3.1 Einleitung

Die rasante technologische Entwicklung der letzten 10 bis 20 Jahre hat maßgeblich unsere Lebens- und Arbeitswelt beeinflusst. So sind in fast allen Haushalten, in denen Jugendliche heute leben, Smartphones und Computer vorhanden und damit einhergehend ist auch eine Internetnutzung mit der Fülle an Informationen und Daten jederzeit möglich (mpfs, 2021, S. 5). Das Tablet ist seit der Vorstellung des ersten iPads im Jahr 2010 bereits heute ein allgegenwärtiger Begleiter und in rund ¾ der Haushalte, in denen Jugendliche leben, vorhanden (mpfs, 2021, S. 5). (Weiter-)Entwicklungen des letzten Jahrzehnts, wie beispielsweise die der Virtual-Reality-(VR-) und Augmented-Reality-(AR-)Technologien, Streaming-Dienste, Messenger, Roboter und 3D-Drucker, sind nun auch für jede und jeden verfügbar und erschwinglich. Maschinelles Lernen, künstliche Intelligenz (KI) und Algorithmen jeglicher Art sind nicht nur in den weitverbreiteten Sprachassistenten und Smart Homes integriert, sondern auch häufig unbemerkte alltägliche Datensammler und -verarbeiter. Wir können heute nur erahnen, was in den nächsten zehn Jahren und darüber hinaus entwickelt wird und welchen Einfluss das auf unser zukünftiges Leben und Arbeiten hat.

Ein auf die heutige und zukünftige Welt vorbereitender Unterricht muss sich ebenfalls ständig weiterentwickeln, damit Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag verantwortungsvoll mit neuen digitalen Technologien sowie den zur Verfügung stehenden Informationen umgehen lernen und auf die zukünftige Arbeitswelt vorbereitet sind (KMK, 2017). Gleichsam besitzen die neuen digitalen Technologien das Potenzial, das Lehren und Lernen der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. So finden sich unter anderem vielfältige positive empirische Befunde zum Einsatz von kognitiven Tutoren (Ma et al., 2014) oder Simulationen (D’Angelo et al., 2014) für das Lernen der Schülerinnen und Schüler.

Wie sich Unterricht entwickelt und ob diese Technologien Einzug in den Schulalltag finden, ist das Produkt vieler Entscheidungen von vielen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Die Bildungsadministration und die Bildungswissenschaften können Empfehlungen und Vorgaben machen – etwa hinsichtlich der Ausbildung zukünftiger Lehrkräfte, der Bildungspläne und der Rahmenvorgaben für Unterricht. Eine Umsetzung im Klassenzimmer ist aber letztlich stets die Entscheidung einzelner Lehrkräfte oder Kollegien an einer Schule. Die Ergebnisse der ländervergleichenden Studie International Computer and Information Literacy Study (ICILS) deuten jedoch darauf hin, dass Lehrkräfte dem Mehrwert von digitalen Technologien für den eigenen Unterricht eher skeptisch gegenüberstehen (Drossel et al., 2019). Zudem schätzen sie die eigenen Kompetenzen aktuell auch als eher unzureichend ein (Drossel et al., 2019). Dabei fokussiert ICILS auf den Ist-Zustand des Einsatzes digitaler Medien und der Kompetenzen von Lehrkräften und erlaubt somit nur begrenzt einen Ausblick auf den Unterricht der Zukunft. Während es somit zwar bereits Befunde zu den aktuellen Kompetenzen sowie zukünftigen Bedürfnissen von Lehrkräften für die Gestaltung einzelner digitaler Technologien gibt (z. B. Holstein et al., 2017), finden die Visionen, also die Vorstellungen, von Lehrkräften über die Gestaltung des Unterrichts der Zukunft bisher wenig Berücksichtigung in der empirischen Forschung. In einer ersten explorativen Studie von Fluck und Dowden (2013) wurden gemeinsam mit australischen Lehramtsstudierenden in einem Ideenworkshop Visionen über den digital gestützten Unterricht der Zukunft entwickelt. Dieses Vorgehen erwies sich in der Studie als vielversprechend und zeigte, dass sich der Großteil der Studierenden in dieser digital gestützten Zukunft wiederfinden und erste Ideen für deren Einsatz entwickeln konnte (Fluck & Dowden, 2013). Erkenntnisse über die Visionen von praktizierenden Lehrkräften liegen jedoch bisher nicht vor.

