunehmend als denknotwendig eingesehen wurde,Footnote 14 sind immaterielle Gegenstände.Footnote 15 Als solche sind sie strikt zu unterscheiden von materiellen Gegenständen wie den Werkstücken, Darbietungen, raum-zeitlichen Prozessen oder Dateien auf Speichermedien, in denen ihre VorkommnisseFootnote 16 ggf. verkörpert sein mögen.Footnote 17 Immaterielle Gegenstände können in einer unbeschränkten Zahl von Vorkommnissen gleichzeitig verkörpert bzw. realisiert sein. Daher steht die Nutzung des Werkes in einer dieser Realisierungen der gleichzeitigen oder späteren Nutzung desselben Werkes in einer anderen Realisation durch Dritte nicht im Wege. Ökonomisch werden solche immateriellen Güter als ‚nicht-exklusive‘ bzw. ‚nicht-rivale Güter‘ begriffen.Footnote 18

Für Werke der Literatur (vgl. Ingarden 31965) dürfte die Unterscheidung zwischen dem Werk als Typ (type) und seinen mehr oder weniger zahlreichen Vorkommnissen (tokens) weithin einleuchten. Selbst die ‚Urschrift‘ eines Gedichtes, Romanes oder Dramentextes ist mit dem durch diese zuerst oder definitiv festgelegten sprachlichen Struktur- und Sinnzusammenhang (dem ‚Text‘ bzw. ‚Werk‘Footnote 19) keineswegs identisch.Footnote 20 Das betreffende Werk ist in jeder ordentlichen Kopie, jedem Druckexemplar gleichermaßen, möglicherweise sogar besser verkörpert.Footnote 21 Das immaterielle Werk superveniert über dem jeweiligen materiellen Artefakt (z. B. einem Manuskript, Typoskript, Druckexemplar, einer maschinenlesbaren Datei bzw. deren Ausgabeformat mittels entsprechender Software auf geeigneter Hardware) und der in ihm realisierten Abfolge von Buchstaben, Leerzeichen, Satzzeichen usw., und es ist als kritischer Maßstab zur Beurteilung der jeweiligen Verkörperung in Anschlag zu bringen.Footnote 22

In der philologischen Praxis wird die textkritische Beurteilung der Textzeugen (individueller materieller Artefakte) jeweils durch Vergleich mit anderen Zeugen desselben (oder auch nicht desselben) Textes vollzogen, wobei anhand von Übereinstimmungen und Abweichungen ggf. eine gewisse Stufenfolge des Abstandes von der Vorlage ermittelt werden kann. Dabei können Korrekturen selbst gegen den Textstand des im übrigen ‚besten‘ Überlieferungszeugen unter Umständen als sinnvoll oder erforderlich eingesehen werden.

Der ‚geistige‘ Gehalt des Sprachwerkes erfährt seine Bestimmung durch die konkrete Konfiguration der Zeichenkette, ist mit dieser jedoch nicht identisch, sondern ggf. einer entsprechenden Artikulation auch in einer anderen Sprache, durch eine entsprechend anders konfigurierte Zeichenkette fähig.Footnote 23 Allerdings ist zu beachten, dass die Maßstäbe, nach denen darüber entschieden wird, ob eine Übersetzung als Vorkommnis des übersetzten Werkes gelten soll oder es für die Identität des Werkes und damit auch für die Anerkennung einer Realisation des Werkes auf den Wortlaut in der Originalsprache ankommt, je nach Verwendungskontext unterschiedlich gehandhabt werden.

Für Musikwerke gilt entsprechend, dass sie weder mit der Urschrift noch mit irgendeiner späteren Kopie, Edition oder Bearbeitung des Notentextes identisch sind, noch mit irgendeiner Aufführung oder mit der Klasse aller jemals realisierten und künftig realisierbaren Aufführungen auf Grundlage der betreffenden Partitur, noch mit einem Tonträger, oder allen Tonträgern, auf denen die Aufnahme von Aufführungen des betreffenden Werkes fixiert sind, noch mit dem Ereignis des Abspielens eines der betreffenden Tonträger (vgl. Reicher 2019, 18–25). Worin die Identität eines Werkes der Musik im Einzelnen liegen mag, bzw. welche Eigenschaften seiner Realisationen als wesentlich gelten sollen und welche als unwesentlich, lässt sich nicht allgemein festlegen; es ist in der Praxis immer wieder umstritten. Nach deutschem Recht galt eine wiedererkennbare „Melodie“ als zweifellos wesentliches Merkmal eines Werkes der Musik; ihre Verwendung in einem neuen Werk war daher in jedem Fall abhängig von der Zustimmung des Urhebers der benutzten Vorlage.Footnote 24 In der Praxis kommt es darauf an, ob davon auszugehen ist, dass „die mit musikalischen Dingen vertrauten Personen“ im neuen Werk das Vorlagenwerk wiedererkennen, oder der ‚Abstand‘Footnote 25 zwischen dem neu geschaffenen Werk und der benutzten Vorlage so groß erscheint, dass die Beziehung zu der betreffenden Vorlage das Wesen des neu geschaffenen Werkes nicht bestimmt (vgl. a. u. 4.1).

Weniger evident erscheint die Notwendigkeit, das Werk als immateriellen Gegenstand von seiner Verkörperung zu unterscheiden, bei singulären Werken der bildenden Kunst oder der Baukunst, bei denen die primäre Realisierung oft für das Werk selbst gehalten wird, während jeder spätere Versuch, dem Werk zu einer erneuten Realisierung zu verhelfen, als in mancher Hinsicht defizitär gilt und als Fälschung zurückgewiesen oder bestenfalls als Kopie, Replik oder Rekonstruktion akzeptiert würde. Auch wenn solche singulären Werke an den als ‚Original‘ bezeichneten materiellen Gegenstand, in dem sie realisiert sind, erheblich enger gebunden sind, als dies bei multiplen Werken wie musikalischen Kompositionen, Texten oder Filmen angenommen wird, sind auch sie keineswegs identisch mit dem jeweiligen materiellen Gegenstand. Das wird spätestens dann deutlich, wenn Verfallsprozesse zu Veränderungen des materiellen Gegenstandes führen, die früher oder später den Wunsch nach einer Restaurierung des Werkes aufkommen lassen – oder die Klage, das Werk sei verloren.Footnote 26 Bei Werken der Baukunst ist schon der Unterschied zwischen dem wesentliche Eigenschaften des zu bauenden Werkes festlegenden Bauplan und der meist durch Dritte realisierten Ausführung, dem Bauwerk i.e.S., das gleichwohl als Werk des oder der federführenden Architekten gilt, augenfällig. Rechtlich werden Abbildungen von Werken der bildenden Kunst bzw. von konkreten Werkvorkommnissen wie auch dreidimensionale Modelle ungeachtet ggf. erheblicher Unterschiede zum abgebildeten Gegenstand als ‚Vervielfältigungsstücke‘ bzw. als ggf. bearbeitete (Teil-)Kopien dem darin wiedergegebenen Werk zugerechnet. Das Recht zur Herstellung, Verbreitung und Nutzung solcher Abbildungen fällt daher in der RegelFootnote 27 in den Bereich der ausschließlichen Rechte des Urhebers bzw. von dessen Rechtsnachfolgern.

Die Möglichkeit, dass untereinander in vielen ihrer Eigenschaften sehr verschieden erscheinende Artefakte oder Handlungen gleichwohl als „Werkstück“ (§ 25 UrhG), „Vervielfältigungsstück“ (§ 16 UrhG), bzw. als „Darbietung“ (§ 19 UrhG), „Wiedergabe“ (§§ 15 [2], 21, 22 UrhG) oder „Bearbeitung“ (§ 23 UrhG) ein und desselben Werkes gewertet werden, wird damit erklärt, dass das immaterielle Werk als abstrakter Gegenstand in manchen Aspekten notwendig ‚unbestimmt‘ bzw. ‚schematisch‘ sei und die betreffenden Realisierungen insoweit in je unterschiedlicher Weise von der im Werk objektiv angelegten und von ihm sogar geforderten Konkretisierung jener „Unbestimmtheitsstellen“ Gebrauch machten.Footnote 28

2.2 Das Werk der Literatur als Sprachwerk

Der Literaturbegriff des Urheberrechts ist denkbar weit. Eine Unterscheidung zwischen literarischen Werken im literaturkritischen SinnFootnote 29 und anderen Textgattungen, z. B. für Werke wissenschaftlicher Art, Sachtexte, Gebrauchsliteratur, oder Paratexte, die man nach der Eröffnung in § 1 UrhG vielleicht erwarten könnte, wird nicht vorgenommen.Footnote 30 Seit 1965 ist in § 2 Abs. 1 UrhG unter Nr. 1 stattdessen ganz allgemein von „Sprachwerken“ die Rede. Das bezieht nicht nur alle ‚Schriftwerke‘ ein, sondern darüber hinaus – anders als z. B. im US-amerikanischen Copyright LawFootnote 31 – auch Reden, die nicht in schriftlicher oder anderer Form fixiert sind. Der urheberrechtliche Begriff des ‚Sprachwerkes‘ deckt seit den 1980er JahrenFootnote 32 zudem auch Software in maschinensprachlichen Codes ab, seit 1993 in § 2 Abs. 1 UrhG unter Nr. 1 eigens angesprochen durch den Begriff „Computerprogramme“.

Während das u.s.-amerikanische Copyright Law nur Werke schützt, die in einem “material object” verkörpert “in any tangible medium of expression” vorliegen, “from which they can be perceived, reproduced, or otherwise communicated, either directly or with the aid of a machine or device” (17 U.S.C. § 102 [a]), schützt das deutsche Urheberrecht ausdrücklich auch die Rede und andere flüchtige Artikulationen musikalischer, gestischer oder mimischer Art, sofern ihnen ein eigentümlicher geistiger Gehalt (s. u. 2.3) zugeschrieben werden kann. Das Sprachmaterial kann auch flüchtige Lautmaterie sein, es hängt nicht am tangiblen Trägermedium.

Im Streitfall erleichtert die Dokumentation des Werks in Form eines schriftlich fixierten Textes, einer Mitschrift oder inzwischen auch einer Audio- oder Videoaufnahme die Beweisführung des Klägers, der sich durch eine Handlung des Anspruchsgegners in seinen Rechten an seinem ephemeren Sprachwerk verletzt sieht. Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit erscheint insofern das Erfordernis der materiellen VerkörperungFootnote 33 – verständlich.

Allerdings hätten diejenigen, die sich vor anderen in einer bestimmten, bemerkenswerten Weise geäußert haben, ohne die Anerkennung eines Urheberrechts auch an ihren mündlichen Äußerungen keinen Abwehr- oder Beteiligungsanspruch gegen Dritte, die Nachschriften oder Aufnahmen der betreffenden mündlichen Äußerung ohne Einverständnis des Urhebers der Rede publizieren und ggf. vermarkten und sich unter Umständen sogar ein Ausschlussrecht gegen den eigentlichen Urheber sichern wollten. Das widerstrebt weithin geteilten ‚naturrechtlichen‘ Intuitionen über das Recht des Urhebers auf Kontrolle über seine persönlichen Äußerungen.Footnote 34 Unter dem Eindruck derartiger Argumente wird im deutschen Recht seit dem 19. JahrhundertFootnote 35 dem Persönlichkeitsrecht des Urhebers zur Kontrolle über seine Äußerungen größeres Gewicht beigemessen und damit auch dem unveröffentlichten oder noch im Entstehen befindlichen Werk ein weiterreichender Schutz gewährt als in der aus dem Verlagsrecht erwachsenen und stärker am Investitionsschutz orientierten anglo-amerikanischen Copyright-Tradition.Footnote 36

Für die Schutzfähigkeit des Werkes ist es nach deutschem Recht, wie inzwischen auch nach EU-Recht, nicht erforderlich, dass das Werk veröffentlicht wurde oder eine Veröffentlichung beabsichtigt ist, und nicht einmal, dass der Urheber sein Werk für gelungen und abgeschlossen hält. Selbst mehr oder weniger fragmentarische Materialien, aus denen vielleicht einmal ein Werk entstehen sollte, vielleicht aber auch niemals eines entstehen wird, können schutzfähig sein, sofern sie dem in § 2 Abs 2 UrhG statuierten Kriterium der „persönlichen geistigen Schöpfung“Footnote 37 genügen.

2.3 Persönliche geistige Schöpfung

Für die Auslegung des dreigliedrigen Werkkriteriums der „persönlichen geistigen Schöpfung“ ist jede der maßgeblichen Bestimmungen einzeln zu betrachten.

