Der totalitäre Lückentext

Formulare sind Lückentexte. Vor Augen stellen sie einen Mangel, der beseitigt werden will: Leerstellen und Leerflächen, die nach ihrer Füllung verlangen. Werden Formulare von Amts wegen ausgegeben, verschärft sich dieser Appell. Dann nämlich handelt es sich um Vorschriften im doppelten Sinne, um offizielle Aufforderungen in Gestalt schriftlicher und diagrammatischer Vorgaben. Amtliche Lückentexte sollen Sachverhalte auf schriftlichem Weg ermitteln, um damit behördliche Entscheidungen zu erleichtern. Besteht »Bureaukratie«, wie es Robert von Mohl 1846 polemisch beschrieb, in »Papiercontrolen«, welche »fehlende persönliche oder örtliche Kenntniss« kompensieren oder zumindest kaschieren sollen (Mohl 1966, 294), dann verkörpern Formulare geradezu das bürokratische Prinzip. Unweigerlich gibt, bei Kommunikation mit Formularen, die behördliche Wahrnehmung der individuellen Artikulation den Rahmen vor, legt sie nicht nur die slots, nämlich den richtigen Ort und Umfang der jeweiligen filler fest, sondern auch deren semiotisches und sprachliches Repertoire, und nur unter diesen Vorzeichen simulieren und substituieren Formulare einen Amtstermin.

Zur entscheidenden Schnittstelle zwischen Verwaltungen mit ihrem expansiven Willen zum Wissen einerseits und Bürgern samt ihren gestiegenen Leistungsansprüchen andererseits sind Formulare vor allem in der Nachkriegszeit avanciert. Denn je mehr Leute der Wohlfahrtsstaat zu inkludieren versprach, desto mehr ersetzte der standardisierte Schriftverkehr den persönlichen Parteienverkehr. Damit aber wurden, statt der Beamten, ihres Auftretens und ihrer Umgangsformen, zusehends die Formulare, ihre Aufmachung und Handhabbarkeit zur Zielscheibe der Bürokratiekritik. Zur Gestaltung ihrer papierenen Benutzeroberflächen engagierten die Verwaltungen fortan Designer und Didaktiker, Verhaltenspsychologen, Sprachwissenschaftler und Informatiker (vgl. Grosse 1980, 20, 23). Formulare sollten nun nämlich in doppelter Hinsicht Inklusivität garantieren: zum einen effiziente Verwertbarkeit durch die behördeninterne EDV, zum anderen aber maximale Akzeptanz unter den Bürgern.

In diesem Lichte könnte man eine ›Vermögenserklärung‹ wie die abgebildete (s. Abb. 1) zunächst für ein neutrales oder gar ›inklusives‹ und ›nutzerfreundliches‹ Formular halten. Weiß man jedoch um das Datum ihrer Ausgabe, nämlich das Jahr 1943, dann auch um ihren eigentlichen Zweck: die Ausplünderung und Entrechtung jüdischer Bürger, wie sie vom nationalsozialistischen Totalitarismus 1938 mit der »Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden« angebahnt wurde (vgl. Aly 2005, 55 f.). Die hierzu erstellten Formulare mag man mit den historisch ersten polizeilichen und sicherheitsdienstlichen Formularen in Verbindung bringen, etwa den standardisierten Melde- und Fragebogen des späten 18. Jahrhunderts, nach deren Muster man künftig Minderheiten und Randgruppen wie Juden, Nicht-Sesshafte oder Bettler zu kontrollieren suchte (vgl. Hochedlinger 2009, 78, 229; Burger 2014, 40 f.; Göderle 2016, 79 f., 53 f., 283). Unverkennbar jedenfalls negieren derlei nazistische Vordrucke all das, was die Nachkriegszeit als Grundsätze des Formulargebrauchs formulieren sollte: dass Behörden nur solche Informationen einzuholen haben, die für eine klar definierte Aufgabe und Entscheidungsfindung unabdingbar sind; dass Behörden, wenn angefragte Auskünfte und Beweismittel nicht beigebracht werden, nicht mit einem belastenden Verwaltungsakt zu reagieren haben; und dass die Behörden mittels Formularen keine Verwaltungsaufgaben auf den Bürger abwälzen dürfen (vgl. Brinckmann et.al. 1986, 240 f.). Vor dem Formular sind, wie es nach 1945 heißt, alle Bürger gleich – weil allesamt zunächst nur eine »Nullstelle«, zuletzt aber ein individualisiertes Rechtssubjekt (Grosse 1980, 13). Die ›Vermögenserklärung‹ indes hat ihre Empfänger bereits von vornherein kategorisiert – und im selben Zuge als Rechtssubjekte annulliert.