In diesem Kapitel werden wir daher sowohl die Gruppen der Lehrkräfte als auch der Lehramtsstudierenden und ihre Vorstellung von zukünftigem Unterricht im Sinne einer wünschenswerten Vision in den Blick nehmen und diese in Bezug setzen zu den digitalen Kompetenzen, die für zukünftige Lehrkräfte von der EU empfohlen sind. Die Forschungsfragen lauten:

  1. 1.

    Wie stellen sich Lehrkräfte und Studierende den Unterricht in 10 Jahren vor?

  2. 2.

    Inwiefern deckt sich dieses Bild mit den Kompetenzen des DigCompEdu-Modells für Lehrende?

3.2 Das Rahmenmodell DigCompEdu

Welche Anforderungen eine Bildung in der digitalen Welt erfüllen sollte, beschreibt das gleichnamige Strategiepapier der Kultusministerkonferenz (KMK, 2017). Demnach soll das Lernen mit und über digitale Medien und Werkzeuge bereits ab der Grundschule beginnen. Bis zum Ende der Schulpflichtzeit sollen alle Kinder und Jugendlichen über die Kompetenzen in der digitalen Welt verfügen (KMK, 2017, S. 11). Neben einer funktionierenden digitalen Infrastruktur, die mit dem DigitalPakt Schule weiter ausgebaut werden soll, bedarf es als notwendige Voraussetzung gemäß der KMK (2017) der Klärung rechtlicher Fragen (u. a. Datenschutz und Urheberrecht) sowie der Qualifikation der Lehrkräfte und der Weiterentwicklung des Unterrichts (KMK, 2017, S. 11). Lehrkräfte müssen nicht nur die digitale Kompetenz der Schülerinnen und Schüler fördern, sondern auch Lehr-Lern-Formen mithilfe von digitalen Technologien umsetzen und Technologien zur beruflichen Zusammenarbeit sowie eigenen Weiterbildung nutzen können. Diese neuen und zusätzlichen Anforderungen an Lehrende werden im Europäischen Rahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu) beschrieben (Abb. 3.1).

Abb. 3.1
figure 1

(Eigene Darstellung nach Redecker, 2017, S. 8 und EU, 2017, S. 2)

DigCompEdu-Rahmen.

DigCompEdu

Der Europäische Rahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden beschreibt in sechs Bereichen die professionsspezifischen Kompetenzen, über die Lehrende zum Umgang mit digitalen Technologien verfügen sollten. Die Bereiche umfassen die Nutzung digitaler Technologien im beruflichen Umfeld (z. B. zur Zusammenarbeit mit anderen Lehrenden) und die Förderung der digitalen Kompetenz der Lernenden. Kern des DigCompEdu-Rahmens bildet der gezielte Einsatz digitaler Technologien zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Unterricht.

Die sechs Bereiche werden weiterhin in insgesamt 22 Kompetenzen mit jeweils sechs Kompetenzstufen ausdifferenziert (Redecker, 2017). Auf europäischer Ebene bietet der DigCompEdu-Referenzrahmen damit Bildungseinrichtungen Unterstützung bei der Auswahl und Entwicklung eigener Rahmen und gezielter Bildungsmaßnahmen für Lehrende aller Bildungsebenen. Beispielsweise basieren der spanische Rahmen Common Digital Competence Framework for Teachers (INTEF, 2017) oder der englische Rahmen Digital Teaching Professional Framework (ETF, 2018) auf DigCompEdu. Auch in Deutschland fordert die KMK (2021) in ihrer Ergänzung des Strategiepapiers, dass nun alle Länder „ausgehend vom DigCompEdu eigene phasenübergreifende Kompetenzrahmen für die Aus-, Fort- und Weiterbildung der Lehrkräfte sowie des weiteren pädagogischen Personals“ entwickeln und fortschreiben (KMK, 2021, S. 26). Erste Beispiele für die Umsetzung und Einbindung des DigCompEdu-Rahmens in der Lehrkräftebildung liefern das Bayerische Kultusministerium mit dem angepassten Kompetenzrahmen DigCompEdu Bavaria (mebis-Redaktion, 2021) oder auch mehrere Landesinstitute (z. B. in Berlin-Brandenburg, Thüringen und Niedersachsen) zur Ermittlung von Fortbildungsbedarfen und Zuordnung von Fortbildungsangeboten (z. B. Napierski et al., 2019).