2.3.1 Persönlich

‚Persönlich‘ ist eine Schöpfung nur dann, wenn ein Mensch das, worauf es in dem betreffenden Werk ankommt, gemacht hat und wenn es einen Unterschied zwischen dem betreffenden Werk und allem anderen gibt, der darauf zurückzuführen ist, dass es eben das Werk dieses bestimmten, in der betreffenden Hinsicht unvertretbaren Menschen ist.Footnote 38 Anders als das US-amerikanische RechtFootnote 39 kennt das kontinentaleuropäische Urheberrecht kein originäres Copyright juristischer Personen. Unternehmen oder Institutionen können daher nach deutschem und europäischem Recht allenfalls Inhaber von Nutzungsrechten sein, sofern ihnen solche Rechte durch die Urheber der betreffenden Werke oder deren Rechtsnachfolger (§ 30 UrhG) eingeräumt wurden (§ 31 UrhG).

So wichtig die Bindung des urheberrechtlich schutzfähigen Werks an die Person des Urhebers ist, so problematisch erscheint die des Öfteren erhobeneFootnote 40 und auch im europäischen Recht verankerteFootnote 41 Forderung nach einer persönlichkeitsexpressiven Funktion des Werks (Barudi 2013). Schwierig ist insbesondere die Beurteilung, ob der geforderte Ausdruck in hinreichender Eindeutigkeit vorliegt, z. B. bei Werken, die sich auf Vorbilder aus der älteren Kunst- oder Literaturgeschichte beziehen, einen bewusst entpersönlichten Ausdruck oder einen Ausdruck der Ausdruckslosigkeit anstreben. Kunst- und Literaturgeschichte sind voller Beispiele für Fehlzuschreibungen anonym oder pseudonym erschienener Werke.Footnote 42 Während die romantische Vorstellung, dass die Persönlichkeit des Urhebers sich in jedem seiner Werke ‚widerspiegeln‘ müsse, die Freiheit der künstlerischen Entscheidung darüber, was das jeweilige Werk zeigen oder ausdrücken sollte, über Gebühr einschränkt und auch im Hinblick auf die mögliche Rezeption der Werke eher ein Erkenntnishindernis darstellen dürfte, geht es bei dem Kriterium für die urheberrechtliche Schutzfähigkeit im Wesentlichen darum, dass ein Gegenstand, der als Werk im Sinne des Urheberrechts soll gelten können, die „freie(n) kreative(n) Entscheidungen“ seines Urhebers irgendwie wahrnehmbar zum Ausdruck bringen muss.Footnote 43 Als Urheber soll jeweils die Person gelten, deren freie kreative Entscheidung maßgeblich bestimmt hat, wie das Werk gestaltet ist.

Es muss nicht ein Mensch allein am Werk gewesen sein. Verschiedene Formen arbeitsteiliger Schaffensprozesse von Zuarbeit bis zu kollektiver „Miturheberschaft“ (§ 8 UrhG) sind möglich. Auch die mitunter komplexen Verhältnisse zwischen miteinander verbundenen Werken verschiedener Urheber (§ 9 UrhG) lassen sich regeln. Der oder die Urheber können sich auch technischer Hilfsmittel bedienen, sogar die Steuerung der Apparatur einem Zufallsgenerator überlassen – wenn nur ein Mensch oder ein Kollektiv von Menschen die Entscheidung getroffen hat, dass durch dieses Verfahren etwas hervorgebracht werden soll, was als sein oder ihr Werk sollte gelten können.Footnote 44

Eine bloße Willensäußerung allein genügt nicht. Es muss auch eine irgendwie geartete Gestaltungs- oder konkrete Auswahltätigkeit diesem Willen zur Realisierung im Werk verholfen haben. Wenn ein automatisches Übersetzungsprogramm einen Text aus einer dem Nutzer fremden Sprache in eine ihm mehr oder weniger verständlich erscheinende, der Zielsprache zuzurechnende Gestalt übersetzt, hat insoweit noch keine urheberrechtlich relevante persönliche geistige Schöpfung stattgefunden.Footnote 45 Das Resultat, das das Programm ausgibt, ist – anders als das Arbeitsergebnis eines sinnverstehenden Übersetzers – nicht seinerseits ein schutzfähiges Sprachwerk (§ 2 Abs. 1 Nr. 1) und auch keine schutzfähige Bearbeitung (§ 3 UrhG) eines ggf. der Übersetzung zugrundeliegenden fremden Sprachwerks.

Sobald allerdings ein Übersetzer das von dem Algorithmus ausgegebene Textmaterial prüft, es sich zu eigen macht, ggf. kleinere Verbesserungen vornimmt, kann er gemäß § 3 UrhG ausschließliche Rechte an der maschinengestützten Übersetzung geltend machen. Doch falls eine Redakteurin oder Lektorin, die ihrerseits Zugriff auf die Rohdaten der maschinellen Übersetzung hat, die Arbeit des Übersetzers kritisch durchgeht, seine Änderungen verwirft und andere Lösungen favorisiert, kann das u. U. dazu führen, dass trotz weitgehender Übereinstimmung in der Textgestalt der Übersetzer, der die maschinengestützte Übersetzung abgeliefert hatte, keinen Anspruch auf Beteiligung an der Verwertung der betreffenden Übersetzung hat.

2.3.2 Geistig

Das zweite Kriterium des urheberrechtlichen Werkbegriffs, die Festlegung auf „geistige“ Schöpfungen, bezeichnet zunächst und grundlegend die Abgrenzung des immateriellen Gegenstandes, auf den das Urheberrecht sich bezieht, von allen körperlichen Sachen bzw. Artefakten.Footnote 46 In der älteren Urheberrechtsdogmatik wurde einiger Aufwand getrieben, die ‚geistige‘ Natur der urheberrechtlich schutzfähigen Werke abzuleiten aus dem (subjektiven) Geist ihres jeweiligen Urhebers. Nach aktueller Rechtsauslegung erweist sich ein Typen-Artefakt insbesondere darin als „geistig“ – im Unterschied zu anderen Typen-Artefakten, die ggf. Gegenstand eines Designschutzes oder eines Leistungsschutzrechts sein mögen –, dass es irgendwie auf Kommunikation angelegt bzw. interpretierbar ist.Footnote 47 „Ein Gedanken- oder Gefühlsinhalt muß durch das Werk mitgeteilt werden“,Footnote 48 jeweils unter Nutzung der Ausdrucks- oder Evokationspotentiale des betreffenden Mediums, nicht notwendigerweise in Worten und Sätzen und auch nicht unbedingt so, dass dem Werk eine Aussage mit propositionalem Gehalt zugeschrieben werden kann.

2.3.3 Schöpfung

Das dritte Element des Werkkriteriums im deutschen Urheberrecht, die „Schöpfung“, bezieht sich auf die eigentlich kreative Leistung, durch die etwas in die Welt kommt, was nicht bloß eine Kopie, eine Wiederholung von etwas bereits Bekanntem ist. Anders als z. B. im französischen oder englischen Recht wird für die urheberrechtliche Schutzfähigkeit nach deutschem Recht nicht unbedingt ‚Originalität‘ verlangt. Auch ‚absolute Neuheit‘, falls es so etwas überhaupt geben sollte, ist für die Anerkennung als urheberrechtlich schutzfähiges Werk nicht erforderlich. Es muss sich nur „hinreichend vom vorbekannten Formenschatz abheb[en]“, dabei ‚geistiger‘ Natur sein (s. o.) und auf die Individualität seines Schöpfers zurückgehen.Footnote 49 Das deutsche Wort ‚Schöpfung‘ bringt die Ambivalenz des Vorgangs zum Ausdruck, denn man spricht ja auch davon, dass man aus einer Quelle oder Zisterne schöpft, indem man Anregungen aufnimmt oder auch schon vorgeformte Materialien bearbeitet.

Nach herrschender Auslegung ist für ‚Schöpfung‘ im Sinn des Urheberrechtsgesetzes eine Formgebung erforderlich: Etwas muss in eine Form gebracht worden sein oder irgendwie eine Form angenommen haben, in der es der Wahrnehmung durch die menschlichen Sinne direkt oder vermittels einer geeigneten Apparatur zugänglich geworden ist.Footnote 50 Erst dadurch gewinnt das Werk eine bestimmte, unverwechselbare Identität: „Dadurch, dass der geistige Gehalt in eine bestimmte Form gegossen wird, entsteht ein abgegrenzter geistiger Gegenstand, ein Immaterialgut, das sich durch die ihm vom Urheber gegebene Individualität […] von den übrigen Geisteserzeugnissen unterscheidet.“Footnote 51

Im Werkschaffen haben wir es mit einem, ja dem Prozess der Vergegenständlichung par excellence zu tun. Tatsächlich handelt es sich um einen doppelten Vergegenständlichungsprozess: Indem ein materieller Gegenstand – die Spur der Tinte auf dem Papier oder Ladungszustände der Transistoren in den Mikrochips, die dafür sorgen, dass die jeweils bestimmte Bildpunkte auf unseren Bildschirmen leuchten oder dunkel erscheinen und damit ggf. interpretierbare Muster anzeigen – in eine bestimmte Form gebracht wird, wird zugleich ein immaterieller Gegenstand, ein ‚geistiger Gehalt‘ in eine bestimmte Form gebracht. Die ‚innere Form‘ des geistigen Gehalts (Rehbinder und Peukert 172015, Rn. 86) erfährt zwar ihre Bestimmung durch die „äußere Form“ des sinnlich wahrnehmbaren Gegenstandes (ebd., Rn. 85), ist aber keineswegs mit dieser identisch.Footnote 52

Ein Gegenstand, für den Werkqualität im urheberrechtlichen Sinn beansprucht wird, muss sich, um schutzfähig zu sein, in wesentlichen Aspekten unterscheiden von allen bereits bestehenden Werken Dritter. Anderenfalls würde das betreffende Artefakt als Vorkommnis (Vervielfältigungsstück, Wiedergabe) des fremden Werkes angesehen, dem es aufgrund überwiegender Ähnlichkeiten zugeordnet würde. Die unterscheidenden Merkmale müssen zudem auf einen persönlichen geistigen Schaffensakt, mindestens eine bewusste Auswahlentscheidung der Person, für die ein Urheberrecht an dem betreffenden Werk beansprucht wird, zurückzuführen sein.

An die Individualität der Schöpfung werden in der Rechtsprechung „keine hohen Anforderungen gestellt; es genügt ein geringer Schöpfungsgrad“ (Schack 2021, Rn. 197). Die deutsche Urheberrechtslehre rekurriert seit hundert Jahren auf die Bescheidenheit suggerierende Metapher von der „kleinen Münze“ (Bisges 2014), mit der ggf. Ansprüche in Millionenhöhe begründet werden. Entscheidend für die Schutzfähigkeit als Werk im Sinn des Urheberrechts ist, dass ein „Gestaltungsspielraum vorhanden (war), innerhalb dessen sich die schöpferische Persönlichkeit entfalten“ konnte (Schack 2021, Rn. 197). Ist ein Werk urheberrechtlich schutzfähig, gilt der Schutz jeweils nicht nur für das betreffende Werk als Ganzes, sondern auch für Teile des Werkes, sofern diese für sich betrachtet hinreichend individuell und nicht gemeinfrei oder ggf. bereits Teile eines zuvor bestehenden fremden Werkes sind, ihnen ein geistiger Gehalt und die erforderliche – wie gesagt, nicht besonders hohe – Gestaltungshöhe zugeschrieben werden kann.Footnote 53

2.4 Inkongruenzen

Der urheberrechtliche Werkbegriff dient einem anderen Zweck und unterliegt anderen Bedingungen als die in der Literatur, den Künsten und Wissenschaften üblichen Werkbegriffe.Footnote 54 Manchen Texten, Bildern, Klangfolgen usw., die von ihren Urhebern oder in der Kritik nicht als ‚Werk‘ akzeptiert würden, wie verworfenen oder aufgegebenen Werken, Skizzen, Arbeitsmanuskripten u.ä. kann unter Umständen der urheberrechtliche Werkstatus trotzdem zuerkannt werden, wie auch umgekehrt manches, was in den Künsten oder der Kunstgeschichte zweifelsfrei als – unter Umständen sogar bedeutendes – Werk gilt, nach den Kriterien des Urheberrechts nicht schutzfähig ist.