Abb. 1
figure 1

(aus: Loftus 2013, 39)

Formular zur ›Vermögenserklärung‹

Obschon ihnen dieser Sinn der Formulare nicht entgangen sein konnte, haben dem Appell der Vermögenserklärung, wie Hannah Arendt resümiert, Abertausende von Juden Folge geleistet: Sie »ließen sich registrieren, sie füllten zahllose Formulare aus, beantworteten unendlich ausführliche Fragebogen über ihren Besitz, damit die Beschlagnahme ohne Komplikationen erfolgen konnte, und dann fanden sie sich pünktlich an den Sammelstellen ein und kletterten in die Güterwagen« (Arendt 1986, 233). Die Ausgabe der 16seitigen ›Vermögenserklärung‹ markierte das Ende ihrer Bürgerrechte und einen formal (angeblich) notwendigen Schritt zu ihrer Enteignung und Ermordung. Dabei war das Formular nicht minder wirksam, wenn es nicht oder nicht richtig ausgefüllt wurde; bei einer unterlassenen Erklärung drohte den Juden die umgehende Deportation, während die Kooperation zumindest einen kurzen Aufschub gewährte. Inwiefern tragen also gerade Lückentexte zu jener Lückenlosigkeit standardisierter und dicht geregelter Abläufe bei, die ein totalitäres Regime wie den Nazismus charakterisierte? Und wozu führt die Rahmung oder auch Entrahmung derart ›totalitärer‹ Formulare durch Kunst und Literatur? Die Vermögenserklärung von 1943 wurde schließlich im Jahre 2013 für einen künstlerisch gestalteten Katalog verwendet, der die Ausstellung »Die Bürokratie des Terrors« begleitete (Loftus 2013, 39–48).

Der Massenmord und seine bürokratischen Formen

Weil die Verfolgung der europäischen Juden nicht nur durch ein beispielloses Ausmaß an Gewalt gekennzeichnet war, sondern auch durch immensen Verwaltungsaufwand zur Lenkung, Beschönigung und Tarnung, sprach Arendt bereits 1944 (in Anlehnung an einen britischen Kolonialbeamten mit dem Pseudonym A. Carthill) von einem administrative massacre. Gab es einen Bürokraten, der zur organisatorischen Perfektion des nazistischen ›Verwaltungsmassenmords‹ wesentlich beigetragen hatte, dann Adolf Eichmann. Als Schöpfer des ›Wiener Modells‹ in der dortigen ›Zentralstelle für jüdische Auswanderung‹ war er seit 1938 die treibende Kraft gewesen bei der Einrichtung eines entsprechenden »Behörden-Fließbandsystems«. In diesem konnten oder vielmehr mussten die Wiener Juden über amtliche Fragebogen und »Auswanderungsformulare«, über »Ansuchen« zur Auswanderung und ein spezielles Formular zum »Vermögensbekenntnis« daran mitwirken, dass ›ihre‹ Angelegenheit innerhalb weniger Tage bearbeitet wurde – dass also ihre Ausplünderung, ihre Ausreise oder, bald schon, ihre Deportation amtlich rasch besiegelt wurde (vgl. Anderl und Rupnow 2004, 19, 143, 157 f.). In der Diskussion um Arendts Eichmann-Buch und im Umfeld des Auschwitz-Prozesses kam dann die Rede von ›Schreibtischtätern‹ auf: ein Begriff, der die agency derjenigen bezeichnen sollte, die die behördliche Organisation des Genozids mittels paperwork besorgten, und der ihre Schuld (nach der sogenannten »Roxin-Prämisse«) gerade durch ihre »Deliktdistanz« ermessen sollte, durch ihre rein administrative und dadurch tatferne Beteiligung an den Staatsverbrechen (Schlott 2018, 266).

Kam man erst einmal darin überein, dass dieser Genozid immer schon Verwaltungssache war, wandte sich auch die ›Holocaust-Forschung‹ – am prominentesten Raul Hilberg mit The Destruction of the European Jews (1961) – zusehends den bürokratischen Formen des nazistischen Totalitarismus zu. Dem folgte längerfristig auch die ›Holocaust-Literatur‹, und dies vor allem in einer experimentellen Spielart, für die bis heute insbesondere Heimrad Bäcker steht. 1925 in Wien geboren, war Bäcker 1938 in die Hitlerjugend eingetreten und arbeitete bis zum Kriegsende an ihrer Presse- und Fotostelle im Bezirk Oberdonau. Nach 1945 studierte er Philosophie, Soziologie, Völkerkunde und Germanistik, promovierte 1953 zu Karl Jaspers und wandte sich, nach ersten literarischen Versuchen, der konkreten und visuellen Poesie zu, ehe er als Mentor, Herausgeber und Verleger experimenteller Literatur, zudem als bildender Künstler und Photograph tätig war. Wie an Bäckers Nachlass ersichtlich, hat er zeit seines Lebens versucht, die eigene Verstrickung in das totalitäre Regime aufzuarbeiten, und hat er dazu auch Arendts Totalitarismustheorie und ihre Thesen zur »Herrschaft in bürokratischen Formen« eingehend studiert.Footnote 1