Der erste DigCompEdu-Bereich berufliches Engagement skizziert eine stets reflektierte und sich ständig digital weiterbildende Lehrperson, deren Arbeitspraxis geprägt ist von Kommunikation und Kollaboration über Fachbereiche und Schulgrenzen hinaus. Im zweiten Bereich digitale Ressourcen wird eine Lehrperson beschrieben, die digitale Lehr- und Lernressourcen im Internet finden, bewerten und auswählen kann und darüber hinaus auch unter Beachtung der Urheberrechte für den eigenen Unterrichtskontext und die Lerngruppe entsprechend modifizieren oder auch neue Ressourcen erstellen kann. Außerdem organisiert die Lehrkraft die Fülle an digitalen Ressourcen effizient, teilt diese mit verschiedensten Akteuren und bewahrt dabei stets die bekannten rechtlichen Vorgaben. Eine nach DigCompEdu-Bereich 3 digital kompetente Lehrkraft unterrichtet nicht nur mit digitalen Medien, sondern probiert neue didaktische Methoden und Formate aus. Sie initiiert und fördert digital gestützte kollaborative Lernszenarien gleichermaßen wie selbstgesteuertes Lernen und bietet stets eine unterstützende Lernbegleitung auch via digitaler Kommunikation an. Formative wie auch summative Bewertungen werden gemäß dem vierten DigCompEdu-Bereich mithilfe von digitalen Medien durchgeführt und ausgewertet sowie kritisch analysiert. Auf Basis der Assessments gibt die Lehrperson den Lernenden individuell und zeitnah digital Rückmeldungen und passt bei Bedarf die weitere Unterrichtsgestaltung an. Wie im fünften DigCompEdu-Bereich beschrieben, muss die Lehrperson auch gewährleisten, dass ausnahmslos alle Lernenden die physischen, kognitiven und technischen Möglichkeiten haben, um digital an allen Lernaktivitäten teilhaben zu können. Die Lehrperson ermöglicht individualisiertes Lernen mit individuellen Lernzielen und Lernwegen im eigenen Lerntempo und fördert zudem das aktive und kreative Engagement und das kritische Denken der Lernenden in der Auseinandersetzung mit komplexen Themen. Sie fördert zudem gemäß dem sechsten Kompetenzbereich implizit und explizit die digitale Kompetenz der Lernenden, worunter neben der Informations- und Medienkompetenz auch die Befähigung zur adressatengerechten und effektiven digitalen Kommunikation und Kollaboration sowie die Erstellung digitaler Inhalte unterschiedlichster Formate gehören. Die Lernenden werden angeregt verantwortungsvoll mit digitalen Medien umzugehen und dabei auf das physische, psychische und soziale Wohlergehen zu achten. Sie lernen technische Probleme zu identifizieren und zu lösen und übertragen und nutzen ihr Wissen in komplexen Problemlöseszenarien. Damit beschreibt der DigCompEdu-Rahmen einen visionären Unterricht, der nicht nur die digitalen Kompetenzen der Lernenden fördert, sondern mittels kollaborativer, selbstgesteuerter und individueller Lehr-Lern-Szenarien gestaltet wird, die mithilfe von digitalen Medien vorbereitet, begleitet, unterstützt und evaluiert werden.

Inwiefern diese von Politik und Wissenschaft geprägte Vorstellung über den Unterricht der Zukunft sich mit der von Akteuren aus der Schulpraxis deckt, werden wir in diesem Beitrag beleuchten.