Letzteres gilt u. a. für alle gemeinfreien Werke, also Texte, Bilder, musikalische Kompositionen usw., die durchaus als Werke gelten mögen, aber nicht urheberrechtlich geschützt sind – sei es, weil sie niemals urheberrechtlich geschützt waren, wie die meisten als klassisch geltenden Werke, oder weil die Schutzfrist abgelaufen ist oder aus anderen Gründen. Sammlungen mündlich überlieferter volkstümlicher Fabeln, Sagen oder Märchen, von Äsop bis zu den Brüdern Grimm und im Grundsatz auch bis in die Gegenwart, sind gemeinfrei, denn die Geschichten, deren Persönlichkeitsbezug sich im anonymen Hörensagen der Tradition verliert, waren niemals urheberrechtlich geschützt;Footnote 55 Bearbeitungen der überlieferten Texte wie Nacherzählungen, wissenschaftliche Ausgaben oder Übersetzungen sind dagegen in der Regel urheberrechtlich geschützt (§ 3 UrhG). Gemeinfrei sind ferner Werke, die im amtlichen Interesse zur allgemeinen Kenntnisnahme veröffentlicht worden sind (§ 5 Abs. 2 UrhG), Gesetze, Verordnungen, Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfasste Leitsätze zu Entscheidungen (§ 5 Abs. 1 UrhG). Nicht urheberrechtlich schutzfähig sind zudem Werke, deren literarische Pointe gerade darin besteht, dass der Text sich überhaupt nicht oder möglichst wenig unterscheidet vom Text eines anderen, fremden Werkes (das allerdings ggf. seinerseits geschützt sein mag).Footnote 56 Wie wenig Unterschied ist zu wenig, um einen eigenen Anspruch auf eine persönliche geistige Schöpfung zu begründen? Wieviel Übereinstimmung mit fremden Werken oder Wiederholung vorbekannten Materials zu viel?

3 Material im Urheberrecht

Im Unterschied zum Werkbegriff hat der Begriff des Materials im deutschen Urheberrecht bisher keine systematische Bestimmung erfahren. Er wird jedoch verschiedentlich zu teilweise unterschiedlichen Zwecken gebraucht.

3.1 Entwurfsmaterial

In § 69a UrhG, der besondere Bestimmungen für Computerprogramme enthält, wird unter den Gegenständen des Schutzes neben funktionsfähiger Software „in jeder Gestalt“ ausdrücklich auch das „Entwurfsmaterial“ bedacht. In der Sache entspricht das der Regelung in § 2 Abs. 1 Nr. 4 UrhG, wo auch schon die ‚Entwürfe‘ für Werke der Baukunst oder der angewandten Kunst als urheberrechtlich gegebenenfalls schutzfähige Werke bedacht werden. Dem ‚Entwurfsmaterial‘, das von dem Werk, zu dessen Realisierung es beitragen sollte, zu unterscheiden ist und das von seinem Urheber auch kaum selbst als „Werk“ angesehen würde, kann urheberrechtlich relevante Werkqualität zukommen, sofern es den Kriterien der „persönlichen geistigen Schöpfung“ genügt (s. o.).

3.2 Unspezifische Materialbegriffe

Neben der Bezugnahme auf „Entwurfsmaterial“ im Rahmen der Regelung der Bedingungen, unter denen etwas, was kein abgeschlossenes Werk ist noch sein sollte, gleichwohl urheberrechtlich als Werk geschützt sein kann, wird der Materialbegriff im deutschen Urheberrechtsgesetz lediglich an zwei weiteren Stellen, und zwar in denkbar unspezifischem Sinn verwendet.

3.2.1 Ergänzende Materialien

In § 20c UrhG wird seit 2017 geregelt, welche Arten von Online-Angeboten durch Rundfunkanstalten oder privatwirtschaftliche Sendeunternehmen als „ergänzender Online-Dienst“ gelten sollen, was einerseits im Hinblick auf die durch die Sendeunternehmen ggf. von den Urhebern, Produktionsfirmen oder Verwertungsgesellschaften zu erwerbenden Nutzungsrechte relevant ist und zum anderen auch rundfunk- und medienrechtliche Fragen der Zulässigkeit derartiger Angebote betrifft. In diesem Zusammenhang bestimmt das Gesetz, dass über die „öffentliche Zugänglichmachung bereits gesendeter Programme im Internet, die für einen begrenzten Zeitraum nach der Sendung abgerufen werden können“, hinaus auch „ergänzende Materialien zum Programm“ im Rahmen eines „ergänzenden Online-Dienstes“ der Sendeunternehmen bereitgestellt werden können (§ 20c Abs. 1 Nr. 2 UrhG). Der Materialbegriff, der hier zum Tragen kommt, wo es nur darum geht, die genannten ‚ergänzenden Materialien‘ den über das Rundfunk- oder Fernsehprogramm verbreiteten Programminhalten zuzuordnen, enthält keine Vorentscheidung des Gesetzgebers zu der Frage, ob es sich bei den betreffenden „Materialien“ – z.B. Werbevideos, Teaser, Trailer, Interviews mit Musikern, Schauspielern oder Regisseuren, ggf. ausführlichere „Making of …“-Features o.ä – um ihrerseits urheberrechtlich geschützte Werke handeln mag, deren öffentliche Zugänglichmachung ggf. einer eigenen Lizenz bedürfte, oder nicht.

3.2.2 Audiovisuelles Material

Schließlich findet sich der Materialbegriff noch an ganz untergeordneter Stelle in der Anlage zu § 61a UrhG, wo festgelegt wird, was für Anstrengungen zur Ermittlung des Urhebers bzw. der Inhaber des Urheberrechts an einem „verwaisten“ fremden Werk Nutzungsinteressenten ggf. auf sich nehmen müssen, ehe sie die Suche ergebnislos aufgeben dürfen und das Werk unter Umständen auch ohne Genehmigung mit dem Vermerk nutzen dürfen, es sei ihnen trotz intensiver Bemühungen nicht möglich gewesen, die Rechteinhaber ausfindig zu machen und eine ordentliche Genehmigung der Nutzung einzuholen. In diesem Zusammenhang regelt seit 2013 der genannte Anhang zu § 61a UrhG unter Nr. 4 für Filmwerke sowie für Bild- und Tonträger, auf denen Filmwerke aufgenommen sind, unter anderem, dass „Datenbanken mit einschlägigen Standards und Kennungen […] für audiovisuelles Material“ zu konsultieren seien (Anhang zu § 61a UrhG, Nr. 4 Buchst. e). „Audiovisuelles Material“ erscheint hier offensichtlich als Sammelbegriff für „Filmwerke“ sowie „Bild- und Tonträger, auf denen Filmwerke aufgenommen sind“. Erneut liegt die rechtstechnische Funktion des Materialbegriffs darin, dass von der Unterscheidung zwischen urheberrechtlich geschützten Werken und anderen Gegenständen, die durch das Urheberrecht nicht erfasst werden, unter Umständen jedoch durch Leistungsschutzrechte der Film- und/oder Tonträgerhersteller geschützt sein mögen, abstrahiert wird.

3.3 Materialbegriffe im europäischen Urheberrecht

Auch im europäischen Urheberrecht wird der Materialbegriff vor allem in diesem Sinn als übergreifende Kategorie für Vervielfältigungsstücke urheberrechtlich geschützter Werke und anderer, nicht als Werk geltender Schutzgegenstände der als dem Urheberrecht ‚verwandt‘ geltenden Leistungsschutzrechte verwendet. So werden in Art. 8 der EU-Richtlinie von 2001 zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der Informationsgesellschaft (InfoSoc-RL) die Mitgliedsstaaten verpflichtet, dafür zu sorgen, dass „Rechtsinhaber, deren Interessen durch eine in seinem Hoheitsgebiet begangene Rechtsverletzung beeinträchtigt werden, Klage auf Schadenersatz erheben und/oder eine gerichtliche Anordnung sowie gegebenenfalls die Beschlagnahme von rechtswidrigem Material [...] beantragen können“ (Art. 8 Abs. 2 Infosoc-RL 2001/29/EG).

3.3.1 Anderes Material

Zugleich erlaubt die Richtlinie von 2001 Ausnahmen vom exklusiven Vervielfältigungs- und Verwertungsrecht der Urheber „für die beiläufige Einbeziehung eines Werks oder sonstigen Schutzgegenstands in anderes Material“ (Art. 5 Abs. 3 lit. j Infosoc-RL), von dem unbestimmt bleiben kann und soll, ob es seinerseits den Status eines urheberrechtlich geschützten Werkes erlangen mag oder nicht.

Spannender im Hinblick auf die Diskussion über das Verhältnis von Material und Werk im Urheberrecht ist Artikel 14 der DSM-Richtlinie vom 17. April 2019 über das Urheberrecht und die verwandten Schutzrechte im digitalen Binnenmarkt, der für gemeinfreie Werke der bildenden Kunst festlegt:

Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass nach Ablauf der Dauer des Schutzes eines Werkes der bildenden Kunst Material, das im Zuge einer Handlung der Vervielfältigung dieses Werkes entstanden ist, weder urheberrechtlich noch durch verwandte Schutzrechte geschützt ist, es sei denn, dieses Material stellt eine eigene geistige Schöpfung dar.

(Art. 14 DSM-RL 2019/790 EU)

Nachdem die Schutzfrist abgelaufen ist, wird aus seinem bis dahin urheberrechtlich geschützten ein gemeinfreies Werk (s. o. 2.4). Dadurch verändern sich die Bedingungen, unter denen es Dritten erlaubt ist, auf das betreffende Werk zuzugreifen, es zu kopieren, abzubilden, weiterzuverbreiten oder auch es zu benutzen für eigenes Werkschaffen. Grundsätzlich steht es nunmehr jedermann frei, damit nach Belieben zu verfahren. Im amerikanischen Schrifttum ist gelegentlich von „public domain materials“ die Rede (Mazzone 2006, 1093). Der Bundesgerichtshof verwendet entsprechend den Begriff des ‚gemeinfreien Stoffes‘.Footnote 57

Nun hat der europäische Gesetzgeber festgestellt, dass „Material, das im Zuge einer Handlung der Vervielfältigung“ eines gemeinfreien Werkes entstanden ist, „weder urheberrechtlich noch durch verwandte Schutzrechte geschützt“ sein soll. Dieser Punkt war klärungsbedürftig, nachdem insbesondere das Leistungsschutzrecht von Fotografen an Lichtbildern, auf denen gemeinfreie Werke der bildenden Kunst abgebildet sind, von einigen Museen und Bildagenturen als Rechtsgrundlage in Anspruch genommen worden war, um auch nach Ablauf des urheberrechtlichen Schutzes für das abgebildete Werk weiterhin Ausschließlichkeitsrechte nun für den Gebrauch von Abbildungen des betreffenden Werkes zu reklamieren. Hier wird der ‚Materialbegriff‘ offenbar verwendet, um medienunspezifisch alle möglichen Kategorien von Vervielfältigungsstücken anzusprechen, wobei neben ‚Material‘, das urheberrechtlich nicht schutzfähig ist, also keine Werkqualität aufweist, ausdrücklich auch die Möglichkeit bedacht wird, dass in manchen Fällen solches ‚Material‘ „eine eigene geistige Schöpfung“ darstellen und deshalb als eigenständiges, neues Werk im Sinn des europäischen Urheberrechts schutzfähig sein könnte, in welchem Fall die Schutzfrist für das betreffende neue Werk wiederum vom Schaffenszeitpunkt über die gesamte Lebenszeit seines Urhebers und weitere 70 Jahre nach seinem Tod gewährt wird.

3.3.2 Stoff

Neben dem Begriff ‚Material‘ ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung verwandter Begriffe wie z.B. „Stoff“ (frz. „matière“) von Interesse.Footnote 58 So regelt Art. 3 I Satz 1 der Datenbank-Richtlinie von 1996, dass „Datenbanken, die aufgrund der Auswahl oder Anordnung des Stoffes eine eigene geistige Schöpfung ihres Urhebers darstellen, als solche urheberrechtlich geschützt“ werden sollen.