Wurde im Totalitarismus, wie Arendt sagt, »die Herrschaft von Personen durch Bürokratie, die Herrschaft des Niemand, ersetzt« (Arendt 1994, 45), und war diese Herrschaft letztlich ein »Regime der Verordnungen«, das sich bevorzugt »anonym« artikulierte (Arendt 2001, 516), schien es für die Historie und die Literatur wenig sinnvoll, sich dem Verwaltungsmassenmord narrativ anzunähern. Explizit erklärte deshalb Bäcker »die erzählerischen Formen für weitgehend ungeeignet, die Geschehnisse angemessen zu begreifen« (Veichtlbauer und Steiner 2001, 86). In den beiden Bänden seiner nachschrift (1986 und 1997), an denen er jahrzehntelang gearbeitet hat, stehen konsequenterweise nicht die historischen Ereignisse und Charaktere im Mittelpunkt, sondern lediglich überlieferte Dokumente aus der Zeit des ›Dritten Reichs‹: neben Propagandaschriften und Zeitungsmeldungen sowie einigen Briefen und Tagebüchern vor allem behördeninterne Akten, Listen und Protokolle sowie Texte an der Schnittstelle von Amt und Öffentlichkeit, etwa Gesetze und Gerichtsurteile, Verordnungen und schließlich Formulare – allesamt Sprachzeugnisse, die hier weniger dazu dienen, eine historische Wirklichkeit zu beglaubigen, als dass sie deren bürokratische Produktion vorführen.

Einerseits weist die nachschrift diese Zeugnisse in einem eigenen Quellenverzeichnis nach, andererseits werden sie reproduziert, zitiert und montiert, um sie im Stile der ›konkreten Poesie‹ zu bearbeiten. Durch »Reihung, Wiederholung, Aussparung« (Bäcker 1995, 280) werden die Formen und Formeln, die diagrammatischen und Sprachregelungen all jener Dokumente herauspräpariert, die Autorität mit administrativer Rationalisierung koppeln. Sichtbar macht dabei die nachschrift, dass im Totalitarismus jede Entscheidung und jede Maßnahme – sei es zu ihrer effizienten Umsetzung, sei es zu ihrer Legitimation durch Verfahren – von extensiver Akten- und Textproduktion flankiert, dass aber das Verfahren insgesamt von einem explizit unbürokratischen Tatwillen angetrieben wurde. Oder, mit Blick auf Formulare wie die erwähnte ›Vermögenserklärung‹ gesagt: Der amtliche Wille zum Wissen und das behördliche Interesse zur Optimierung des Parteienverkehrs diente gerade nicht dem Zweck allgemeiner Inklusion, sondern vielmehr demjenigen zielgenauer Exklusion. Was man von den angeblich Auswanderungswilligen wissen wollte, diente keiner Entscheidung über deren Anliegen, sondern allein der raschen Erfassung und Enteignung ihres Vermögens. Und die exzessive Formalisierung eines jeden Schritts (wie dem der Vermögenserklärung) hatte keine sachliche, sondern lediglich eine rituelle Funktion: Selbst Formulare markierten im streng geregelten Verfahren keine Lücke, sondern erschöpften sich in Souveränitäts- und »Ordnungsritualen« (Bäcker 1994, 62).

Formulare als Forme(l)n der Verwaltung

Wie Akten nicht nur an die Stelle von Aktionen rücken, sondern sogar »Befehl, Gehorsam und Kontrolle der Beamten« ersetzen (Vismann 2000, 288), zeigt sich exemplarisch am Prinzip und an der Performanz des Formulars. Akten annullieren personales agere und zurechenbare agency, prozessieren dabei aber stets die »Trennung des Rechts in Autorität und Administration« (Vismann 2000, 8). Spätestens mit den Edikten und Dekreten der altrömischen Magistrate hat sich der Doppelsinn in acta von mündlichen Handlungen zu Schreibakten verschoben, und dies im Medium des Befehls, oder genauer: des rekursiven Befehls, den Sprechbefehl zu schematisieren (vgl. Vismann 2000, 79 f., 84 f.). Diesen rekursiven Befehl kann man als formula beschreiben, als (zuallererst mündlich artikulierte) Vorschrift, ihre Ausführung mit ihr abzugleichen, und als Nachricht, die einen Nachweis dafür fordert, dass sich die Schrift und die Subjekte nach ihr gerichtet haben. In der Frühen Neuzeit, etwa bei Philipps II. Distribution von Fragebogen und Tabellen für die Neue Welt, diente die Investition souveräner Gewalt in gewisse rhetorische Formeln dazu, einem Formular unbedingte Autorität zu verleihen, so dass es nicht weniger penibel ausgefüllt wurde, als man die Fragen eines delegierten Inquisitors beantwortet hätte (vgl. Brendecke 2003, 43–47).

