FormalPara Zusammenfassung

In Deutschland waren 818.255 Menschen unter 65 Jahren zum Stichtag 31.12.2019 pflegebedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuchs, das entspricht knapp 20% aller Pflegebedürftigen. Ein drängendes Problem in der Versorgung jüngerer Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf ist es, die besonderen Anforderungen dieser Gruppe in Bezug auf passende Angebote und Einrichtungen zu decken, die ein Leben in möglichst großer Autonomie und Teilhabe ermöglichen. Neue Wohnformen stellen dabei ein Angebot zwischen Heim und Häuslichkeit dar, das hier Perspektiven bietet. Allerdings liegen derzeit wenig belastbare Informationen bzgl. der Anzahl der Angebote, ihrer Nutzung und ihrer Bedarfsgerechtigkeit u.a. im Hinblick auf Versorgungs-Outcomes vor. Der vorliegende Beitrag fasst verfügbares Wissen hierzu zusammen und stellt exemplarische Praxisbeispiele junger Pflege in neuen Wohnformen sowie Elemente für ein zukunftsfähiges Wohnkonzept bei junger Pflege vor. Die Ausweitung über einzelne „Leuchtturmprojekte“ in die allgemeine Versorgungspraxis unter Verständigung auf notwendige Rahmenbedingungen ist zukünftig ein wichtiger und drängender Schritt in Richtung ausreichender regelhafter Angebote.

In Germany, 818,255 people under the age of 65 were in need of care according to the Social Code as of 31 December 2019, which corresponds to ca. 20% of all people in need of care. A pressing problem in the care of younger people with care and support needs is to meet the special requirements of this group in terms of suitable offers and facilities that enable them to live with as much autonomy and participation as possible. New forms of housing represent a range of options between home and domesticity that offer prospects here. However, currently little reliable information is available regarding the number of offers, their use and, among other things, their suitability in terms of needs and care outcomes. This article summarises available knowledge on this topic and presents exemplary practical examples of young care in new forms of housing as well as elements for a sustainable housing concept for young care. The expansion of individual “lighthouse projects” into general care practice, with agreement on the necessary framework conditions, is an important and urgent step towards sufficient regular services in the future.

1 Junge Pflege – eine vergessene Adressatengruppe?

Junge Pflege – Wen betrifft das?

Mit dem Begriff „pflegebedürftig“ verbinden die meisten von uns eher das Bild älterer bis hochbetagter Menschen, nicht nur mit funktionellen, sondern vielfach auch mit kognitiven Einschränkungen wie demenziellen Erkrankungen, die Unterstützung durch informelle und professionell Pflegende benötigen und oftmals nicht mehr allein in ihrer angestammten Häuslichkeit leben können. Schaut man sich die Daten des Statistischen Bundesamtes (2020) an, so waren 818.255 Menschen unter 65 Jahren Ende des Jahres 2019 pflegebedürftig im Sinne des Sozialgesetzbuchs, das entspricht knapp 20 % aller Pflegebedürftigen. Von diesen waren 160.953 Kinder unter 15 Jahren (3,9 %), die fast ausschließlich zu Hause versorgt werden. Auch die Gruppe der 15- bis 65-jährigen Personen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf wird überwiegend (90,9 %) zu Hause versorgt, gut 60.000 (9,1 %) Personen in dieser Gruppe sind jedoch auf eine dauerhafte Unterstützung und Leistungen einer vollstationären PflegeFootnote 1 angewiesen, z. B. aufgrund von Unfällen oder Erkrankungen. Der Pflegebericht des MDS aus dem Jahr 2011/2012 listet als führende pflegebegründende Diagnosen in der Altersgruppe der 20- bis 65-jährigen Personen mit einer stationären Versorgung psychische und Verhaltensstörungen, Neubildungen (Krebserkrankungen) sowie Krankheiten des Kreislaufsystems und des Nervensystems auf (Brucker und Seidel 2012). Nach Angaben des BARMER Pflegereports sind die häufigsten pflegeinzidenten Diagnosen bei jungen Pflegebedürftigen bis 59 Jahre Störungen im Flüssigkeits- und Elektrolythaushalt (36 %), gefolgt von Depression (33 %), Krebs (32 %), Störungen durch Suchtmittel (26 %), Sturzereignis (23 %) und Lähmungen (21 %). Weiterhin führt der Pflegereport der BARMER als häufigste Diagnosen von jungen Pflegebedürftigen bis 59 Jahre Lähmungen (35 %), Intelligenzminderungen (32 %) und Entwicklungsstörungen (22 %) auf (Rothgang et al. 2017a, S. 184 ff).