3.3 Methodik und Datenerhebung

Zur explorativen Erhebung der Vorstellungen wurde ein qualitativer Ansatz gewählt. Es fanden drei Erhebungen mit insgesamt 53 Personen in Online-Workshops im Zeitraum von November 2020 bis Mai 2021 statt. Die ersten beiden Online-Workshops fanden im Rahmen der Konferenz Bildung Digitalisierung (KBD20) 2020 bzw. der KonfBD2Go (KBDG21) statt, an denen Bildungsadministratorinnen und -administratoren und Lehrkräfte freiwillig teilnahmen. Der dritte Online-Workshop wurde im Rahmen einer Online-Veranstaltungsreihe für Lehramtsstudierende (LStudi21) zum Thema „Unterrichten mit digitalen Medien“ durchgeführt, um die Vorstellungen von berufserfahrenen und womöglich an die Rahmenbedingungen der schulischen Realität gewöhnten Lehrkräften um die Perspektiven angehender Lehrkräfte zu ergänzen. Am ersten Workshop nahmen 15 Lehrkräfte und 7 Personen aus der Bildungsadministration teil. Am zweiten Workshop nahmen 11 Lehrkräfte und 2 Bildungsadministratorinnen und -administratoren teil. An der dritten Befragung nahmen insgesamt 18 Lehramtsstudierende unterschiedlichster Fächer teil. Um die Teilnahme möglichst niedrigschwellig zu gestalten, wurde auf die Erhebung personenbezogener Merkmale verzichtet. Die Teilnahme war stets freiwillig, die Daten wurden anonym erhoben und die Teilnehmenden haben aus ganz Deutschland online teilgenommen.

Zu Beginn der Workshops haben die Autorinnen und Autoren einen kurzen Input zu aktuellen Möglichkeiten und Beispielen (interaktive Übungen mit Learning-Apps, Moodle und H5P, Lernverlaufsdiagnostik mit Levumi) gegeben und Fragestellungen zur Nutzung, Kuration, Datenverarbeitung und Kompetenz aufgeworfen, die beim Design und Einsatz von Unterrichtswerkzeugen Beachtung finden könnten. Die Lehramtsstudierenden hatten bereits zuvor im Seminar die hier genannten Beispiele und darüber hinaus weitere Werkzeuge und Methoden zum Unterrichten mit digitalen Medien kennengelernt.

Anschließend wurden die Teilnehmenden in Gruppen mit maximal fünf Personen zufällig eingeteilt und erhielten für jede Gruppe ein eigenes digitales Poster des Anbieters Padlet.com. Über alle drei Erhebungszeiträume sind insgesamt zehn Gruppen und damit zehn digitale Poster entstanden. Der Aufbau der zur Verfügung gestellten Padlets war stets identisch: Jedes Padlet bestand aus fünf Spalten. Die erste Spalte stellte die Aufgabenstellung dar, die weiteren vier Spalten gaben Themenbereiche mittels anregender Fragen vor, wobei die Fragen nicht zwingend beantwortet werden mussten, sondern der Gruppe lediglich als Anlass zum Austausch dienen sollten. Zentrales Element der Aufgabenstellung war die Gestaltung einer möglichst wünschenswerten Vision des Unterrichtsalltags in 10 Jahren. Tab. 3.1 illustriert die im Padlet vorgegebenen Themenbereiche (1. Spalte) und Fragen (2. Spalte).

Tab. 3.1 Aufgabenstellung und anregende Fragen auf dem digitalen Poster

In dieser 40-minütigen Phase hatten alle Gruppen einen eigenen Videokonferenzraum zum Reden sowie das online-kollaborativ bearbeitbare Padlet zur Verfügung. Anschließend kamen alle Gruppen wieder im Plenum zusammen und stellten in 3–5 min einander die Visionen vor, stellten Fragen und kommentierten die Ideen. Gesammelt wurden alle bearbeiteten Gruppen-Padlets einer Veranstaltung auf einem übergreifenden Workshop-Padlet, sodass alle Gruppen die Padlets der anderen Gruppen sehen und kommentieren konnten. Zusätzlich wurden auf dem übergreifenden Workshop-Padlet auch zwei Fragen zur Gesamtreflexion gestellt: „Wie bewerten Sie die Ideen zur Gestaltung des Unterrichts von Morgen insgesamt?“ und „Welche Schritte braucht es und von wem?“ Mit der zusammenfassenden Bewertung in Form von schriftlicher Kommentierung im Padlet oder mündlicher Kommentierung im Plenum endete die jeweilige Veranstaltung.