Formulae waren zunächst Textbausteine, nämlich juristisch-linguistische Vorschriften, die in einem formularium gesammelt, in ›Blanketten‹ dann bereits graphisch umgesetzt wurden. Anfangs die Domäne von kompetenten Sekretären, deren Worte Gewicht hatten, wurden sie bald zur Sache von Schreibern, die lediglich den Aktenverkehr besorgten, und bereits diese Evolution zeugt dafür, dass formulae weder nur als grammatische Regeln dienen noch als bloße Exempla dessen, was zu schreiben oder zu tun ist. Vielmehr wirken sie als performative Muster, als Verfahrensvorschrift und Ausführung in einem (vgl. Campe 2003, 87 f.). Dabei entstehende Formulare, welche bestimmte Datenträger zur Aufnahme gewisser Daten disponieren, mögen sich zeitlos, weil neutral und sachorientiert geben; sie sind aber von Macht durchdrungen und wie jeder Befehl exakt zu datieren. Dass sie erst mit der Füllung ihrer Lücken Konsequenzen zeitigen, ist so gesehen keineswegs selbstverständlich, sondern souveräne Konzession; im Prinzip (oder totalitären Gebrauch) werden sie bereits mit ihrer Ausgabe wirksam – weshalb am Tag, da ihnen die erwähnte Vermögenserklärung zugestellt wurde, das Schicksal der Juden (ungeachtet ihrer Auskünfte) bereits besiegelt war.

Formulae etablieren also Formulare, die die basale Differenz von Autorität und Administration in die Administration einführen – und damit auch und gerade die als solche ausgewiesenen Lücken zum Wirkungsfeld der Macht bestimmen. Nichts anderes macht Bäckers nachschrift sichtbar (s. Abb. 2), wenn sie etwa einen »Meldebogen« auf ein Leerfeld mit der Anweisung »Dieser Raum ist frei zu lassen« reduziert (Bäcker 1997, 162). Welches Formular hier ›konkret‹ bearbeitet wurde, ist erst dadurch zu erschließen, dass man, angeleitet von den Verweisen in Bäckers Anmerkungsteil und Literaturverzeichnis, seine Quellen konsultiert. Dann zeigt sich: Der in Frage stehende »Meldebogen« wurde seit Oktober 1940 durch den Reichsminister des Inneren an die Heilanstalten Badens und Württembergs versandt, um die dort versorgten Patienten zu erfassen (s. Abb. 3).

Abb. 2
figure 2

(aus: Bäcker 1997, 162)

Autorität und Administration im Formular

Abb. 3
figure 3

(aus: Ernst Klee: Dokumente zur »Euthanasie«, Frankfurt am Main 1985, 95)

Euthanasie-Formular der Aktion T4

Bäckers Bearbeitung subtrahiert all jene Elemente, die nur leere oder rituelle Formalismen sind, weil die mit ihnen angeforderte Füllung zum Sachverhalt und bereits beschlossenen Verfahren nichts beizutragen hat. Und sie konzentriert sich stattdessen auf die doppelte Evidenz des Formulars in Text und Bild: einerseits (links oben) die reine formula, das unmissverständliche Zur-Sprache-Kommen der Autorität durch ihren Befehl zum Vollzug (nämlich zum Vollzug des ›Meldens‹); andererseits (unten und eigens eingerahmt) die Konstitution des Formulars durch eine Lücke, deren Vervollständigung allerdings allein der Macht vorbehalten oder vielmehr von ihr bereits erledigt ist. Und in der Tat wurden, nach Anlaufen des Euthanasie-Programms, die Todgeweihten durch sogenannte ›Ärztekommissionen‹ aussortiert, welche sich die Patienten zumeist gar nicht erst ansahen, um stattdessen ihre Dienstvisite als informellen Urlaub zu genießen.