Welche Wohn- und Versorgungswünsche haben junge Pflegebedürftige?

Auch weist der BARMER Pflegereport darauf hin, dass knapp 90 % dieser sogenannten „jungen Pflegebedürftigen“ Ansprüche auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (§ 33 SGB IX) und am Leben in der Gemeinschaft (§ 55 SGB IX) haben (Rothgang et al. 2017a; S. 193 ff). Diese Zahlen zu leistungsrechtlichen Ansprüchen zur Teilhabe am Arbeitsleben und am Leben in der Gemeinschaft zeigen damit gleichzeitig ein drängendes Problem in der Versorgung jüngerer Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf auf, nämlich wie es gelingen kann, die besonderen Anforderungen dieser Gruppe in Bezug auf passende Angebote und Einrichtungen zu decken, die ein Leben in möglichst großer Autonomie und altersgerechter aktiver Tagesgestaltung ermöglichen. So kann den Bedürfnissen jüngerer Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf in einem Umfeld mit hochbetagten und oftmals kognitiv eingeschränkten Menschen nur sehr eingeschränkt bis gar nicht Rechnung getragen werden. Eine Umfrage des BARMER Pflegereports bei insgesamt 7.692 „jungen Pflegebedürftigen“ zeigt deutliche Differenzen zwischen der aktuellen und der gewünschten Wohnsituation: Die Befragten wünschen sich eine größere Selbstbestimmung (Fig. 13.1; Rothgang et al. 2017a, S. 218 ff).

Abb. 13.1
figure 1

Wohnsituation – und Wohnwünsche jüngerer Menschen (< 60 Jahre) mit Pflegebedarf (Quelle: BARMER Pflegereport, Rothgang et al. 2017a)

Diese Sichtweise fehlender passgenauer Versorgungsangebote wird auch von neueren Publikationen gestützt, die junge Pflegebedürftige „als vergessene Adressat*innengruppe […] im Pflegeheim“ bezeichnen (Schmitt und Homfeldt 2020). Anhand von Fallvignetten weisen Schmitt und Homfeldt auf bestehende strukturelle wie unzureichende Personalausstattung, fehlende digitale Infrastrukturen, aber auch sich daraus ergebende Versorgungsproblematiken hin, die zu sozialer Isolation und fehlender Autonomie und Teilhabe führen.

Aber welche Alternativen stehen jungen Pflegebedürftigen offen, um ihren Wohn- und Versorgungswünschen nach mehr Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe besser gerecht zu werden? Nachfolgend soll ein Überblick über neue alternative Wohnformen gegeben und anhand von ausgewählten Praxisbeispielen aufgezeigt werden, wie versucht wird, speziell jungen Pflegebedürftigen ein selbstständiges, selbstbestimmtes und teilhabeorientiertes Leben zu ermöglichen.

2 Zwischen Heim und Häuslichkeit: Neue Wohnformen

Im Verlauf der letzten drei Jahrzehnte hat die Wohn- und Versorgungssituation für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf große Veränderungen und Ausdifferenzierungen erfahren. Dies ist zum einen darin begründet, dass der Wunsch nach einer möglichst individuellen Betreuung in einem nicht institutionalisierten Setting deutlich zugenommen hat und zum anderen auch gesetzlich weitreichende Regelungen geschaffen wurden, die eine Weiterentwicklung von Wohn- und Versorgungsangeboten zur Schaffung größerer Individualität und Selbstbestimmtheit für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf bei der Wahl ihres Wohnumfeldes und von Pflege- und Betreuungsleistungen ermöglicht haben.

Im Verlauf des letzten Jahrzehnts wurden beginnend im Jahr 2012 mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG) und weiterführend in den Jahren 2015 und 2017 durch die Pflegestärkungsgesetze (PSG) der Grundsatz „ambulant vor stationär“ gestärkt und die Förderung neuer Wohnformen für Pflegebedürftige im SGB XI deutlich ausgebaut. Derzeit existiert ein breites Spektrum an Wohnformen für Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf. Dabei hat sich einerseits die Pflegelandschaft im stationären Bereich ausdifferenziert, andererseits sind aber vor allem im ambulanten Bereich eine Vielzahl von neuen (Sonder-)Wohnformen entwickelt worden – wobei eine Abgrenzung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung gerade bei neuen Wohnformen nicht immer eindeutig zu treffen ist. Hinzuweisen ist auch darauf, dass der Begriff „neue“ Wohnformen keine direkte zeitliche Zuordnung beschreibt, sondern „neu“ im Sinne von innovativen Lösungen und Konzepten für besondere Herausforderungen in klassischen Wohn- und Versorgungssettings bezeichnet.