Die Padlet-Beiträge der Gruppen aus der ersten Online-Veranstaltung wurden gegliedert nach Fragestellungen in ein Textdokument übertragen und in MAXQDA 2018 induktiv von zwei Autorinnen und Autoren unabhängig kodiert (siehe z. B. Thomas, 2006). Als Kodiereinheit wurden kurze zusammenhängende Sinnabschnitte, meist ein oder zwei Sätze gewählt. Innerhalb einer Gruppe bzw. eines Posters wurden Codes auch mehrfach vergeben. Anschließend wurden die Codes und Codebeschreibungen beider Kodierenden miteinander verglichen und, im Sinne eines Inter-Rater-Agreements, diskutiert sowie ein Kodierleitfaden festgelegt. Das gesamte Material aller Veranstaltungen wurde anschließend vom dritten Autor unter Berücksichtigung des existierenden Leitfadens rekodiert. Auch hier wurde im Sinne des Inter-Rater-Agreements nicht auf die prozentuale Übereinstimmung geachtet, sondern Unstimmigkeiten – wie etwa die Benennung von Kategorien oder deren hierarchische Anordnung – wurden in der Runde der Kodierenden diskutiert, um zu einer einheitlichen Bewertung zu kommen. Das induktive Vorgehen hat den Vorteil, dass alle Äußerungen der Lehrkräfte Berücksichtigung finden konnten und so möglichst präzise die Vorstellungen der Lehrkräfte über die Zukunft des Unterrichts beschrieben werden konnten.

3.4 Ergebnisse

Die Teilnehmenden erachten eine Vielzahl an Themen als relevant für die zukünftigen Rahmenbedingungen ihrer Arbeit. Abb. 3.2 zeigt das finale Codesystem und die Anzahl an Codings pro Kategorie (Zeile) in den drei Erhebungszeitpunkten sowie in Summe (Spalten).

Abb. 3.2
figure 2

Finales Codesystem und Anzahl der Codierungen pro Erhebungszeitraum und in Summe

Die kodierten Aspekte umfassen eine Vielzahl an Bereichen des Schulsystems von der Unterrichtsgestaltung über Bildungspläne bis hin zur Ausstattung mit Geräten, der Kooperation im Kollegium und der Gestaltung von Lernräumen. Unterschiede zwischen den Angaben der Lehrkräfte (KBD20 mit 4 und KBDG21 mit 2 Gruppen) und denen der Studierenden (LStudi mit insgesamt 4 Gruppen) lassen sich kaum erkennen. Einzig Lehrkräfte stellen Forderungen an die Politik, wie die der „Offenheit gegenüber der Expertise der Pädagogen im Alltag/in Realsituation von Seiten der Politik“ (KBDG21). Außerdem wird nur von Lehrkräften mehr „pädagogische[s]“, „technische[s]“ und „Verwaltungs[-]“Personal (KBDG21, Gruppe 3) sowie eine Umgestaltung des Lernorts Schule durch z. B. Auflösung der „Klingel“ und der „45-Minutentaktung“ (KBD20, Gruppe 3) und der Einführung von „Lernbüros“ und „flexiblere[n] Räume[n]“ (KBDG21, Gruppe 3) gefordert.

Ein genauerer Blick offenbart innerhalb dieser Themenvielfalt aber eine klare Abgrenzung zwischen sehr präsenten Aspekten und solchen, die eher eine Randnotiz darstellen. Die mit Abstand am häufigsten kodierte Kategorie ist „selbstgesteuertes Lernen“ (28 Codes), gefolgt von der „Ausstattung mit digitalen Geräten“ (22 Codes) und der „Lehrendenrolle“ (20 Codes). Der Einsatz von „künstlicher Intelligenz“ (2 Codes) in digitalen Unterrichtswerkzeugen spielt hingegen keine zentrale Rolle in der Vorstellung und den Wünschen der Teilnehmenden und wird nur vereinzelt angesprochen.

Die Vorstellung von modernem Unterricht wird von einer der Gruppen in folgendem Szenario kurz skizziert:

Julia hat sich für das Thema Fake News entschieden. In ihrem Team hat sie die Aufgabe übernommen, eine Website zum Schwerpunkt "Verschwörungsmythen" zu erstellen. Dafür erstellt sie einen Quiz, anhand dessen Besucher der Website erkennen, welchen Mythen sie schon aufgesessen sind. Für weitere Infos wird danach verlinkt auf andere Unterseiten der Website des Teams. Bei Fragen erhält sie Antworten von der/die Lehrer/in (KBD20, Gruppe2).