3.4 Gebrauch in der Rechtsprechung

In der Rechtsprechung findet der Materialbegriff vielfältige Verwendung, u.a. zur Bezeichnung von Materialien, aus denen z. B. Werke der bildenden Kunst oder der Baukunst hergestellt wurden, so dass im Zuge der Restaurierung darüber gestritten werden mag, ob die verwendeten Materialien dem „Originalmaterial“ entsprechen oder durch die Verwendung von Ersatzmaterial ggf. ein Eingriff in die Gestaltungsentscheidungen des Urhebers vorliegt,Footnote 59 sowie allgemein für Bild- oder Tonträgermaterial.Footnote 60 Kunstspezifischer ist auch von „musikalischem Material“ die Rede wie z. B. einem werkprägenden Gitarrenriff, auf das bei der Schaffung eines neuen Werkes rekurriert wurde.Footnote 61 Auch zur Bezeichnung von Texten oder anderen Entwurfsmaterialien, die als potentiell urheberrechtlich schutzfähiges Werk – etwa in Gestalt eines Drehbuches – angesehen werden, wurde der Materialbegriff verwendet, da eine Entscheidung der Frage, ob es sich tatsächlich um ein geschütztes Werk oder ggf. vielleicht auch mehrere geschützte Werke oder lediglich um eine nicht selbständig schutzfähige Bearbeitung einer fremden Vorlage handelt, vermieden werden sollte.Footnote 62 Im Hinblick auf die rechtliche Regelung der Produktion und Verbreitung von Literatur (im weiteren Sinn) ist auch die Verwendung des Materialbegriffs in Auseinandersetzungen um unveröffentlichte Texte oder Tondokumente interessant, die zu Zwecken der Hervorbringung urheberrechtlich geschützter Werke hergestellt und ggf. Dritten zur Verfügung gestellt wurden, deren rechtlicher Status jedoch unter Umständen unklar oder strittig sein kann.Footnote 63

Vor allem aber wird ‚seit den Kindertagen des Urheberrechts‘ bzw. Copyright LawFootnote 64 der Materialbegriff in der Rechtsprechung verwendet, wenn darüber gestritten wird, wie die betreffenden Werke oder Teile als Material zu weiterem, fremden Werkschaffen benutzt wurden (s.u. 4). In diesem Kontext bezieht der Begriff sich ausschließlich auf urheberrechtlich geschütztes Material. Zumindest ein Grund dafür, dass von ‚Material‘, an dem der Anspruchsteller ein urheberrechtlich begründetes Ausschließlichkeitsrecht zu besitzen behauptet, gesprochen wird und nicht jeweils nur von dem „Werk“, auf das der Anspruch sich bezieht, dürfte darin liegen, dass die Verwendung des Materialbegriffs es ermöglicht, von der Unterscheidung zwischen dem Werk und den Teilen des Werkes, um die es im jeweiligen Streit nur geht, zu abstrahieren und Ansprüche, die eigentlich nur im Bezug auf das Werk erhoben werden können, auch im Bezug auf Gegenstände zu erheben, die keine selbständigen Werke sind. Solches ‚Material‘ kann in anderer Weise als ein ‚in sich vollendetes‘ Werk auf seine Zusammensetzung auch in quantitativer oder relationaler Hinsicht analysiert werden. Dabei bereitet die Verwendung des Materialbegriffs für schutzfähige Teile urheberrechtlich geschützter Werke mindestens rhetorisch, in der Folge aber auch rechtlich den Übergang der Gegenstände, auf die er angewendet wird, aus der ‚Werkherrschaft‘ des Inhabers der Urheberrechte an der benutzten Vorlage in den Status des disponiblen ‚Rohmaterials‘ vor, dessen der Nutzer sich zu seinen Zwecken in transformierender Weise bedienen durfte.Footnote 65

3.5 „Urheberrechtlich geschütztes Material“

In Auszügen aus der Google-Books-Datenbank und bei manchen Online-Buchhändlern werden die digitalen Kopien eingescannter oder maschinell übermittelter Buchseiten, die als ‚Vorschau‘ angezeigt werden, jeweils am Rand mit einem unscheinbaren Vermerk versehen, der auf Computern mit einer IP-Adresse aus Deutschland in der Regel lautet: „Urheberrechtlich geschütztes Material“. In der anglophonen Welt erscheint an den entsprechenden Stellen: ‚Copyrighted Material‘. In dieser Formel schlägt sich eine gewisse Verlegenheit nieder: In der Tat sind die Ausschnittskopien aus urheberrechtlich geschützten Werken, die auf diesen Webseiten öffentlich zugänglich gemacht werden, jeweils keine Vorkommnisse der zugrundeliegenden urheberrechtlich geschützten Werke. Sie sind allenfalls Kopien von einzelnen Seiten, also von – in der Regel kleinen – Teilen der betreffenden Werke. Diese Teile mögen in manchen Fällen auch für sich urheberrechtlich schutzfähig sein. Doch das ist alles andere als klar. In etlichen Fällen ist die Behauptung, es handle sich um „urheberrechtlich geschütztes Material“ schlicht falsch, sei es aufgrund abgelaufener Schutzfristen des zugrundeliegenden Werkes oder auch aufgrund mangelnder Schutzfähigkeit der abgebildeten Inhalte, bis hin zu auf diese Weise markierten Vakat-Seiten. Entsprechend ungewiss ist auch, ob solche Markierungen irgendeine rechtliche Bedeutung haben

Für Google Books haben die amerikanischen Gerichte bekanntlich festgestellt, dass der transformative Gebrauch, den die Firma von den eingescannten, teilweise noch urheberrechtlich geschützten Werken macht, indem sie kleinere oder größere Ausschnitte über die Suchmaschine zur Online-Einsichtnahme bereitstellt, in einem Maß „transformativ“ ist, dass er zumindest im Rahmen der amerikanischen ‚Fair-use‘-Regelung als zulässig gilt.Footnote 66 Inwiefern das auch für allfällige Anschlussverwendungen z. B. von Kopien von Screenshots der Bildschirmausgabe einer gescannten Seite aus einem urheberrechtlich geschützten Werk aus der Google-Books-Datenbank gelten mag, ist bisher nicht geklärt und dürfte ggf. auch von den Umständen der betreffenden Anschlussverwendung und von dem anzuwendenden Recht des Landes, in dem der Rechteinhaber ansässig ist, sowie ggf. von dem Recht des Landes, in dem die Anschlussverwendung erfolgt, abhängen.

3.6 Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Gebrauch des Materialbegriffs im Urheberrecht insgesamt wenig ausgeprägt und überwiegend unspezifisch ist. Der Begriff wird teilweise als Residualkategorie für all das verwendet, was gerade nicht als urheberrechtlich geschütztes Werk oder Teil eines Werkes angesprochen werden soll, teilweise aber auch als übergreifende Kategorie, die Werke und Nicht-Werkhaftes gleichermaßen anspricht oder von der Unterscheidung zwischen Werk und Nicht-Werk wie auch von den Unterscheidungen zwischen Text, Bild, Zeichen oder Tonaufnahme abstrahiert. Im Hinblick auf Formen der rechtlichen Vergegenständlichung von (‚literarischen‘ oder auf andere Gebrauchszwecke bezogenen) Texten erscheint insbesondere die Nutzung von Teilen urheberrechtlich geschützter Werke als Material zur Schaffung neuer Werke relevant.

4 Verwendung fremder Werke als Material

Ein grundlegender Typ von Konflikten, die nach einer Regelung im Rahmen des Urheberrechts verlangen, ergibt sich regelmäßig, wenn ein Urheber das urheberrechtlich geschützte Werk eines anderen oder Teile ggf. auch mehrerer fremder Werke als Material für einen eigenen Schaffensprozess benutzt. Dem Urheber des zu fremder Anschlusskreativität benutzten Werkes gefällt vielleicht das Resultat nicht oder er hat andere Pläne zur weiteren Verwertung seines Werkes, die unter Umständen gestört werden könnten, wenn das aus oder mit seinem Werk neu geschaffene Werk des Anderen am Markt erscheint.

Die Regelung dieser Art von Konflikten wird durch das Urheberrecht auf verschiedenen Wegen kanalisiert. Prinzipiell wird anerkannt, dass das ausschließliche Recht des Urhebers an seinem Werk sich nicht nur auf das von ihm selbst geschaffene Werk und dessen Wiedergaben oder Kopien beziehen soll, sondern darüber hinaus auch auf ‚Bearbeitungen‘ oder ‚Umgestaltungen‘ des Werkes oder irgendeines ding-, text-, bild- oder ereignishaften Vorkommnisses.Footnote 67 Die WerkherrschaftFootnote 68 des Urhebers erstreckt sich wesentlich auch darauf, was Dritte mit dem Werk oder aus dem Werk machen mögen. In der Regel wird es dem Autor z. B. eines literarischen Textes kaum gleichgültig sein, ob jemand unter demselben Titel mit oder ohne Angabe des Autors eine gekürzte oder anderweitig veränderte Ausgabe seines Werkes veranstaltet. Übersetzungen, Verfilmungen, Bühnenfassungen oder andere Adaptationen spielen für die Wirkungsgeschichte von literarischen Texten eine oft entscheidende Rolle. Der Autor der übersetzten Vorlage hat ein berechtigtes Interesse daran, zu wissen und im Zweifelsfall auch darüber zu entscheiden, was in der Übersetzung seines Werkes in der jeweiligen Zielsprache gesagt wird, soweit er es denn beurteilen kann. Auch in finanzieller Hinsicht kann das Recht des Autors der Vorlage auf angemessene Beteiligung an den Erlösen aus der Verwertung von Übersetzungen und anderen Bearbeitungen seines Werkes auf den internationalen Märkten die Erträge aus dem Vervielfältigungsrecht für das Originalwerk bei weitem übersteigen.

So wünschenswert und berechtigt es demnach erscheinen mag, dass die Produktion, zumindest aber die Verwertung von „Werken zweiter Hand“Footnote 69 nicht ohne Zustimmung und Beteiligung des Urhebers der Vorlage erfolgen sollte, soweit dessen Rechte dadurch berührt werden, so klar ist andererseits, dass nicht jede Bezugnahme auf ein oder mehrere fremde Werke und auch nicht jede Verwendung von Ausdrucksformen, die bereits in fremden Werken verwendet worden waren, von der Zustimmung des Urhebers oder der Inhaber der Urheberrechte an den betreffenden Vorlagen abhängig gemacht werden kann und darf.

Das Urheberrecht soll „die Erhaltung und Entwicklung kreativer Tätigkeit“ fördern,Footnote 70 und zwar nicht nur derjenigen kreativen Tätigkeit, die in dem nun als Vorlage in Betracht kommenden Werk ihren Niederschlag gefunden hat, sondern auch derjenigen, die in Auseinandersetzung mit dem fremden Werk oder ggf. auch unter Nutzung von Teilen mehrerer fremder Werke als Material zu neuem Schaffen ansetzt. Die Ausübung der Grundrechte auf freie Meinungsäußerung sowie der Freiheit der KunstFootnote 71 darf durch die Wahrung der Urheberrechte an bestehenden Werken und Ausdrucksformen nicht unmöglich gemacht werden. Das Urheberrecht kann daher den Urhebern kein unbeschränktes Verfügungsrecht an sämtlichen Vorkommnissen von kompletten oder teilweisen Wiedergaben, Abbildungen, Fragmenten, Nachahmungen, Bearbeitungen oder Umgestaltungen ihrer Werke gewähren, sondern die Ausschließlichkeitsrechte, die es gewährt, den Rechteinhabern jeweils nur innerhalb bestimmter Grenzen und im Zusammenspiel mit einer Reihe von Schranken oder Ausnahmeregelungen zuerkennen, die Dritten jeweils unter bestimmten Bedingungen die Nutzung der geschützten Werke freistellen.Footnote 72

4.1 Schutzbereichsbegrenzung

Für die Entfaltung der allgemeinen Äußerungsfreiheit (Art. 11 GRCh) sowie weiterer kreativer Tätigkeit (Art. 13 GrCh) sind zunächst die Bestimmungen der Grenze des Schutzbereichs relevant. Neben der zeitlichen Grenze der Schutzfrist, die freilich sehr weit gezogen ist,Footnote 73 kann der Schutzbereich, der dem einzelnen Werk zugeordnet wird, auch in inhaltlicher Hinsicht nicht unbegrenzt sein. Es muss eine Unterscheidung geben zwischen Handlungen oder Artefakten, die als Wiedergabe, Vervielfältigung oder Bearbeitung eines gegebenen Werkes angesehen werden können und somit ggf. unter das Urheberrecht an der benutzten Vorlage fallen, und anderen, für die das nicht gilt. Wo soll diese Grenze liegen?

Zum Verhältnis zwischen einer urheberrechtlich geschützten Vorlage und neu geschaffenen Werken, die darauf zurückgreifen oder sich irgendwie darauf beziehen, stellt § 23 Abs. 1 Satz 2 UrhG allgemein klar: „Wahrt das neu geschaffene Werk einen hinreichenden Abstand zum benutzten Werk, so liegt keine Bearbeitung oder Umgestaltung im Sinne des Satzes 1 vor.“ Die Frage, wie sich der geforderte „Abstand“ zeigen kann oder muss und wie viel Abstand „hinreichend“ sein mag, stellt allerdings die Adressaten und Anwender des Urheberrechts vor nicht geringe Schwierigkeiten.Footnote 74 Die inter- bzw. trans-textuellen Verhältnisse können sehr vielfältig sein.Footnote 75 Dementsprechend gibt es unterschiedliche Ebenen, auf denen ein Text einem anderen ‚nah‘ sein oder Abstand zu ihm gewinnen kann. Gerichte stehen daher immer wieder vor der Aufgabe, die Unterschiede in den Verhältnissen zwischen verschiedenen Texten, die sich dabei ergeben, zu erkennen und entsprechend differenziert zu beurteilen.