Die Angebotslandschaft

Da die Angebotslandschaft vielfältig ist und keine einheitliche Systematisierung in Bezug auf neue Wohnformen besteht, wurde im Rahmen des Projekts „Entwicklung und Erprobung eines Konzeptes und von Instrumenten zur internen und externen Qualitätssicherung und Qualitätsberichterstattung in neuen Wohnformen nach § 113b Abs. 4 SGB XI“ (Wolf-Ostermann et al. 2019) eine Typisierung von neuen Wohnformen im ambulanten Bereich vorgenommen (vgl. Table 13.1).

Tab. 13.1 Typisierung neuer Wohnformen (Quelle: Wolf-Ostermann et al. 2019)

Ambulante (selbstständige) gemeinschaftliche Wohnformen sind konzeptionell darauf ausgelegt, dass sie von den Bewohnerinnen und Bewohnern selbstständig geplant und umgesetzt werden und der Gemeinschaftsaspekt und nicht der Versorgungsaspekt im Vordergrund steht. Sie sind daher auch für jüngere Menschen mit Pflegebedarf, die aber noch weitgehend selbstständig leben können, von Interesse und werden in der Praxis auch von diesen genutzt. Ambulante betreute Wohnformen wie z. B. das Betreute Wohnen bieten den Bewohnerinnen und Bewohnern eine eigenständige – meist barrierefreie – Wohnung und Gemeinschaftsräume, zumeist in einer Wohnanlage für den sozialen Austausch. Konzeptionell steht hier der Service- oder Betreuungsaspekt im Vordergrund. Projekte dieses Typs werden meist von Älteren genutzt, sind aber auch für jüngere Menschen, die (noch) keine schwere Pflegebedürftigkeit aufweisen, geeignet. Ambulante Pflegewohnformen stellen die umfassende Unterstützung bei Pflegebedarf in den Fokus, dem sich der gemeinschaftliche Aspekt unterordnet. Projekte dieses Typs sind prinzipiell für Menschen aller Altersstufen, aber mit einem eher umfassenden Pflegebedarf geeignet und werden oft von älteren Menschen mit kognitiven Einschränkungen genutzt. Betreute Wohngruppen für Menschen mit Beeinträchtigungen bieten aber auch jüngeren Pflegebedürftigen im Rahmen solcher Konzepte eine umfassende Versorgungssicherheit. Ambulante integrierte Wohnformen gehören zu den Mischformen, die in bestehenden Wohnangeboten die Versorgungsstruktur durch die Integration verschiedener Leistungen verbessern. Projekte dieses Typs sind prinzipiell ebenfalls für Menschen aller Altersstufen geeignet, teilweise werden sie gezielt auf die Bedarfe von älteren Menschen zugeschnitten.

Zahlenmäßige Verbreitung

Bezüglich der zahlenmäßigen Verbreitung und Inanspruchnahme dieser neuen Wohnformen gibt es nur Schätzungen. So kamen Wolf-Ostermann et al. (2019) zu dem Schluss, dass im Jahr 2017 „ca. 330.000 bis 450.000 Pflegebedürftige in solchen neuen Wohnformen“ lebten. Dies entsprach für das Jahr 2017 einem Anteil von maximal 3,5 % aller Pflegebedürftigen im Sinne des Sozialgesetzbuchs in neuen Sonderwohnformen und maximal 15,5 % insgesamt in neuen Wohnformen unter Einbezug integrierter Quartiersprojekte. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum lebten 27 % aller Pflegebedürftigen in Pflegeheimen (Statistisches Bundesamt 2017). Da ambulante neue Wohnformen keiner generellen Meldepflicht unterliegen und in offiziellen Statistiken nicht ausgewiesen werden, können diese Zahlen bestenfalls eine sehr grobe Orientierung liefern. Sie sagen auch nur wenig darüber aus, wie viele jüngere Menschen mit Pflegebedarf solche Angebote nutzen.