In dieser Vision finden sich Ideen zu selbstgesteuertem (eigene Entscheidung für ein Thema) und fächerübergreifendem (Thema Verschwörungsmythen) Lernen, der Erstellung von digitalen Produkten (eine eigene Website) sowie einer veränderten Lehrendenrolle (Lehrkraft als Lernbegleitung). Die Gruppe identifiziert somit verschiedene Potenziale, wie sich Unterricht in Zukunft ändern sollte.

Selbstgesteuertes Lernen zeichnet sich für die Teilnehmenden dadurch aus, dass Lernende sich selbst für ein Thema, eine Aufgabe oder auch ein Endprodukt entscheiden können:

  • „Die Schüler*innen suchen sich die Art ihres Lernproduktes selbst aus, egal ob Video, Wikipediaeintrag, Plakat, Podcast, Instagramstory, …“ (KBD20, Gruppe4).

Auf diese Weise entsteht einerseits die Chance für eine stärkere Binnendifferenzierung und andererseits die Möglichkeit, auch fächerübergreifend, projektbasiert und kollaborativ zu arbeiten:

  • „Die Projekte können Jahrgangs oder fächerübergreifend laufen. Ich biete als Lehrkraft verschiedene Workshops an, (zeitlich begrenzt) an denen sich die SchülerInnen anmelden und mitarbeiten können“ (KBD20, Gruppe3).

  • „Schüler*innen sind europa[-]/weltweit mit Partnerschulen vernetzt“ (KBD20, Gruppe3).

Im Gegenzug erfordert das selbstgesteuerte Lernen aus Perspektive der Befragten auch neue Formen der Bewertung und eine Entwicklung der Lehrendenrolle:

  • „… um so auf eigens gewählte Überprüfungsformate zum Ende der Projektwoche hinzuarbeiten. Als Lehrkraft bin ich somit vielmehr Kellner, als Dirigent der ganzen Geschichte“ (LStud, Gruppe2).

  • „[D]er Lernbegleiter muss nur Impulse setzen und mit dem Lernenden überlegen, wie man weiter fördern kann“ (KBD20, Gruppe4).

Bei der gewünschten digitalen Ausstattung gibt es eine erkennbare Präferenz für ein gemeinsames System, in dem Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen, Schülerinnen und Schülern sowie Erziehungsberechtigten genauso funktioniert wie der Austausch von Material oder das Abhalten von Konferenzen:

  • „Lernplattform auf der Lehrer zusammen Unter[r]icht planen und teilen können – Eltern, Schüler, Lehrer haben Zugrif[f]“ (KBD20, Gruppe4).

  • „Jede Schule hat eine Plattform über die alles eingesehen/versendet/hochgeladen/verteilt werden kann. Kommunikation unter Kollegen, Eltern und Schüler[n] läuft über diese Plattform. Konferenzen können in Präsenz oder digital zugeschaltet ablaufen“ (KBD20, Gruppe3).

Dies verbindet sich mit der Forderung an eine bessere Ausstattung der Schulen mit Hardware, hier wird insbesondere auf ein stabiles Internet bzw. WLAN und die Notwendigkeit verwiesen, dass Schülerinnen und Schüler genauso wie die Lehrkräfte mit aktuellen Geräten ausgestattet werden müssen. Moderne Ausrüstung, wie VR-Brillen oder virtuelle Lernumgebungen finden sich wiederum nur vereinzelt unter den Antworten in der Form von Stichworten wieder.

3.5 Zusammenfassung und Diskussion

Aus den kodierten Segmenten lassen sich einige Beobachtungen ableiten, die im Folgenden zusammengefasst werden und die Antwort auf die Forschungsfrage 1, wie sich Lehrkräfte und Studierende den Unterricht in zehn Jahren vorstellen, liefern.

Veränderungen werden an vielfältigen Stellen des Systems Schule gesehen und für notwendig erachtet.

Besonders prominent wird in den Daten die Auflösung der klassischen Unterrichtsmodelle, des Fächerkanons bzw. auch der Jahrgangsstufen genannt. Neue Bewertungsformen, neue Arten des kollaborativen Lernens und damit auch des Lehrens werden von den Teilnehmenden gruppenübergreifend als wünschenswert beschrieben. Darüber hinaus gibt es aber auch andere Bereiche des Systems Schule, zu dem sich Aussagen mehrfach in den Daten finden. Die Öffnung für Expertinnen und Experten von außerhalb – speziell auch für die IT-Ausstattung – und eine stärker ausgeprägte Fort- und Weiterbildungskultur werden ebenfalls gewünscht. Schließlich finden sich, speziell auch von den Lehrkräften als Forderungen an die Politik formuliert, die Wünsche nach mehr Eigenverantwortlichkeit der Schulen, mehr Zeit für das Ausprobieren neuer Wege und eine bessere Fehlerkultur.