Derart totalitäre Formulare kommunizieren und administrieren nicht. Sie demonstrieren und exekutieren nur unbeschränkte Macht und tragen deshalb zur Evolution der Verwaltung auch nichts bei. In funktional ausdifferenzierten Gesellschaften sollen Verwaltungen jedoch gerade dem Austausch zwischen den sozialen Teilsystemen dienen, für welchen Formulare ein hocheffizientes Mittel sind. Vielleicht kann man deshalb das rekursive Prinzip des Formulars als Entwicklungsformel moderner Verwaltungen allgemein verstehen: Aus der fortgesetzten Performanz von formulae entsteht eine ganze Kaskade von Formularen, und diese Kaskade institutionalisiert sich dann als Administration. Als »Medium der Organisation von verwaltungsinternen und nach außen gerichteten Arbeits- und Kommunikationsbeziehungen […] verkörpern Formulare« jedenfalls die Entwürfe »der Organisationsgestalter« (Brinckmann 1986, 123 f.), mit ihnen werden nämlich bestimmte Entscheidungsprogramme umgesetzt und wird das Personal auf bestimmte Weise mobilisiert. Als Rahmen, die beschränken, aber nicht festlegen, dienen Formulare einerseits der »Normalisierung von Information«, andererseits bieten sie immer wieder dazu Anlass, »das Verhältnis von Struktur und Information« (Luhmann 1994, 190) und damit die Rolle der Verwaltung insgesamt zu befragen. Organisationen sollen schließlich Interdependenzen zwischen Bereichen wie Recht, Politik, Ökonomie oder Religion ermöglichen und zugleich unterbrechen (vgl. Luhmann 2019, 375, 388), damit die Spezifitäten, Rollen und Ungleichheiten des einen Funktionssystems nicht das andere steuern. Solange nicht totalitär, operieren Organisationen, wie Luhmann sagt, selbst in der Form von »Formularen, die mit dem, was sie sagen, laufendes Entscheiden provozieren, aber mit dem gleichen Instrument auch verhindern, daß man über den Rand hinausblickt« (Luhmann 2019, 396).

Formeln und Formulare als Waffen

Verschließen sich Formulare indes jedem Input, lassen sie also für das Außen keine Lücke mehr, greifen sie aber umgekehrt auf ihre soziale Umwelt und die anderen Funktionssysteme über (so dass etwa konfessionell Diskriminierte plötzlich politisch, rechtlich und ökonomisch exkludiert werden), dann macht sich in ihnen »eine totalitäre Logik« geltend (Luhmann 1998, 625). Formulare sind dann kein Mittel von Entscheidungsfindung mehr, sondern vielmehr von Deklaration. Und statt auf sich selbst zu reflektieren, indem sie das Verhältnis von Struktur und Information problematisieren, fallen, bei der Kommunikation mit derlei Vorschriften, Mitteilung, Information und Verstehen einfach zusammen (vgl. Luhmann 2000, 92). Der massive Einsatz solcher Formulare ist ein Indiz dafür, dass Organisationen nicht mehr der ›Interdependenzunterbrechung‹ dienen, sondern selbst, mitsamt ihrer Mitgliedschaftsregeln, in die Gesellschaft diffundieren. Oder anders gesagt: Während Verwaltungen wie die des Nazismus, trotz ihrer Ordnungsrituale, zusehends ›informell‹, über Netzwerke und wenig geregelte Verfahrensabläufe operieren, so dass hier die ›Sachdimension‹ (die Erledigung administrativer Spezialaufgaben) gegenüber der ›Sozialdimension‹ (dem Rang und Einfluss innerhalb der Parteiorganisationen) an Bedeutung verliert, wird die Gesellschaft insgesamt von bürokratischen Prozeduren, Regelungen und Verordnungen durchdrungen und in diesem Sinne zusehends ›formalisiert‹. Vor diesem Hintergrund mag man die Bedeutung verstehen, die Formularen im ›Dritten Reich‹ als einer Vorstufe automatisierter Datenverarbeitung zukam: Ihr Design wurde – wie im Fall der Häftlingskarteikarten (s. Abb. 4) oder der Erhebungsbogen für das ›Rassenamt‹ (s. Abb. 5 und 6) – in Zusammenarbeit mit der Dehomag (der Deutschen Hollerith Maschinen Gesellschaft, der deutschen Dependance von IBM) entwickelt, auf dass der ausgefüllte Vordruck leicht in eine Karteikarte umgewandelt, diese als Datenträger mit einem Adresssystem versehen und derart mit der maschinenlesbaren Loch- oder Zählkarte kompatibel wurde.Footnote 2

Abb. 4
figure 4

Häftlingskarte als ›Hollerith-Vorkarte‹ 1944 (https://collections.arolsen-archives.org/de/document/1450115 [Aufruf: 12.07.2021], Arolsen Archives)

Abb. 5
figure 5

(aus: Aly und Roth 2000, 25)

Erhebungsbogen für das Rassenamt der SS, 1944:

Abb. 6
figure 6

(aus: Aly und Roth 2000, 25)