Aber nicht nur bzgl. der Anzahl der Angebote ist (zu) wenig bekannt, sondern auch bzgl. ihres Nutzens im Hinblick auf Versorgungs-Outcomes wie etwa das umfassende Konstrukt Lebensqualität. Rothgang et al. (2017b) verweisen darauf, dass nur wenige Studien mit hoher methodischer Güte vorliegen, die einen Mehrwert von insbesondere ambulant betreuten Wohnformen gegenüber anderen Pflegesettings belegen. Es gibt jedoch Hinweise, auf deren Grundlage ihnen Fachleute prinzipiell einen potenziellen Mehrwert in Bezug auf eine bessere soziale Einbindung, mehr individuelle Wahlmöglichkeiten von Leistungen und Leistungserbringern zuschreiben (Rothgang et al. 2017b). Im GKV-Modellprogramm „Weiterentwicklung neuer Wohnformen für Pflegebedürftige nach § 45f SGB XI“ (2019) äußerten z. B. befragte Nutzerinnen und Nutzer der dort untersuchten 53 Modellprojekte nicht nur eine hohe Zufriedenheit mit der Versorgungssicherheit, sondern ebenso eine große Zufriedenheit damit, dass die Leistungsangebote an ihre individuellen Bedarfe und Lebensgewohnheiten angepasst werden und sie in vielfältiger Weise Einfluss auf die Leistungsgestaltung nehmen können. Ebenso äußerten sich Angehörige (z. B. Entlastungseffekte) und Mitarbeitende (z. B. höhere Zufriedenheit) positiv. Auch Stiefler et al. (2020) zeigten in einem Rapid Review einen begünstigenden Beitrag ambulant betreuter Wohngemeinschaften gegenüber Pflegeheimen auf – die Ergebnisse beziehen sich dabei häufig auf den Endpunkt der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei Menschen mit Demenz. Insgesamt lässt sich jedoch nur schwer einschätzen, ob diese Wohnformen gerade für bestimmte Altersgruppen wie etwa junge Pflegebedürftige Vorteile in der Versorgung bieten.

3 Praxisbeispiele junger Pflege in neuen Wohnformen

Auch wenn sich insgesamt nur schwer einschätzen lässt, wie viele junge Pflegebedürftige diese Wohnalternativen bereits nutzen und methodisch aufgrund der Datenlage ihr Mehrwert speziell für junge Pflegebedürftige nicht explizit nachweisbar ist, experimentieren viele junge Pflegebedürftige in der Praxis bereits mit solchen neuen Wohnformen. Beispielhaft sollen im Folgenden einige dieser Projekte vorgestellt werden.

Bei junger Pflege selbständig Wohnen

Ein Beispiel für eine solche neue Wohnform, die von jungen Pflegebedürftigen genutzt wird, um selbständiger zu leben, ist das MS-Wohnprojekt des doMS e. V. in Köln. Seit 2009 wohnen hier 15 MS-Betroffene zusammen mit 75 weiteren Mieterinnen und Mietern in einem selbst initiierten Wohnprojekt unter dem Motto: „Barrierefrei vom Keller bis in die Köpfe“. Ziel ist es, gemeinschaftlich zu wohnen und sich gemeinschaftlich ein Pflege- und Betreuungsarrangement zu sichern, damit alle, auch bei hohem Hilfebedarf, in ihrer eigenen Wohnung selbständig leben können. Die Hilfebedarfe der MS-Betroffenen sind im Laufe der Jahre angestiegen; Nachbarschaftshilfe, Bundesfreiwilligendienstkräfte und hauswirtschaftliche Kräfte, die gemeinschaftlich beschäftigt werden, sorgen für angepasste Hilfen (GKV-Spitzenverband 2018).