Digitalisierung spielt in der Vorstellung des zukünftigen Unterrichts nur eine Nebenrolle.

Zwar wird eine Ausstattung der Schulen, Lehrkräfte und Schülerinnen und Schüler mit entsprechenden Geräten als selbstverständlich gesehen und es finden sich an vielen Stellen Hinweise auf digitale Lernprodukte oder Werkzeuge. Dennoch ist das skizzierte Unterrichtsideal eines selbstbestimmten, fächerübergreifenden Lernens zunächst unabhängig von Fragen nach Digitalisierung oder Digitalität. Auch der Fortbildungsbedarf wird größtenteils nicht explizit zu Digitalem gesehen. Lediglich hinsichtlich der Kommunikation und der Organisation wird durchgängig von digitalen Lösungen ausgegangen.

Auf technischer Seite ist die Vorstellung hauptsächlich geprägt von den Problemen des Status quo.

Sowohl hinsichtlich der gewünschten Ausstattung wie auch hinsichtlich der Features der eingesetzten Werkzeuge finden sich eher Beschreibungen, wie eine gut ausgestattete Schule heutzutage aussehen sollte, als eine Vision für die denkbaren Möglichkeiten oder Wünsche in einem Jahrzehnt. Insbesondere für den Einsatz von KI als Unterstützung von Lehrkräften lassen sich aus den Daten keine konkreten Einsatzszenarien ableiten.

Insgesamt ergibt die Auswertung der Daten somit ein gemischtes Bild. Einerseits gibt es unter den Teilnehmenden eine gemeinsam geteilte Idee des zukünftigen Unterrichts: Schülerinnen und Schüler lernen selbstbestimmt, Lehrende unterstützen sie dabei bestmöglich. Fächer- und Jahrgangsstufen müssen nicht in der heutigen Form weiterexistieren und insgesamt gibt es eine größere Flexibilität, z. B. auch hinsichtlich Bewertungsformen. Da das Feld der Teilnehmenden – auch hinsichtlich ihrer Berufserfahrung und Fächerkombinationen – heterogen war, ist diese Gemeinsamkeit durchaus bemerkenswert. Andererseits gibt es nur wenige – und noch weniger geteilte – Vorstellungen darüber, was digitale Medien im Unterricht der Zukunft für eine Rolle spielen sollten. Zentrale Fragen wie, an welchen Stellen bietet sich welcher Mehrwert und wie sehen die dafür notwendigen Technologien aus, bleiben damit aus Sicht der Teilnehmenden unbeantwortet. Vergleicht man diese Ergebnisse mit den Visionen über den Unterricht der Zukunft in der Studie von Fluck und Dowden (2013) lässt sich feststellen, dass die australischen Studierenden zunächst konkretere Ideen über den Unterricht der Zukunft entwickeln, was jedoch in einer entsprechenden Seminarkonzeption begründet liegt. Ähnlich wie bei den hier untersuchten Lehrkräften lässt sich jedoch eine Fokussierung auf fächerübergreifende und kollaborative Arbeitsweisen erkennen (Fluck & Dowden, 2013). Somit lassen sich trotz der zehn Jahre späteren Erhebung und unterschiedlichen Kontinente gewisse geteilte Visionen über den Unterricht der Zukunft erkennen. Vergleicht man für die Beantwortung von Forschungsfrage 2 die Vorstellung der untersuchten Lehrkräfte mit der durch das DigCompEdu-Modell vorgegebenen Vision (Abb. 3.1), so stellt man fest, dass es besonders in den ersten drei Bereichen (berufliches Engagement, digitale Ressourcen sowie Lehren und Lernen) einen erkennbaren Bereich der Überlappung zu den induktiv ermittelten Kategorien gibt. Eine Möglichkeit dafür könnte sein, dass die Lehrkräfte in diesen Bereichen besonderen Nachholbedarf in ihrem Arbeitsalltag wahrnehmen. Dies ist insbesondere auch durch die Aussagen zur wünschenswerten Ausstattung der Schulen untermauert, die mutmaßlich von einem aktuell wahrgenommenen Defizit geprägt sind.