Hollerith-Lochkarte zum Erhebungsbogen für das Rassenamt der SS, 1942

Dieser medientechnische Verbund von Karte und Hollerith-Maschine sorgte nicht nur, unter bevölkerungsstatistischen Gesichtspunkten, »für das geordnete und ordnende Gefühl der ›Verreichlichung‹« (Aly und Roth 2000, 49), sondern lieferte, ähnlich wie bereits das frühneuzeitliche Formular- und Tabellenwesen, auch eine umfassende Synopsis als Entscheidungsgrundlage für weiterführende Maßnahmen. Unter diesen Vorzeichen haben Formulare und ihnen benachbarte Formen wie Kartei- und Zählkarten, Tabellen oder Listen ein und dieselbe Essenz – nämlich Macht. Und in genau diesem Sinne ist jene Seite in der nachschrift zu lesen (s. Abb. 7), die unter dem Begriff »ladung« eine Kolumne mit zweistelligen Zahlenwerten präsentiert. Wie der Blick auf das von Bäcker bearbeitete Originaldokument offenbart (s. Abb. 8), gehen die Angaben samt Anordnung auf einen Wagenzettel der Ostbahn-Bezirksdirektion zurück, mit dem die Züge nach Treblinka kontrolliert wurden und auf dessen mittlerer Spalte man das jeweilige »Gewicht der Ladung« festhielt. Das Formular präsentiert die nachschrift hier mithin als ein immutable mobile, als ein Speicher- und Übertragungsmedium, das – nach Bruno Latours Formulierung – den Bürokraten erlaubt, »einige Millionen Menschen [zu] betrachten, als wären sie in ihrer Handfläche« (Latour 2006, 296).

Abb. 7
figure 7

(aus: Bäcker 1997, 66)

Das Formular als immutable mobile

Abb. 8
figure 8

(aus: Raul Hilberg, Sonderzug nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1981, 206; der Pfeil wurde zusätzlich eingefügt)

Wagenzettel für den Abtransport nach Treblinka

In einer anderen Passage ist es nicht ihre Reproduktion oder Extraktion, mittels derer Formulare thematisiert werden, sondern die direkt zitierte Zeugenaussage eines Ausschwitz-Flüchtlings und ehemaligen Birkenauer Funktionshäftlings: »wenn der blockschreiber irrtümlicherweise eine nummer mit dem vermerk verstorben versieht, kann solch ein fehler später einfach durch die exekution des nummernträgers korrigiert werden« (Bäcker 1997, 124), lautete eine Empfehlung (oder vielmehr Vorschrift) an die Blockschreiber, an jene Assistenten der Blockältesten also, die für den laufend aktualisierten Dienstbericht die (noch) lebenden Häftlinge mit ihren Nummern abgleichen mussten.Footnote 3 Dieses mit Absicht fehleranfällige Verfahren war es, das den Lagerinsassen die Unentrinnbarkeit des Aufschreibesystems vor Augen führte und den als Schreiber Privilegierten den bürokratischen Schematismus auferlegte; das dafür sorgte, dass der in den Kontroll- und Sprachregelungen aufgehobene Todesbefehl auch noch auf der untersten, machtfernsten Ebene wirksam war; und der das Notationsverfahren von slot und filler als tödliche Technik der Referenz bestimmte. Dass Körper der sie erfassenden Schrift ganz und gar unterworfen wurden, war nur dadurch möglich, dass hier das Formular rituell und prozedural in die Wirklichkeit eingebettet wurde (vgl. hierzu Hull 2012, 26). Dass aber Formulare, diese interfaces einer bis zu ihren Rändern rationalisierten Verwaltung, zu regelrechten Waffen werden konnten, lag am von Reinhard Heydrich propagierten Programm einer ›kämpfenden Verwaltung‹: einer Verwaltung, die zwar hochtechnisiert und nach neuesten arbeitswissenschaftlichen Standards zu Werke ging, die aber zugleich ›unbürokratisch‹ zur Tat zu schreiten und den Willen und Befehl des Führers unmittelbar zu verwirklichen versprach.