Bei junger Pflege in Gemeinschaft wohnen

Ein Beispiel, wie auch junge Pflegebedürftige mit hoher Versorgungssicherheit in einer Gemeinschaft wohnen können, ist das Projekt „Inklusives Clusterwohnen“ in Köln. Das Projekt versteht sich als ambulant betreutes Wohnhaus, in dem Menschen mit schwerem und hohem Hilfebedarf ihren Wohnalltag selbstständig gestalten und dabei von unterschiedlichen Akteurinnen und Akteuren unterstützt werden. Das viergeschossige Gebäude ist komplett barrierefrei erschlossen. Es umfasst zwei Wohngemeinschaften für neun Personen. In einer WG haben fünf junge Menschen mit Beeinträchtigungen und vier Studierende jeweils einen privaten Wohnbereich, ein Gemeinschaftsbad und eine Gemeinschaftsküche. Weitere 1–2-Personen-Appartements bieten alleinstehenden Menschen eine Wohnmöglichkeit, in der sie eigenständig leben können. Bei Pflegebedarf können auch sie auf das modulare Leistungsangebot im Haus zurückgreifen. Im Erdgeschoss befindet sich ein Gemeinschaftsraum, der als Begegnungsort auch für den Austausch mit den Quartiersbewohnerinnen und -bewohnern dient (Inklusiv Wohnen Köln e. V. 2021).

Bei junger Pflege selbstbestimmt wohnen

Das Projektbeispiel der Albatros gGmbH in Berlin zeigt auf, wie auch junge Pflegebedürftige selbst bestimmen können, wie sie wohnen und versorgt werden wollen und wie sie in ihrem vertrauten Quartier wohnen bleiben können. Die Albatros gGmbH hat ein quartiersbezogenes Wohnprojekt für (Ehe-)Paare mit hohem Pflegebedarf in Berlin-Hohenschönhausen initiiert. Pflegebedürftige Menschen können durch umfassende, flexible Versorgungssettings weiterhin mit ihrer Partnerin bzw. ihrem Partner in einer Wohnung leben. Durch einen Wohntypenmix kann die Zielgruppe je nach Wunsch entscheiden, wie sie wohnen möchte – gemeinsam oder getrennt in unmittelbarer Nähe. Auf der Grundlage einer Bedarfsanalyse wurden Serviceleistungen im Bereich Pflege und Alltagsbewältigung konzipiert, die variabel auf spezielle Bedürfnislagen angepasst werden. Das Projekt ist Teil eines generationsübergreifenden Gesamtprojekts, zu dem auch Angebote der Nachbarschafts- und Selbsthilfe sowie Freizeitgestaltung gehören (GKV-Spitzenverband 2018).

4 Elemente für ein zukunftsfähiges Wohnkonzept bei junger Pflege

All diese Praxisbeispiele zeigen wesentliche Elemente für ein bedarfsgerechtes Wohn- und Versorgungskonzept auch bei junger Pflege auf:

Sektorenübergreifend organisieren

Um den sehr unterschiedlichen Wohnwünschen Pflegebedürftiger gerecht zu werden, sollen Wohnpflegesettings möglichst flexibel gestaltbar sein. Die oben genannten Beispiele zeigen, dass es viele verschiedene variable Lösungen braucht, um den unterschiedlichen Wohn- und Versorgungswünschen gerade auch junger Pflegebedürftiger gerecht zu werden. Sektorenübergreifende Versorgungssettings geben hier den nötigen Spielraum. Sie wollen Wohnen bei Pflegebedarf überall ermöglichen und verbinden mit dem Wohnen jeweils Leistungen, die nach Bedarf „hinzugewählt“ werden können. Sie sichern damit ein hohes Maß an individueller Freiheit bei der Gestaltung der eigenen Wohnsituation. Da hierbei auch ermöglicht wird, Wohnen mal mehr professionell (mehr trägerverantwortet) oder mehr selbst (mehr bewohnerverantwortet) zu organisieren, können auch die individuell gewünschten Sicherheitsbedürfnisse berücksichtigt werden. Solche Wohnkonzepte können einen wesentlichen Beitrag für eine personenorientierte Versorgung auch bei junger Pflege sichern (Rothgang et al. 2019).

Gemeinsam verantworten

Die enormen Pflegeaufgaben, die in Zukunft vor uns liegen, erfordern auch, das Pflegewohnen auf breitere Schultern zu stellen. Es werden viele Aufgaben in Sorgearrangements einzubinden sein – so wie dies in den aufgezeigten Beispielen bereits erfolgt. Neben professionellen Dienstleistern und An- und Zugehörigen sind Nachbarn, bürgerschaftlich und zivilgesellschaftlich Engagierte aus dem Sozialraum in „Sorgenden Gemeinschaften“ daran beteiligt, das selbständige Wohnen auch bei junger Pflege zu ermöglichen. Dieser Austausch mit anderen aus dem Quartier und die Aktivierung einer neuen Verantwortungsteilung in der Sorgekultur sichert zugleich die Teilhabe Pflegebedürftiger; sie bleiben über Nachbarschaftskontakte sozial in ihrem Lebensraum eingebunden.