Zunächst ist daran zu erinnern, dass durch das Urheberrecht jeweils nur „die individuellen Züge eines Werks […] vor Benutzung und Nachahmung geschützt“ werden,Footnote 76 nicht die dem allgemeinen Formenschatz, gemeinfreien Vorlagen oder ggf. Werken Dritter entnommenen Teile.Footnote 77 Zur Ermittlung des Schutzumfangs, der für eine benutzte Vorlage in Anspruch genommen werden kann, ist im Streitfall jeweils im Einzelnen zu prüfen, inwiefern es sich bei den Teilen oder Aspekten des Werkes der Klägerseite, auf die der Anspruch sich beruft, tatsächlich um eine persönliche geistige Schöpfung des Urhebers des betreffenden Werkes handelt.

4.1.1 Plot, Figuren, Setting

Was für Teile oder Aspekte eines urheberrechtlich geschützten Werkes kommen gegebenenfalls als für sich schutzfähig in Betracht?

In der Rechtsprechung des BGH ist anerkannt, dass bei Werken der Literatur iSd § 2 Abs. 1 Nr. 1 UrhG nicht nur die konkrete Textfassung oder die unmittelbare Formgebung eines Gedankens urheberrechtlich schutzfähig ist. Auch eigenpersönlich geprägte Bestandteile und formbildende Elemente des Werkes, die im Gang der Handlung, in der Charakteristik und Rollenverteilung der handelnden Personen, der Ausgestaltung von Szenen und in der ‚Szenerie‘ des Romans liegen, genießen Urheberrechtsschutz.Footnote 78

Immer wieder umstritten ist die Frage, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang das Urheberrecht ein ausschließliches Recht auf das Erzählen ggf. neuer Geschichten über bereits aus einem urheberrechtlich geschützten Werk bekannte literarische Figuren begründet (Young 2016). Der Streit um das Recht des Autors an seinen literarischen Figuren ist älter als das Urheberrecht.Footnote 79 Aber wie lassen sich solche Auseinandersetzungen ggf. unter Berufung auf die ausschließlichen Rechte entscheiden, die das Urheberrecht heute dem Autor gewährt?

Literarische Figuren sind keine Werke; allenfalls die Texte, in denen sie vorkommen, sind Werke der Literatur. Literarische Figuren sind auch keine Teile von Werken. Allenfalls die Sätze, in denen von ihnen die Rede ist, sind ggf. Teile eines urheberrechtlich geschützten Werkes.Footnote 80 Das neue In-Erscheinung-Treten einer literarischen Figur, die den Lesern aus einer früheren Erzählung bekannt erscheinen dürfte, verhält sich zu dem, was die betreffende Figur in dem früheren Text gewesen war, auch nicht wie ein weiteres Vorkommnis (token) des vorbekannten Typs (Young 2016, 159). Aber was für eine Art von immateriellem Artefakt sind literarische Figuren, und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Geschichten, in denen sie auftreten? Entspricht ihr Verhältnis zum Werk dem der Schachfigur zu dem Figurensatz und dem System der Regeln, die das Schachspiel ausmachen? Oder eher dem der Schachfigur zu einer der zahllosen Partien, die mit dem immer gleichen Figurensatz gespielt werden können?Footnote 81

Dass die unberechtigte Verwendung urheberrechtlich schutzfähiger Teile des Vorlagenwerks in einem Werk ‚zweiter Hand‘ ggf. das Vervielfältigungs- oder das Bearbeitungsrecht des Urhebers oder des Inhabers der betreffenden ausschließlichen Rechte an der Vorlage tangieren kann, ist unstrittig. Ob allerdings der bloße Name einer literarischen Figur oder ihre Charakterisierung durch eine Kombination jeweils mehr oder weniger generischer Eigenschaften ein für sich schon schutzfähiger Teil eines geschützten Sprachwerks sein kann, dürfte in vielen Fällen zweifelhaft erscheinen. Die Anknüpfung an die bekannte Figur mag um des Kontrastes willen gesucht werden. Die Verwendung desselben oder eines ähnlich klingenden Namens dient vielleicht lediglich dazu, einen Bezug zu dem früheren Werk herzustellen, während die Pointe das späteren Werkes darin liegt, dass die Figur Geschichten erlebt, die sie in der Vorlage nicht hätte erleben können, und Eigenschaften an ihr hervortreten, von denen in dem Vorgängerwerk nicht die Rede war oder die der Charakteristik der Referenzfigur sogar widersprechen.Footnote 82

4.1.2 Einige Beispiele

Wie steht es mit Tanja Grotter, der jugendlichen Heldin einer auf dem russischen Kinder- und Jugendbuchmarkt sehr erfolgreichen Romanserie um ein Mädchen mit Zauberkräften in Russland? Sie ist ein Waisenkind, ihre Eltern wurden von einer bösen Hexe namens Chuma-del-Tort ermordet, dem Kind wurde jedoch erzählt, sie seien bei einem Unglück ums Leben gekommen. Es trägt ein merkwürdiges Muttermal an ihrer Nase. Als Kleinkind wurde sie – man weiß nicht, von wem – vor der Tür ihrer Verwandten abgelegt, bei denen sie dann aufwächst, von denen sie aber gegenüber der eigenen Tochter benachteiligt wird. Im Alter von zehn Jahren erhält sie eine Einladung, ein Internat für schwer erziehbare Kinder mit magischen Fähigkeiten zu besuchen, das nur im Flug oder durch Teleportation zu erreichen ist. Auf der Schule entwickelt es freundschaftliche Beziehungen zu zwei Mitschülern. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Hexe Chuma-del-Tort, die ein Amulett sucht, bei dem es sich um Tanjas Muttermal handelt, usw. – Die Autorin der Harry Potter-Serie, Joanne K. Rowling, sah darin wesentliche Merkmale des Plots und der Figurencharakterisierung, die sie in ihrem Werk entwickelt hatte. Rowling und der Time Warner-Konzern haben zunächst in Russland erfolglos versucht, die Verbreitung der Bestseller des Autors Dmitri Jemez zu unterbinden, weil sie darin eine Verletzung ihrer Urheberrechte sowie des Markenrechts an dem auch als Wort- und Wortbildmarke für Time Warner geschützten Namen bzw. dem auf den Harry Potter-Buchumschlägen, Filmen, Merchandise-Artikeln usw. verwendeten Schriftzug sahen.Footnote 83 Mehr Erfolg hatten Rowling und Time Warner 2003 mit ihrer Klage gegen die niederländische Übersetzung des ersten Bandes der russischen Serie. Das niederländische Gericht erkannte deutliche Entlehnungen und eine grundsätzlich zustimmungsbedürftige Bearbeitung des Werkes von Rowling sowie eine Verletzung des Markenrechts. Eine Parodie (s. u. 4.2.2.) sah es nicht als gegeben an. Antragsgemäß wurde dem Verlag die Verbreitung der Übersetzung des Buches von Jemez untersagt.Footnote 84 Eine auf 1000 Stück limitierte Neuausgabe der Übersetzung in einem belgischen Verlag konnte hingegen 2003 ohne rechtliche Auseinandersetzungen verkauft werden.

Sehr differenziert hat das Landgericht Hamburg bei einem auf gemeinfreiem historischem Material aufbauenden Roman bestimmte individuell gestaltete Handlungsabläufe und besonders gestaltete Figuren als urheberrechtlich schutzfähig anerkannt und insofern einen Unterlassungs- bzw. Beteiligungsanspruch der Romanautorin gegenüber einer Filmproduktionsfirma bejaht, deren filmische Auseinandersetzung mit dem vorbekannten historischen Stoff sich teilweise auf die literarische Darstellung der klagenden Autorin stützte.Footnote 85

Der Bundesgerichtshof hat ein Urheberrecht an literarischen Figuren auch über den Wortlaut der sie betreffenden Stellen der Vorlage hinausgehend grundsätzlich bejaht, sofern die literarische Figur durch „die besondere eigenschöpferische Kombination von ausgeprägten Charaktereigenschaften und besonderen äußeren Merkmalen“ als „unverwechselbare Persönlichkeit“ hervortrete.Footnote 86 Allerdings konnte er in dem Fall, in dem es um ein unter der Bezeichnung „Püppi“ angebotenes Clownskostüm für Mädchen ging,Footnote 87 keine Urheberrechtsverletzung zulasten der Erben von Astrid Lindgren erkennen, weil das für das Kostüm möglicherweise vorbildliche Erscheinungsbild der Figur der Pippi Langstrumpf in der bekannten Verfilmung von Ole Helborn (1969) kein Teil des literarischen Werkes war, dessen Urheberrechte durch die Stiftung der Erben der Autorin wahrgenommen werden.

4.2 Schranken des Urheberrechts

Auch in Fällen, wo mangels hinreichenden ‚Abstandes‘ ein Eingriff in bestehende Urheberrechte an einem als Vorlage, Anregung oder Material benutzten fremden Werk vorliegen könnte, kann die Nutzung gleichwohl im Rahmen einer Schrankenbestimmung zulässig sein. In Betracht kommen hier u. a. die Bestimmungen über „unwesentliches Beiwerk“ (§ 57 UrhG) sowie ggf. nutzungszweckbezogene Schrankenregelungen etwa zur Ermöglichung unbehinderten Informationsaustausches in der Berichterstattung über Tagesereignisse (§§ 49, 50 UrhG) oder auch zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung (§§ 60c, 60d UrhG) oder der Lehre (§§ 47, 60a UrhG).

Besondere Bedeutung im Hinblick auf das Recht, neue Werke unter Rückgriff auf bereits öffentlich gemachte fremde Werke oder bestimmte Aspekte der Gestaltung fremder Werke oder in Auseinandersetzung mit fremden Werken zu schaffen, kommt den Schrankenbestimmungen über das Zitat (§ 51 UrhG) sowie über die Benutzung fremder Werke zu Zwecken der Karikatur, der Parodie oder des Pastiche (§ 51a UrhG) zu.

4.2.1 Zitat

4.2.1.1 Rechtslage

Die Schrankenbestimmung über das Zitat erlaubt „die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes […], sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist“ (§ 51 Satz 1 UrhG). Durch die Zweckbindung ergeben sich bestimmte Grenzen des zulässigen Zitats. Nicht jeder Zweck rechtfertigt die zustimmungs- und vergütungsfreie Nutzung eines Zitats.Footnote 88

Das OLG München hat 2012 in einer Entscheidung über die Zulässigkeit einer nicht genehmigten Publikation von Auszügen aus A. Hitlers Mein Kampf – kurz vor Ablauf der Schutzfrist – noch einmal die Grenzen der Zweckbestimmungen, die ein gesetzlich erlaubtes Zitat rechtfertigen können, umrissen. Demnach sollen Zitate nur insoweit auch ohne Zustimmung der Rechteinhaber zulässig sein, als sie „als Belegstelle oder Erörterungsgrundlage für selbstständige Ausführungen des Zitierenden der Erleichterung der geistigen Auseinandersetzung dienen“.Footnote 89 Entscheidend sei, „dass das Zitat nur Hilfsmittel zum Verständnis der eigenen Darstellung bleibt; das zitierende Werk muss die Hauptsache, das Zitat die Nebensache bleiben“.Footnote 90 Nicht durch die Zitatschranke freigestellt sei die Wiedergabe eines fremden Werkes, die „nur zum Ziel hat, dieses leichter zugänglich zu machen oder um seiner selbst willen zur Kenntnis der Allgemeinheit zu bringen“.Footnote 91 Ebenso wenig reiche es aus, wenn „ein Werk in einer bloß äußerlichen zusammenhanglosen Weise eingefügt und angehängt oder zur bloßen Illustration des zitierenden Werks verwendet wird“.Footnote 92 Müsste der Leser bestimmte Textstellen, die wertende Aussagen aus dem Paratext vielleicht stützen könnten, „erst selbst aus der Fülle des gebotenen Materials heraussuchen“, „so könne nicht mehr davon gesprochen werden, dass das Material Beleg oder Erörterungsgrundlage für die Aussagen sei“.Footnote 93 Aus der Zweckbindung des zulässigen Zitats ergeben sich auch Verhältnismäßigkeitserwartungen quantitativer wie qualitativer Art,Footnote 94 deren Verletzung dazu führen kann, dass ein Zitat als die Grenzen des Zulässigen überschreitend beurteilt wird, woraus sich ggf. Lizenzierungserfordernisse oder Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche ergeben mögen.Footnote 95