Von daher erklärt sich vielleicht, wieso im Nazismus selbst noch die trockenste Arbeit mit Akten, Listen oder Formularen von ideologischen Formeln begleitet wurde und wieso die Bürokratie ein festes Repertoire halb euphemistischer, halb zynischer Sprachregelungen (wie »Sonderbehandlung« oder »auf der Flucht erschossen«) entwickelte, die zuweilen in den allgemeinen Sprachgebrauch übergingen. »Deutschland 1944«, ein Gedicht Helmut Heißenbüttels aus dem Jahr 1980, bildet diese Überlagerung von weltanschaulichen Parolen mit bürokratischen Phrasen ab, indem es politische Stellungnahmen, amtlichen Schriftverkehr, aber auch grassierende Redeweisen und den Jargon regimekonformer Autoren (wie Benn und Jünger) montiert, um all diese Stimmen im Rahmen dreizehn dreizehnzeiliger Strophen zu verschmelzen. Einerseits sah Bäcker dieses Zitat-Gedicht als wegweisend für seine nachschrift an, andererseits ging er selbst den umgekehrten Weg: Statt wie Heißenbüttel die Vermischung aller Rede- und Schreibweisen in ein und derselben Diskurs-Melange nachzubilden,Footnote 4 arbeitete Bäcker an ihrer Differenzierung. Jene »Sprachregelung, auf die auch die unteren Chargen verpflichtet wurden« (Bäcker 1995, 277), führt er auf die weltformierende oder gar weltsetzende »Phraseologie« des ideologisch-bürokratischen Regimes zurück (Bäcker 1995a, 56). Was die totalitäre Administration zu Papier brachte, nennt Bäcker ein »das Leben kostendes Kauderwelsch« (Bäcker 1993, 133), welches freilich (wie bereits der alte Kanzleistil auf die Formularien zurückzuführen war) auf ein Set von formulae zurückging, von befohlenen Sprachregelungen. In genau diesen Sprachregelungen sieht Bäcker das »banale Böse«Footnote 5 gegeben – ein Böses, das sich, wie die nachschrift zeigt (vgl. etwa Bäcker 1993, 21, 26), in die Rede aller, selbst in den Sprachgebrauch der juristischen und historiographischen Aufarbeitung nach 1945 eingenistet hat. Die »tödlichen Verpuppungen« dieser Phrasen und formulae »aufzulösen durch Form«,Footnote 6 durch das Zitat und den exakten Quellennachweis – dies ist die Ethik von Bäckers Schreibprojekt. Es kann deshalb nicht verwundern, dass, wie Bäckers Nachlass verrät, die nachschrift selbst aus einem Formularium hervorgegangen ist: aus einem Notizbuch (s. Abb. 9), in dem er die totalitären Sprachregelungen des Nazismus systematisch gesammelt und untersucht hat.Footnote 7

Abb. 9
figure 9

(aus: Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Wien, Nachlass Heimrad Bäcker, [ÖLA 214/03]), 15/149)

Formularium für die Sprachregelungen des Nazismus

Entwandlung und Konkretion

Im zweiten Band der nachschrift, auf der linken Hälfte einer zweispaltigen, durch eine vertikale Linie aufgeteilten Seite, heißt es: »dry oswiecim kcher sy baro«, und rechts daneben: »in auschwitz ist das haus groß« (Bäcker 1997, 151; s. Abb. 10). Bäcker gibt hier zwar keinen direkten Nachweis, doch handelt es sich um ein Zitat aus einem Lied, das unter den in Auschwitz inhaftierten Roma entstanden ist. Im Zusammenhang übersetztFootnote 8 lautet der Liedtext in der ersten und sechsten Strophe:

In Auschwitz ist ein großes Haus, / und dort sitzt mein Ehemann verhaftet, / er sitzt, er sitzt im Gefängnis / er denkt an mich und vermisst mich. […] / Wenn ich einmal nach Hause gehen werde, / werde ich den Wärter umbringen / und den Stupinistu [Funktionsträger im KZ] werde ich braten. (zit. nach: Weißbach 2011, 6)

Abb. 10
figure 10

(aus: Bäcker 1997, 151)

Roma-Lied und seine Übertragung ins Deutsche

Am Muster der sogenannten Hallgató-Melodie ausgerichtet, hat dieses (bis heute gesungene) Klagelied noch vor 1945 den Weg aus der Lagern gefunden, um zugleich dem Widerstand oder der Solidarität (unter den inhaftierten Roma), der Warnung (noch freier Roma) und dem Gedenken (an die Ermordeten) zu dienen (vgl. Weißbach 2011, 18, 35). Nicht unwichtig ist, dass das Lied der in Auschwitz inhaftierten Ružena Danielova zugeschrieben wurde, denn gerade die Roma-Frauen waren im Lager für ihre Renitenz bekannt. Deshalb wurde für sie ein spezielles ›Frauenbuch‹ mit etlichen Rubriken geführt (vgl. Zülch 1979, 110), um sie desto feinmaschiger zu erfassen. Mit Elias Canetti könnte man auch sagen (und Bäckers nachschrift führt diesen, in seiner Quelle geschilderten, Kontext zumindest als Subtext mit): Gegen die häufig nicht-sesshaften, dadurch schwerer adressier- und identifizierbaren Roma und dabei besonders gegen die Roma-Frauen führten die Machthaber – nicht zuletzt mit bürokratischen Mitteln oder mit dem Medium des Formulars – »einen unaufhörlichen Kampf gegen spontane und unkontrollierte Verwandlung« (Canetti 1995, 447).