Mitentscheidung ermöglichen

Aber wer soll diese flexiblen sektorenübergreifenden „sorgenden Gemeinschaften“ steuern, wer entscheidet und trägt die Gesamtverantwortung für die bedarfsgerechte Umsetzung? Einem Träger allein – wie in klassischen stationären Wohnsettings – die Verantwortung zu übertragen, erscheint hier ebenso wenig zielführend wie die Pflegebedürftigen mit der Gesamtverantwortung – wie in klassischen ambulanten Wohnsettings – allein zu lassen. Der Vorschlag, den Kommunen die Gesamtverantwortung zu übertragen, erscheint aufgrund ihrer Bedeutung für das Case- und Care-Management, der Sozialraumentwicklung und der systematischen Pflegeplanung zunächst naheliegend. Jedoch überfordert das Kommunen nicht, wenn sie für jedes Pflegewohnprojekt die Verantwortung im Alltag tragen müssten? Können Kommunen in ihrer besonderen Verantwortung für die Pflegestrukturen gewährleisten, dass es beim Pflegewohnen nicht nur um die Sicherung der Pflege, sondern immer auch um den Wohnalltag und damit um eine ganzheitliche Perspektive geht? Besteht nicht die Gefahr, dass der Selbstverantwortung der Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure zu wenig Raum in einem primär von Profis gesteuerten Wohnsetting gegeben wird? Wenn alle gemeinsam verantworten sollen, müssen auch alle gemeinsam entscheiden können. Die je gewünschte Balance von Sicherheit und Freiheit kann nicht top-down von Einzelnen verordnet, sondern muss gemeinsam ausgehandelt werden. Bedarfsgerechte Pflegewohnangebote zu gestalten wird nur gelingen, wenn alle am Sorgegeschehen Beteiligten – die Umsorgten, also die Pflegebedürftigen, wie die Sorgenden, also die informell Pflegenden, aber auch die Mitarbeitenden als formelle Pflegende – mehr direkten Einfluss auf die Gestaltung nehmen können. Eine stärkere Einbindung in die Entscheidungen und mehr demokratisch organisierte Umsetzungsprozesse sichern auch für junge Pflegebedürftige nicht nur passgenauere Wohnangebote, sondern ebenso umfassende Teilhabe, denn Teilhabe bedeutet nicht nur sozial eingebunden zu sein, sondern immer auch mitbestimmen und mitgestalten zu können. Zugleich können solche Strukturen auch dazu beitragen, dass professionell Pflegende zufriedener sind, weil sie mehr Einfluss auf ihre Arbeitsstrukturen haben und diese eigenverantwortlicher mitgestalten können.

Diese Elemente werden vielfach in Einzelimpulsen aus Praxis und Wissenshaft zur Weiterentwicklung der Pflegewohnangebote benannt. U. a. hat auch das Kuratorium Deutsche Altershilfe – in seiner Tradition, immer wieder Impulse zu geben und die institutionelle Langzeitpflege weiterzuentwickeln (Michell-Auli und Sowinski 2013) – diese Elemente in seinem neuen Pflegewohnleitbild „Wohnen 6.0“ zusammengefasst. Wohnen 6.0 ist dabei nicht als 6. Generation des Altenheimbaus zu verstehen, sondern als generelles Pflegewohnleitbild, wie für Menschen mit erhöhtem Pflegebedarf – gleich welchen Alters – Wohnen gestaltet werden kann, sodass auch diese Menschen vollumfänglich teilhaben können und selbstbestimmt und selbstständig leben können (Kremer-Preiss 2021).