4.2.1.2 Sachlage

Die typologischen Gegensätze, mit denen die Rechtsprechung die Unterscheidung zwischen zulässigen und unzulässigen Zitaten aus urheberrechtlich geschützten Quellen fasslich zu strukturieren sucht, werden der Vielfalt und Komplexität der in Literatur,Footnote 96 Wissenschaft,Footnote 97 Geschichte, Politik, Recht, Wirtschaft und Alltagskommunikation gebräuchlichen ZitationspraktikenFootnote 98 offenkundig nicht gerecht. Einige Beispiele mögen verdeutlichen, wie und warum in literarischen, historischen und wissenschaftlichen Texten Zitate zu anderen als den von der Rechtsprechung für akzeptabel gehaltenen Zwecken gebraucht werden:

Unter dem Einfluss surrealistischer Texte hatte Walter Benjamin in den späten 20er Jahren den Plan gefasst, eine „Urgeschichte der Moderne“ als „literarische Montage“ aus nichts als prägnanten Zitaten zu komponieren: „Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen. Ich werde keine geistvollen Formulierungen mir aneignen, nichts Wertvolles entwenden. Aber die Lumpen, den Abfall: die will ich nicht beschreiben, sondern vorzeigen.“Footnote 99 Wie das Passagen-Werk, das Benjamin nicht zum Abschluss bringen konnte, am Ende hätte aussehen sollen, wissen wir nicht. Erhalten haben sich umfangreiche Materialsammlungen von Exzerpten und Notizen, die dokumentieren, womit Benjamin sich beschäftigt hat, aber nicht, welchen Gebrauch der Autor letztlich von seinen Zitaten machen wollte.

Alexander Kluges Schlachtbeschreibung (1964) besteht zu großen Teilen aus Zitaten veröffentlichter wie unveröffentlichter zeitgeschichtlicher Quellen. Demonstrativ hält der Autor bzw. Arrangeur die Unterscheidung zwischen eigenen und fremden, fiktiven und dokumentarischen Textstücken in der Schwebe. Keine Stimme kann für die Darstellung eines derart komplexen Geschehens wie der Katastrophe von Stalingrad einstehen; die Wahrheit des Ganzen ergibt sich aus den Spannungen zwischen den diversen Stimmen.

Walter Kempowski hat das Verfahren der Zitatmontage konsequent durchgeführt in seinem Echolot-Zyklus (1993–2005), einem „kollektiven Tagebuch“ zur rekonstruktiv-polyperspektivischen Vergegenwärtigung der Wahrnehmung entscheidender Phasen des 2. Weltkrieges durch die Stimmen von Zeitgenossen, deren Zeugnisse in kalendarischer Ordnung kommentarlos, wenn auch jeweils mit Autorangabe hintereinander montiert sind. Publizierte Quellen werden summarisch durch ein Quellenverzeichnis erschlossen, für unpublizierte Quellen wird pauschal auf das persönliche Archiv des Autors sowie auf weitere in- und ausländische Archive verwiesen.Footnote 100

Fridolin Schley benutzt in seinem Roman Die Verteidigung (2021) in großem Umfang Zitate aus historischen Dokumenten, Verhandlungsprotokollen, Presseberichten, Erinnerungsbüchern sowie aus geschichtswissenschaftlicher Forschungsliteratur zur Darstellung der Beziehung des jungen Richard von Weizsäcker zu seinem Vater, der sich als ehemaliger Staatssekretär in Hitlers Auswärtigem Amt vor dem Nürnberger Kriegsverbrechertribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten musste. Auch wenn der Roman von einem biographisch-historischen Interesse getragen und als Wahrheitssuche inszeniert ist, dienen die Zitate doch nicht als Belege für bestimmte Argumente. Der Erzähler tritt zurück hinter dem polyphonen Spiel der historischen Stimmen, die für sich sprechen und die Darstellung der Figuren und des Geschehens wesentlich tragen, dabei einander auch widersprechen und so die Herausforderung, vor die sich die Richter und die den Prozess aufmerksam verfolgende öffentliche Meinung gleichermaßen gestellt sahen, für das nachgeborene Lesepublikum nachvollziehbar machen. Auch diesem Roman ist ein Quellenverzeichnis beigefügt; genaue Nachweise der Fundstelle, die dem jeweiligen Zitat zuzuordnen wäre, werden jedoch nicht gegeben.

Thomas Meinecke bestritt seine Frankfurter Poetikvorlesungen (Meinecke 2012) ausschließlich mit Zitaten aus Texten Dritter über seine literarischen Veröffentlichungen – aus Rezensionen, Radiofeatures, Interviews, Magister- oder Doktorarbeiten, jeweils mit Angabe des Autors und Erscheinungsortes. Der Popliterat hatte sich die strenge Regel auferlegt, dass er selbst allenfalls in Samples aus zuvor publizierten Interviews zu der einen oder anderen seiner früheren Veröffentlichungen zu Wort kommen sollte. Als erfahrener DJ nutzt er den Gestaltungsspielraum der Auswahl und des Arrangements in der Abfolge der Textausschnitte souverän und führt so zugleich vor, wie seine literarische Produktionsweise sich unterscheidet vom Klischee des von Mitteilungsdrang getriebenen Dichters. Im Durchgang durch das Spiegelkabinett der bedeutungsschwangeren, banalen, schmeichelhaften, verächtlichen oder lächerlichen Reden über den Autor und seine Texte baut sich, in vielfachen Brechungen, sukzessive ein Bild der öffentlichen Persona des Autors auf. Damit bietet die Vorlesung zugleich eine Einführung in den Literaturbetrieb und entfaltet eine Reflexion über die Konstitution des Autors aus den Reden Anderer über ihn und seine Werke.

Die Beispiele ließen sich beliebig vermehren.Footnote 101 Das gilt nicht nur für ‚moderne‘ oder ‚postmoderne‘ Literatur oder historische Darstellungen, sondern schon für Goethe, Shakespeare, Dante und die Bibel und selbstverständlich für journalistische oder auch rechtliche Textpraktiken, in denen des Öfteren ein Zitat ein Argument nicht etwa belegt, sondern ersetzt.

Wo kein Kläger ist, ist kein Richter. Solange niemand Anstoß nimmt, ist in der Literatur vieles möglich, was über die engen Grenzen der von den Gerichten anerkannten Zitatzwecke deutlich hinausgeht.

4.2.1.3 Gebot der kunstspezifischen Betrachtung im Urheberrecht

Allerdings gibt es immer wieder Fälle, in denen Rechteinhaber Anstoß nehmen. Barbara Brecht-Schall, die Tochter und Nachlassverwalterin von Bertolt Brecht, war nicht einverstanden mit der Aufnahme von umfangreichen Zitaten aus Stücken ihres Vaters in Heiner Müllers letztem Theaterstück Germania 3 Gespenster am Toten Mann.Footnote 102 Das Urheberrecht an den von Müller als Material für die Gestaltung einiger Szenen seines eigenen Stückes verwendeten Teilen aus Brecht-Texten scheint in dem Fall nur ein Hebel gewesen zu sein in einem Streit, in dem es im Grunde wohl um eine für die Klägerin schwer erträgliche Darstellung ihrer Mutter in Müllers Stück ging.Footnote 103 – Wie auch immer: Brecht-Schall stieß mit ihren Streichungswünschen bei der ihrerseits das Urheberpersönlichkeitsrecht des Ende 1995 verstorbenen Autors verteidigenden Witwe Heiner Müllers auf taube Ohren. Die Brecht-Erben klagten gegen den Verlag der Buchausgabe auf Unterlassung der weiteren Verbreitung des Textes sowie auf Schadenersatz und waren damit vor dem Landgericht Potsdam zunächst erfolgreich.Footnote 104

Im Berufungsverfahren sah das Brandenburgische Oberlandesgericht dagegen „die Voraussetzungen, unter denen die Übernahme der Passagen als erlaubnisfreies Zitat zu werten ist“, in Müllers Stück als gegeben an.Footnote 105 Das Berufungsgericht maß „den Zitaten trotz ihres Umfangs eine im Rahmen des Stücks untergeordnete Rolle zu, weil sie lediglich Material für die Auseinandersetzung darstellen, nicht aber selbst die Aussage des Stücks bestimmen“ (ebd.). „Die Auseinandersetzung mit den geistigen Hervorbringungen Brechts findet hier dadurch statt, daß der Autor Müller den Zusammenhang, in den die Zitate gestellt werden, bestimmt und sie dadurch kommentiert, gefärbt und in dem von ihm gewählten Licht hat erscheinen lassen.“Footnote 106

Die Klägerinnen akzeptierten das Urteil nicht und verlegten den Streit nach München. Auch dort wurde ihre Klage wie zuletzt in Brandenburg abgewiesen.Footnote 107 Im zweiten Berufungsverfahren jedoch wurde der weitere Vertrieb des Buches erneut untersagt.Footnote 108 Dabei ließ das OLG München sich von der Rechtauffassung leiten, „daß ein Zitat nur dann gerechtfertigt ist, wenn es als Beleg für die vertretene Auffassung, also als Beispiel zur Verdeutlichung der übereinstimmenden Meinungen, zum besseren Verständnis der eigenen Ausführungen oder sonst zur Begründung oder Vertiefung des Dargelegten dient und auch nicht als bloßes Anhängsel erscheint, sondern in den Text eingearbeitet ist“.Footnote 109 Unter diesen Begriff ließ sich das, was Heiner Müller mit den Zitaten in seinem Text macht,Footnote 110 offenkundig nicht subsumieren: „Die übernommenen geschützten Texte Brechts dienen Müller als eigenständige Darstellungsmittel und nicht als Erläuterung oder Vertiefung eigener Ausführungen.“Footnote 111 Nach Auffassung des OLG München war zudem die „zulässige Grenze“ für „nach § 51 Nr. 2 UrhG zulässige Kleinzitate […] eindeutig überschritten“; doch erübrige sich die Frage des gerechtfertigten Umfangs, da in dem zu beurteilenden Fall schon der Zweck der Zitate der Zulässigkeit entgegenstehe (ebd., ZUM 1998, 420).

Gegen dieses Urteil haben Müllers Witwe und der Verlag Verfassungsbeschwerde eingelegt, weil sie darin eine Verletzung sowohl der Meinungsfreiheit (Art. 5 I GG) und insbesondere der Kunstfreiheit (Art. 5 III GG) als auch des Eigentums der Erbin der Verwertungsrechte an Heiner Müllers Werken und des Verlages als Inhaber eines ausschließlichen Nutzungsrechts an dem betreffenden Werk (Art. 14 I GG) sahen. Nach dem Kammerbeschluss des BundesverfassungsgerichtsFootnote 112 verletzte das Urteil des OLG München in der Tat die Freiheit der Kunst, die nicht nur das Recht des Autors, seine Werke nach eigener freier Entscheidung zu gestalten, schützt, sondern auch das Recht des Verlags, dem Werk durch Verbreitung von Vervielfältigungsstücken zur Wirkung zu verhelfen. Bei der Anwendung der Schranken­bestimmung zur Beurteilung der Zulässigkeit von Zitaten in (z. B. literarischen) Kunstwerken sei eine „kunstspezifische Betrachtung“ anzustellen. Dabei sei anzuerkennen, dass eine „innere Verbindung der zitierten Stellen mit den Gedanken und Überlegungen des Zitierenden“ in einem Kunstwerk auch in anderer Weise zustande kommen könne als über die Belegfunktion, auf die es bei Sachtexten in der Regel ankomme, nämlich ggf. auch „als Mittel künstlerischen Ausdrucks und künstlerischer Gestaltung“ (ebd., Rn. 22). Insofern sei der Anwendungs­bereich der Zitatschranke bei Kunstwerken „weiter … als bei … nichtkünstlerischen Sprachwerken“.Footnote 113 Aber wie weit?

Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ist die Grenze des Zulässigen, sofern es sich bei dem Werk, in das das Fremdmaterial aufgenommen wird, um ein Kunstwerk handelt, in der Tat sehr weit: „Der Künstler darf urheberrechtlich geschützte Texte auch ohne einen solchen Bezug in sein Werk aufnehmen, soweit sie als solche Gegenstand und Gestaltungsmittel seiner eigenen künstlerischen Aussage bleiben“ (ebd., Rn. 26). Urheberrechtlich geschützte Werke oder Teile daraus dürfen demnach in ein neues Werk auch ohne Beleg-Footnote 114 oder ErläuterungsfunktionFootnote 115 aufgenommen werden, sofern es sich bei dem aufnehmenden Werk um ein Kunstwerk handelt und soweit die zitierten Texte (oder ggf. auch Bilder oder Werke anderer Art) „als solche“Footnote 116 „Gegenstand“ oder „Gestaltungsmittel“ einer eigenen künstlerischen Aussage werden. Insbesondere der letztere Punkt erweitert das Spektrum der zulässigen Weisen des Zitatgebrauchs gegenüber der bisherigen Rechtsprechung erheblich:

Die Zulässigkeit der Verwendung des fremden Textes im Rahmen eines Kunstwerks hängt nicht davon ab, ob der Künstler sich damit ‚auseinander setzt‘, maßgeblich ist vielmehr allein, ob es sich funktional in die künstlerische Gestaltung und Intention seines Werks einfügt und damit als integraler Bestandteil einer eigenständigen künstlerischen Aussage erscheint.Footnote 117

Ob dieses durch das Bundesverfassungsgericht begründete Privileg für ‚Künstler‘ im Rahmen der EU-weit einheitlich auszulegenden Schrankenbestimmungen Bestand haben kann, und wer sich ggf. darauf soll berufen dürfen, bleibt abzuwarten.Footnote 118 Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes ist das vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 2000 noch eingeforderte Kriterium, dass es sich bei dem das Zitat aufnehmenden Kontext um ein selbständiges, seinerseits urheberrechtlich schutzfähiges Werk handeln müsse, inzwischen überholt. Im Geltungsbereich der Schrankenbestimmungen gem. Art. 5 III lit. d InfoSoc-RL soll es nicht darauf ankommen, ob ein Zitat in einem geschützten Werk oder ggf. in einem nicht urheberrechtlich geschützten Gebilde oder Kommunikationsakt genutzt wird.Footnote 119 Erforderlich ist allerdings die Erkennbarkeit des Zitats und seine Unterscheidbarkeit von dem Kontext, in dem es verwendet wird.Footnote 120

4.2.2 Karikatur, Parodie und Pastiche

Ein Novum zumindest im deutschen Urheberrecht stellt die 2021 als § 51a in das Urheberrechtsgesetz aufgenommene Schrankenregelung „zum Zweck der Karikatur, der Parodie und des Pastiches“ dar.Footnote 121 Während der Karikaturbegriff nach landläufigem Verständnis in erster Linie für bestimmte überzeichnete bildliche Darstellungen in Betracht kommen dürfte, und als Schrankenregelung nur insofern relevant wird, als dabei fremde, urheberrechtlich geschützte Werke wiedergegeben oder als Gestaltungsvorlage benutzt werden,Footnote 122 ist davon auszugehen, dass für intertextuelle Schreibweisen, die die Grenzen des Zitats (s. o. 4.2.1) überschreiten, insbesondere die Kategorien der ParodieFootnote 123 oder des Pastiche relevant sein werden. Wie wird das Verhältnis von Material und Werk im Bereich dieser Schrankenbestimmung verstanden und durch das Recht bestimmt?

Karikatur und Parodie waren nach deutschen Recht bis 2021 unter die Kategorie der „freien Benutzung“ aus § 24 UrhG-aF subsumiert worden,Footnote 124 der jedoch aufgrund einer Entscheidung des Europäischen GerichtshofsFootnote 125 aufgehoben wurde. Der deutsche Gesetzgeber hat daher nun die Art. 5 III lit. k InfoSoc-RL entsprechende Schrankenbestimmung in das UrhG aufgenommen und zudem gemäß Art. 17 VII 2 lit. b DSM-RL die Pflicht der „Dienste für das Teilen von Online-Inhalten“ (OCSSP) zur Wahrung des Rechts der Nutzer, die von dieser Schrankenregelung Gebrauch machen, gegen übergriffige Löschaufforderungen seitens der Inhaber von Urheberrechten an dabei verwendeten Vorlagen in § 5 I UrhDaG klargestellt.Footnote 126

Aber was für Weisen der Nutzung urheberrechtlich geschützter fremder Werke genau werden durch diese Schrankenregelung privilegiert? Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union sind Begriffe der EU-Rechtsordnung, die nicht ausdrücklich für die EU unter Bezugnahme auf bestimmte Begriffe aus dem Recht eines Mitgliedsstaates eingeführt wurden, als „autonome Begriffe des Unionsrechts“ auszulegen. Sofern sie nicht im Rahmen des Unionsrechts definiert sind, muss ihre Auslegung ausgehend von ihrem jeweiligen Sinn „nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch“ erfolgen, wobei zu berücksichtigen ist, in welchem Zusammenhang sie verwendet werden und welche Ziele mit der Richtlinie verfolgt werden.Footnote 127 Als „gewöhnlicher Sprachgebrauch“ wird dabei der außerrechtliche Sprachgebrauch verstanden. Neben der in gängigen Wörterbüchern dokumentierten Alltags- oder UmgangsspracheFootnote 128 können dabei ggf. auch weithin akzeptierte terminologische Konventionen unter Fachleuten für die betreffenden Gegenstände in Betracht kommen. Da es keine gemeinsame Sprache der Mitglieder der EU gibt, sondern nicht weniger als 24 Amtssprachen als grundsätzlich gleichberechtigt anzuerkennen sind,Footnote 129 kann die Ermittlung des „gewöhnlichen Sprachgebrauchs“ eine erhebliche Schwierigkeit darstellen und die Bedeutung, die den betreffenden Begriffen in der Jurisdiktion des EuGH zugeschrieben wird, den Rechtsunterworfenen ggf. über längere Zeit mehr oder weniger unklar sein.

4.2.2.1 Parodie

In seinem Urteil zu einem politisch brisanten Streit zwischen den Erben des belgischen Comiczeichners Willebrord Vandersteen und dem flämisch-nationalistischen Politiker Johan Deckmyn um eine von der Partei Vlaams Belang im Kommunalwahlkampf 2011 verbreitete politische Karikatur, die den damaligen Bürgermeister von Gent angelehnt an eine 50 Jahre alte Zeichnung aus der in Belgien beliebten Comicserie Suske en Wiske von Vandersteen in der absurden Rolle eines „wildgewordenen Wohltäters“, der Geld unter die Leute streut, darstellt,Footnote 130 hat der Europäische Gerichtshof 2014 festgestellt, dass die Schrankenbestimmung aus Art. 5 III lit. k InfoSoc-RL grundsätzlich dahingehend zu verstehen ist, dass eine Parodie „wesentliche Merkmale“ eines urheberrechtlich geschützten fremden Werkes auch ohne Genehmigung oder Vergütung übernehmen darf, sofern sie der Vorlage gegenüber „wahrnehmbare Unterschiede“ aufweist und „einen Ausdruck von Humor oder eine Verspottung“ darstellt.Footnote 131 Dabei soll es ausdrücklich nicht darauf ankommen, ob die Parodie ihrerseits einen „eigenen ursprünglichen Charakter hat“ und ein eigenständiges, schutzfähiges Werk darstellt oder nicht, und ebenso wenig darauf, ob das fremde Werk, aus dem wesentliche Merkmale übernommen wurden, selbst der Gegenstand der Verspottung sein soll („parody of“; „target parody“) oder ob mittels der Übernahme charakteristischer Merkmale eines bekannten fremden Werkes, die insoweit lediglich als Material oder Ausdrucksform genutzt werden, etwas oder jemand Drittes verspottet oder humoristisch dargestellt werden soll („parody with“; „weapon parody“).Footnote 132 Entsprechendes wird für die Karikatur und wohl auch für das Pastiche anzunehmen sein.

In der deutschen Rechtsprechung zur Parodie unter dem damaligen § 24 UrhG-aF war bis 2014 die „antithematische Behandlung“ des parodierten Werkes als Voraussetzung einer „freien Benutzung“ gefordert worden. Die Nutzung deutlich erkennbar referenzierter fremder Werke zu Zwecken der Auseinandersetzung mit anderen Gegenständen der Kritik oder des Spotts galt nicht als zulässig.Footnote 133 Auch in der US-amerikanischen Rechtsprechung sind die Grenzen der Parodie enger gezogen: Eine „parody“ soll nach der Campbell-Entscheidung des Supreme Court von 1994 nur dann als „fair use“ gelten, wenn die Benutzung von charakteristischen Merkmalen oder Bestandteilen eines fremden geschützten Werkes unmittelbar dem Zweck der Auseinandersetzung mit dem betreffenden Werk dient.Footnote 134 Der parodistisch-transformative Rekurs auf ein bekanntes Werk, um etwas oder jemanden zu verspotten, indem der eigentliche Gegenstand des Spotts oder der Kritik in einem bestimmten Kontext dargestellt oder von bestimmten Erwartungen, die durch die Erinnerung an das bekannte Referenzwerk geweckt werden, markant abweichend gezeigt wird,Footnote 135 wird im Unterschied zu diesem engeren Parodiebegriff unter US-amerikanischen Juristen und Rechtswissenschaftlern als „satire“ bezeichnet,Footnote 136 auch wenn diese Verwendung mit literarischen oder literaturwissenschaftlichen SatirekonzeptenFootnote 137 wenig zu tun hat.

Gewisse Grenzen der Parodiefreiheit hielt der EuGH allerdings insofern für erforderlich, als den Inhabern der Urheberrechte an der Vorlage, auf die eine Parodie rekurriert, nicht zugemutet werden könne, hinzunehmen, dass das Werk, dessen Rechte bei ihnen liegen, ggf. auch missbraucht wird, um einer Diskriminierung z. B. von durch dunkle Hautfarbe und muslimische Tracht stereotyp dargestellten Immigranten Vorschub zu leisten,Footnote 138 wie es offenbar in der Absicht des Urhebers und der Verbreiter der Karikatur lag, um deren Zulässigkeit in dem belgischen Verfahren gestritten wurde. Im Rahmen einer umfassenden Interessenabwägung sei vielmehr durch die Gerichte je im Einzelfall „ein angemessener Ausgleich zwischen den Interessen und Rechten der in den Art. 2 und 3 der Richtlinie genannten Personen“ – der Inhaber der Urheberrechte an der karikierend, parodistisch o.ä. benutzten Vorlage – „auf der einen und der freien Meinungsäußerung des Nutzers eines geschützten Werkes, der sich auf die Ausnahme für Parodien im Sinne dieses Art. 5 Abs. 3 Buchst. k beruft, auf der anderen Seite“ zu treffen.Footnote 139 Inwiefern in diese Interessenabwägung neben den in Art. 2 und 3 InfoSoc-RL spezifizierten Rechten der Urheber und ggf. weiterer Inhaber ausschließlicher Rechte an den geschützten Werken sowie ggf. auch von Persönlichkeitsrechten der Opfer des Spottes auf der einen Seite und der Kunst- und Meinungsfreiheit der Parodisten und Nutzungsinteressenten auf der anderen Seite ggf. als zusätzlicher limitierender Gesichtspunkt auch noch übergeordnete gesellschaftliche Interessen etwa im Sinne der Antidiskriminierungsgesetzgebung einbezogen werden müssen – und was das mit dem Urheberrecht zu tun haben soll –, bleibt bis auf weiteres unklar.Footnote 140

4.2.2.2 Pastiche

Anders als die Begriffe der Karikatur und der Parodie war der Begriff des ‚Pastiche‘ im deutschen Recht bisher nicht bekannt.Footnote 141 In der Rechtswissenschaft ist die Beschränkung des Urheberrechts ‚zum Zweck des Pastiche‘ mit Unsicherheit und teilweise auch Sorge aufgenommen worden.Footnote 142

Das Wort, das im Französischen als Lehnwort aus dem Italienischen gilt,Footnote 143 ist im außerrechtlichen Sprachgebrauch im Deutschen bisher nur schwach verbreitet.Footnote 144 Die Auskunft zur Bedeutung des Wortes, die den gängigen Wörterbüchern zu entnehmen ist, erscheint lückenhaft,Footnote 145 teilweise widersprüchlich und insgesamt wenig tragfähig. Schon über das grammatische Genus, das dem Gallizismus im Deutschen zugeschrieben werden sollte, herrscht keine Einigkeit.Footnote 146 Das Duden-Wörterbuch (2022) kennt das Wort nur in der Bedeutung „Nachahmung des Stiles und der Ideen eines Autors“ und markiert es als „veraltet“. Als Bezeichnung für „Stilimitation“ ist es v.a. in der romanistischen Literatur­wissenschaft bzw. Literaturkritik gebräuchlich.Footnote 147

Von diesem Verständnis ausgehend kann allerdings die Bedeutung des Pastiche-Begriffs im Urheberrecht nicht erfasst werden, denn „Stil“ wie „Ideen“ sind keine möglichen Gegenstände urheberrechtlicher Ausschlussrechte.Footnote 148 Ein Werk oder Erzeugnis, das sich auf eine bloße Nachahmung eines Stils oder von irgendwelchen fremden Ideen ohne Übernahme oder Bearbeitung konkreter, urheberrechtlich geschützter Teile eines fremden Werkes beschränkt, griffe gar nicht in fremde Urheberrechte ein.Footnote 149 Soll die urheberrechtliche Schrankenregelung, die Nutzungen fremder Werke oder von Teilen fremder Werke, sofern diese ‚zum Zwecke des Pastiches‘ erfolgen, erlaubnisfrei stellt, nicht gegenstandslos sein, muss sie für Verhaltensweisen oder Gegenstände gelten, die sich als Vervielfältigungs- oder Wiedergabehandlungen bzw. als Vervielfältigungsstücke oder Bearbeitungen auf fremde urheberrechtlich geschützte Werke oder schutzfähige Teile solcher Werke beziehen.