Auch im DigCompEdu-Modell spielen das selbstgesteuerte und kollaborative Lernen sowie die Lernbegleitung eine wichtige Rolle ebenso die Kommunikation und Kollaboration im Team. Die Bereiche 4–6 (Evaluation, Lernerorientierung und Förderung der digitalen Kompetenzen der Lernenden) finden sich hingegen weit weniger prominent in den von uns ausgewerteten Daten. Bereits vorliegende internationale Lehrkräftebefragungen unterstreichen dabei, dass insbesondere im Bereich 4 der Evaluation hoher Fortbildungsbedarf besteht (Benali et al., 2018; Dias-Trindade et al., 2021). Insgesamt lassen sich hieraus erste Erkenntnisse darüber gewinnen, in welchen Bereichen entweder noch ein besonderes Entwicklungspotenzial im deutschen Schulsystem existiert oder die Vorstellungen der untersuchten Lehrkräfte schlicht unterschiedlich sind.

3.6 Ausblick und Fazit

Unser alltägliches und berufliches Leben wird sich auch in den nächsten zehn Jahren rasant weiterentwickeln und mehr und mehr durch digitale Technologien wie AR- oder KI-gestützte Systeme bestimmt werden. Inwiefern diese digitalen Technologien tatsächlich in den Unterricht der Zukunft integriert werden, ist dabei von den Vorstellungen von Lehrkräften über diesen Unterricht abhängig (z. B. Cress et al., 2018). In unserer Studie konnten wir zeigen, dass sich Lehrkräfte insbesondere didaktische und organisatorische Transformationen hin zu einer Schule, die selbstgesteuertes und kollaboratives Lernen und Arbeiten ins Zentrum stellt, vorstellen. Hinweise auf die Rolle digitaler Medien konnten wir insbesondere aufseiten des beruflichen Engagements (DigCompEdu-Bereich 1) und digitaler Ressourcen (DigCompEdu-Bereich 2) feststellen (Redecker, 2017). Diese Fokussierung auf die Bereiche der Kommunikation und digitaler Grundausstattung sind dabei vor allem durch eine aktuelle Perspektive auf Schule gekennzeichnet.

Es findet sich keine Technikskepsis, wie z. B. von Drossel et al. (2019) berichtet, in unserer Stichprobe. Diese ist aber aufgrund der Selektion aus Teilnehmenden der Konferenz Bildung Digitalisierung bzw. eines Seminars zum Thema digitale Medien sicherlich positiv selektiert und das Ergebnis somit ähnlich wie bei Fluck und Dowden (2013) durchaus durch positive Vorstellungen über digitale Technologien geprägt. Interessanter ist allerdings, dass sich im Gegensatz zu Fluck und Dowden (2013) nur wenige konkrete Visionen für einen Einbezug innovativer digitaler Technologien in den Unterricht finden lassen. Dies mag daran liegen, dass die Teilnehmenden keine Vorstellung von der Technologie in 10 Jahren entwickeln konnten und daher auf Aussagen dazu gänzlich verzichtet haben. Es mag aber genauso daran liegen, dass die Wünsche nach Veränderung tatsächlich eher die organisatorischen Rahmenbedingungen von Unterricht betreffen und weniger die Frage nach Veränderung durch Digitalität. Hier könnten langfristig angelegte Forschungsarbeiten zur Entwicklung einer Vision über den Unterricht der Zukunft mehr Auskunft geben.

Egal welcher Grund maßgeblich ist, es lässt sich zumindest festhalten, dass die Lehrkräfte zur Gestaltung des Unterrichts mit digitalen Werkzeugen Input von außerhalb benötigen. Es ist daher notwendig, dass die vermehrt entwickelten Ideen zur Nutzung digitaler Technologien für den Unterricht (siehe die vorliegenden Bände) Einzug in die unterschiedlichen Phasen der Lehrkräftebildung erhalten (Cress et al., 2018). Gleichsam sollten auch aus Perspektive der Forschung Lehrkräfte frühzeitig in den Entwicklungsprozess von digitalen Technologien für den Unterricht eingebunden werden, damit sichergestellt werden kann, dass diese Technologien auch den Visionen der Lehrkräfte über die Gestaltung der Schule von morgen gerecht werden.