5 Fazit

Auch wenn die vorangehenden Beispiele zeigen, dass bereits einzelne Alternativen für junge Pflegebedürftigen existieren, die den speziellen Wohn- und Versorgungswünschen nach mehr Selbstständigkeit, Selbstbestimmung und Teilhabe gerecht werden, so zeigt sich auch, dass hier dringend der Bedarf nach einer Ausweitung über einzelne „Leuchtturmprojekte“ hinaus in die allgemeine Versorgungspraxis besteht – die dann aus wissenschaftlicher Sicht auch wieder einer begleitenden Evaluation ihres Nutzens in Bezug auf Teilhabe, Lebensqualität und pflegerische Versorgungs-Outcomes bedürfen, um tatsächlich evidenzbasiert Best-Praxis-Angebote in die Versorgungsbreite zu tragen. Vor dem Hintergrund knapper und insbesondere auch knapper personeller Ressourcen in der Pflege erscheint es dringend notwendig, sich hierfür zunächst auf notwendige Rahmenbedingungen zu verständigen, um erste Schritte in Richtung ausreichender regelhafter Angebote zu gehen und dann gleichzeitig auch dafür zu sorgen, dass das aktuelle (regionale) Angebot an geeigneten Wohnformen für junge Pflegebedürftige transparent und einfach öffentlich verfügbar ist. Dies könnte bspw. im Rahmen webbasierter Angebote in der Verantwortung von Kommunen oder Pflegestützpunkten geschehen. Diese werden allerdings in starkem Maße darauf angewiesen sein, von Anbietern, Trägern oder Selbstverwaltungsgremien hierzu aktuelle Informationen zu erhalten („was wird für wen mit welchen Leistungen und Pflichten angeboten?“), da privat organisierte Wohnformen keinen Meldepflichten unterliegen.

Will man Pflegewohnen auch für junge Pflegebedürftige sektorübergreifend in gemeinsamer Verantwortung und mit mehr Mitentscheidungsmöglichkeiten demokratischer gestalten, erfordert dies von den Umsetzenden, sich auf neue Wege, neue Haltungen und neue Arbeitsprozesse einzulassen und liebgewonnene Gewohnheiten zu verlassen. Hierzu gehören u. a. Fragen, wie die Sicherung von Entscheidungsteilhabe auch bei schwerer Pflege gelingen kann und z. B. das Konzept der „Gestützten Entscheidungsfindung“ (Roder 2016) auch für das Pflegewohnen praktisch nutzbarer gemacht oder wie mehr personelle Selbstverantwortung organisatorisch gesichert werden kann. Solche Fragen gilt es stärker in den fachlichen Pflegediskurs einzubringen (z. B. auch in der Versorgungsforschung und Qualitätssicherung). Hierzu gehört aber auch, förderliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die den Ausbau solcher Pflegewohnsettings begünstigen. Neben mehr Flexibilität im Ordnungs-, Leistungs- und Leitungserbringungsrecht für solche Wohnformen bedarf es in den Pflegewohnsettings funktionsfähiger Gremien für gemeinsam zu verantwortende und gemeinsam zu entscheidende Prozesse. Es bedarf Foren in Pflegewohnangeboten, in denen Pflegebedürftige und die dort Pflegenden sich regelmäßig austauschen und in denen sich Mitwirkungsrechte nicht nur auf Informations-, Anhörungs- und Mitspracherechte (wie vielfach in den Heimmitwirkungsverordnungen) beschränken, sondern Mitentscheidungsrechte eröffnet werden. Ein erster Schritt könnte z. B. die Bildung von „Sorgeparlamenten“ in Pflegewohnprojekten sein, in denen alle am Sorgegeschehen Beteiligten regelmäßig zusammenkommen und demokratisch grundlegende Fragen entscheiden, wie das Wohnen, der Alltag und die Arbeit im Pflegewohnsetting gestaltet sein soll. Zivilgesellschaftliche Akteure könnten Teil solcher Sorgeparlamente werden und nicht nur als Pflegeressource, sondern auch als Advokaten zur Sicherung der Selbstbestimmung Pflegebedürftiger agieren. Solche demokratischen Beteiligungsprozesse müssen fachlich begleitet werden. Für diese koordinierenden Leistungen bedarf es über mögliche Projektförderungen hinaus einer nachhaltigen Refinanzierung, so wie allgemeine koordinierende Leistungen schon heute in ambulant betreuten Pflegewohngemeinschaften über den Leistungsbaustein gemäß § 38a SGB XI refinanziert werden.

Natürlich ist die Gestaltung solcher Pflegewohnangebote eine Herausforderung. Aber wenn in Zukunft mehr passgenaue Wohnformen auch für junge Pflegebedürftige geschaffen werden sollen, müssen wir nicht nur bessere Rahmenbedingungen in der Pflege schaffen, sondern ebenso wichtig ist es, den direkten Einfluss junger Pflegebedürftiger auf die eigene Pflegewohnsituation zu verbessern.