In der Tat wurde und wird der Pastiche-Begriff nicht nur für urheberrechtlich irrelevante Stilimitationen verwendet, sondern seit dem 17. Jahrhundert zunächst im Hinblick auf Bilder, die ge- oder verfälscht waren durch unausgewiesene spätere Bearbeitung bzw. Applikation von Imitatfälschungen,Footnote 150 sowie auf Kunststein.Footnote 151 Das dem Gallizismus zugrundeliegende italienische Wort pasticcio lässt von seiner alltagssprachlichen Verwendung (Pastete, Auflauf) her eher an etwas aus heterogenen Materialien Zusammengewürfeltes oder Zusammengebackenes denken als an ein Imitationsverhältnis. In der kunstkritischen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts tritt neben die Verwendung von pasticcio bzw. pastiche für Fälschungen die Möglichkeit der Anerkennung eines künstlerischen Eigensinns von Mischwerken, die aus fremden Versatzstücken oder aus Nachahmungen von Teilen unterschiedlicher Vorbilder zusammengesetzt sind. Daraus entwickelt sich im 18. Jh. ein eigener Begriff für eine ‚gemischte Komposition‘ („Mélange, Composition mêlée“) in Anlehnung an eine Mehrzahl fremder Vorbilder, zunächst in Bezug auf Bilder, später auch auf Musikstücke, Texte oder Bauwerke.Footnote 152

Seit dem frühen 18. Jahrhundert wurde das italienische pasticcio,Footnote 153 seit dem späteren 18. Jahrhundert auch das französisierte pastiche verwendet für musikalische Kompositionen bzw. Darbietungen, die aus Teilen anderer Kompositionen rekombiniert bzw. arrangiert wurden oder aus der arbeitsteiligen Zusammenarbeit verschiedener Komponisten hervorgingen.Footnote 154 In deutschsprachigen Texten der Zeit wurden derartige Kompilationsopern oder Potpourri-Darbietungen meist in Anlehnung an den it. Gebrauch als ‚Pasticcio‘ bzw. gelegentlich auf deutsch auch als ‚Flickopern‘ bezeichnet.Footnote 155

Im früheren 19. Jh. wurde zwischen Pasticcio und Potpourri dahingehend unterschieden, dass als Pasticcio insbesondere Stücke bzw. Aufführungen bezeichnet wurden, bei denen „den andern Componisten nur ganze Sätze entliehen werden, und derjenige, der sie zusammenstellt, nichts Eigenes dazu mischt“ (Jeitteles 1839, 174). Im Potpourri dagegen „bearbeitet man die gewählten Stücke durch Variationen, allerlei eingängliche Durchführungen und Zwischensätze, wobei man mehr oder weniger auf gesellige Ergötzung und Bravour sieht“ (Fink 1840, 195a).

Insbesondere im englischsprachigen Gebrauch des Pastiche-Begriffs wird der Charakter des Stilbruchs und Stilpluralismus hervorgehoben, wenn zur Erläuterung auf Phänomene wie das medley, patchwork oder mashup verwiesen wird.Footnote 156 „A pastiche is something such as a piece of writing or music […] which contains a mixture of different styles.“Footnote 157 Der Begriff wird zuweilen kritisch bzw. abwertend verwendet,Footnote 158 kann aber auch affirmativ gebraucht werden.Footnote 159 Besondere Relevanz gewann diese seit dem 19. Jh. eingeführte Verwendung des Pastiche-Begriffs seit den 1970er Jahren in der ‚Postmoderne‘-Diskussion.Footnote 160

Erst seit dem späteren 18. Jh. wird Pastiche auch als Bezeichnung für literarische Stilimitationen gebrauchtFootnote 161 Unter einem Pastiche wird hier v. a. eine intertextuelle Schreibweise bzw. ein literarischer Text verstanden, dessen Stil offenkundig bzw. demonstrativ bestimmt ist durch die Imitation charakteristischer Stilmerkmale eines anderen, bekannten (Prä-) Textes, eines bekannten Autors oder auch des Zeitstils einer historischen Epoche, doch ohne direkte Kopie oder wörtliche Übernahme bestimmter Sätze oder Phrasen des jeweiligen Vorbildes. Diese Verwendung des Wortes dominiert seit dem 20. Jh. den französischen Sprachgebrauch, nicht zuletzt aufgrund des verbreiteten Einsatzes solcher Stilübungen im Schulunterricht.Footnote 162 Neben der Anerkennung des künstlerisch-handwerklichen Geschicks sowie der pointierten Charakterisierungsfähigkeit des Pasticheurs drückt das Prädikat allerdings nicht selten auch eine gewisse Geringschätzung der oft als wenig originell wahrgenommenen Elaborate aus.Footnote 163

Seit dem 19. Jh. wird die Verwendung des Begriffs für Stilimitationen ergänzt und teilweise überlagert durch ein gesteigertes Interesse am satirisch-kritischen Potential karikierend-übertriebener Imitationen, die der Literaturtheoretiker Gérard Genette zur Abgrenzung vom „pastiche“ im engeren Sinn als „charge“ bezeichnen möchte.Footnote 164 Der Pastichebegriff nähert sich in dieser Verwendung dem der Parodie und der Karikatur an. Insbesondere im Französischen wird das Spiel mit üblicherweise einem fremden Autor zugerechneten Ausdrucksweisen vornehmlich um des komischen Effekts willen praktiziert und geschätzt. Eine satirisch-polemische Intention der Bezugnahme auf das Vorgängerwerk oder auch eine Hommage mag in vielen Fällen im Spiel sein, ist jedoch nicht erforderlich für die Einstufung eines Werkes als Pastiche.

Die Frage, vor der die Interpreten und Anwender des geltenden europäischen und nun auch des deutschen Urheberrechts bei der Auslegung von § 51a UrhG im Rahmen des Art. 5 III lit. k InfoSoc-RL stehen und die letztlich wohl durch den EuGH wird entschieden werden müssen, spitzt sich angesichts der bisherigen BegriffsverwendungenFootnote 165 letztlich zu auf die Alternative zwischen einerseits einem auf bestimmte Fälle der Imitation, die aufgrund der Übernahme werkprägender charakteristischer Ausdrucksformen als urheberrechtlich relevant gewertet wird, beschränkten Pastiche-Begriff und andererseits einem weiteren, der auch die Rekombination von heterogenen Materialien, die ggf. auch fremden urheberrechtlich geschützten Werken entnommen sein können, als durch die Schrankenbestimmung im Interesse der Kunst- und Kommunikationsfreiheit erlaubte Handlung und die daraus erwachsenden Artefakte als uneingeschränkt verkehrsfähig gelten lässt.

Die Bundesregierung hat in der Begründung ihres Gesetzentwurfs die Erwartung geäußert, dass „moderne Formen transformativer Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte insbesondere im digitalen Umfeld unter die Begriffe der Karikatur, der Parodie oder des Pastiches gefasst werden“ könnten.Footnote 166 Als Beispiel solcher Formen transformativer Nutzung bekannter Werke werden „‚nutzergenerierte Inhalte‘ (User Generated Content)“ genannt,Footnote 167 die auch in Art. 17 VII 2 sowie in Erw.Gr. 70, Satz 2 DSM-RL ausdrücklich als durch die Schrankenregelung zu privilegierenden Nutzungsformen urheberrechtlich geschützter ‚Inhalte‘ aufgeführt werden. Neben Sampling- und Remix-Kompositionen im Bereich der Musik oder Video-Mashups,Footnote 168 die ggf. auch in größerem Umfang auf urheberrechtlich geschützte Materialien zurückgreifen, um daraus neue Stücke zu komponieren, könnten auch diverse Spielformen der literarischen AvantgardeFootnote 169 oder auch der Fan Fiction bzw. Fan ArtFootnote 170 unter der Pastiche-Schranke zulässig sein.Footnote 171 Allerdings bleibt, solange der Europäische Gerichtshof in der Frage noch kein klärendes Wort gesprochen hat, eine erhebliche Rechtsunsicherheit, die die literarische und allgemein die künstlerische Produktion sowie die kritische Kommunikation in analogen wie digitalen Medien hemmen dürfte, und zwar sowohl auf Seiten derjenigen, die unsicher sind, ob sie die Veröffentlichung oder öffentliche Zugänglichmachung einer Pastiche-Komposition über Online-Kanäle riskieren können oder sich dadurch vielleicht erhebliche rechtliche Probleme einhandeln könnten, als auch auf Seiten derjenigen, die sich fragen, inwiefern die Geschäftskonzepte, auf denen bisherige Investitionsentscheidungen z. B. in der Musik- oder Multimediaproduktion beruhten, angesichts der Pastiche-Schranke noch zukunftsfähig sein mögen.

5 Fazit

Auf der Ebene der Gesetzestexte (law in the books) stellt der Werkbegriff die grundlegende gegenstandsbestimmende Kategorie des Urheberrechts dar (s.o. 2), während der Materialbegriff nur an untergeordneter Stelle und in wenig ausgeprägter Funktion in Erscheinung tritt (s.o. 3). Auf der Ebene des Rechtslebens (law in action), der literarischen und künstlerischen Praxis sowie der gesellschaftlichen Kommunikation überhaupt erweist sich hingegen die Kategorie des sprachlichen oder literarischen Materials, des ‚Stoffs‘ und der Ausdrucksformen, als zentral. Insbesondere die Konflikte um die Möglichkeiten und Formen der Nutzung fremder Werke als Material zu neuem Werkschaffen oder generell zu allen möglichen Darstellungs- oder Artikulationszwecken verlangen grundsätzlich, aber stets auch fallbezogen, nach einer Regelung. Die urheberrechtlichen Kategorien des Werks und der Bearbeitung sowie des Zitats, der Karikatur, der Parodie und neuerdings auch des Pastiche als schrankenprivilegierter Nutzungstypen (s.o. 4) strukturieren diese Auseinandersetzungen, indem die teilweise antagonistischen Ansprüche von Urhebern, Nutzern und potentiellen Nutzungsinteressenten jeweils anerkannt, aber zugleich auch limitiert und an bestimmte Bedingungen geknüpft werden. Allerdings gibt es nicht ‚das Urheberrecht‘ (oder Copyright), sondern nur jeweils bestimmte Rechtslagen, die als Niederschlag und vorläufiges Ergebnis dieser Auseinandersetzungen geschichtlich etabliert wurden und sich weiter entwickeln werden. Sie werden voraussichtlich noch auf längere Sicht auch von Rechtsordnung zu Rechtsordnung variieren, ungeachtet aller seit über 150 Jahren verfolgten Bemühungen um internationale Harmonisierung des Rechts in diesem Bereich. Die Unterschiede in der Rechtslage können unter Umständen erhebliche Folgen für die Produktions- und Verbreitungschancen, Gestaltungsoptionen und die Zugänglichkeit literarischer Werke und außerliterarischer Artikulationsformen nach sich ziehen (Ortland 2020, 247 f.). Die Untersuchung der Weisen, wie das (jeweilige) Urheberrecht die Verhältnisse und die zulässigen oder als unzulässig geltenden Übergänge zwischen Material und Werk prägt und was daraus für die Möglichkeiten des literarischen Schaffens und der literarischen Kommunikation folgt, wird daher weitere, insbesondere komparatistische Studien erfordern, in denen Methoden der Rechtsvergleichung und der vergleichenden Literaturwissenschaft in produktiver Wechselwirkung weiter zu entwickeln sein werden.