Das Prinzip eben dieses Kampfes zeigt sich auch in der präsentierten Übersetzung des Liedtextes: In den Vernichtungslagern mit ihren Gefangenen aus allerlei Ländern und Kulturen war das Deutsche ein minoritäres und zugleich majoritäres Idiom, nämlich die Sprache einer unumschränkt herrschenden Minderheit, für deren bürokratische Bildungen es in den Sprachen etlicher Inhaftierter kein Äquivalent gab. Deshalb exponiert die nachschrift an anderer Stelle (Bäcker 1997, 97) die nazistische Sprachregelung für den Tötungsbefehl und für die Tötungshandlung als schlechtweg unübersetzbar, weil ›original deutsch‹: »sonderkommando (i. Orig. i. dt.) / sonderbehandlung (i. Orig. i. dt.)«. Dient das Nazideutsch normalerweise als Metasprache, die die Aussagen der ›Sonderbehandelten‹ lediglich vergegenständlicht oder als sinn- und formlose Äußerung zu den Akten nimmt, erscheint hier nun die deutsche Übersetzung des Hallgató-Lieds selbst als Kauderwelsch – wohlgemerkt als ein »das Leben kostendes Kauderwelsch«. Denn was hinter der zunächst rätselhaften Präsentation des Liedanfangs steht, enthüllt der ›Intratext‹ der nachschrift: Dort findet sich eine analog strukturierte Seite (s. Abb. 11), die sich nun nicht mehr in originales und übersetztes Romanes, sondern in die Sparten »Getötet« und »Nicht getötet« teilt. Was sich hier zeigt, ist zum einen das Ende aller Verwandlung, die mit der vertikalen Linie markierte definitive Schwelle zur »Entwandlung« (Deleuze und Guattari, 150), nämlich die Grenze des Todes; zum anderen die rekursive, weil von ihr selbst befohlene Differenzierung der formula, so wie sie in jedem Formular entwickelt wird, nämlich die Unterscheidung zwischen Autorität und Kommando einerseits, Administration und Weiterbefassung andererseits. Im Klartext heißt das: Entweder wird der Todesbefehl unmittelbar wirksam, oder aber die Verwaltung räumt (wie auch im Fall der ›Vermögenserklärung‹ oder der Aktion T4) einen Umweg, wenngleich keinen Ausweg ein. Dass die eine Seite der Unterscheidung den Tod, die andere den nur aufgeschobenen Tod bedeutet, mag man als das Totalitäre dieses Formulars bezeichnen.

Abb. 11
figure 11

(aus: Bäcker 1997, 29)

Der Quellcode totalitärer Formulare

Statt von einem reduzierten Formular könnte man auch von einem ›Listenformular‹ sprechen, das zwar, wie jedes Formular, leere Schreibflächen und mit ihnen den Befehl zu ihrer Füllung vorgibt, das die Einträge aber nicht begrenzt und deshalb endlos erweitert werden könnte. Im Inneren des Formulars haust das Prinzip der Liste, und dies in mehrfacher Hinsicht: Erstens dienen Formulare wie Listen der massenhaften Individualisierung, denn indem die Ausfüllenden oder Eingetragenen, die zunächst als bloße ›Nullstellen‹ adressiert werden, namentlich und entsprechend bestimmter Kategorien erscheinen, werden sie nicht nur gezählt, sondern als Einzelne aufgeführt, wenn auch nur in Relation zu einer Masse (der der Tod oder die Vorsorge gelten soll). Zweitens regieren Formulare wie Listen die bürokratische Schriftproduktion, geben sie doch bestimmte Anweisungen oder Befehle zu dem, was ›aktenmäßig‹ zu tun ist, um zugleich, durch das Ausfüllen des Formulars oder Abarbeiten der Liste, die Erledigung des Geschäfts zu dokumentieren (vgl. Vismann 2000, 22). Drittens generieren Formulare wie Listen nicht nur Akten, sondern auch Aktionen; bei Formularen kann man von »Verwaltungsrealakten« (Kühl 2014, 206) sprechen, wenn etwa, auf Grundlage eines ausgefüllten Lückentexts, ein gewisser Leistungsanspruch und damit eine wirkliche Hilfe gewährt wird, oder aber, abstrakter und zugleich konkreter, wenn (wie bei der ›Vermögenserklärung‹) mit der Zustellung eines Formulars bereits festgeschrieben ist, was mit dem Empfänger geschehen wird; bei Listen wiederum kann man von einem buchstäblich handlungsgenerierenden Potential sprechen, und dies am deutlichsten, wenn diese – wie im Extremfall totalitärer Todeslisten – als to-do-Anweisungen zu verstehen sind. Ähnlich der Listen des erwähnten Blockwarts koppelt die Doppelliste »Getötet« / »Nicht getötet« die Mordaktion unmittelbar mit dem Schreibakt, denn jeder Name, der sich in der rechten Spalte befindet, befiehlt an dieser Stelle geradezu, seinen Träger zu exekutieren, um ihn zuletzt diesseits der Todesgrenze als ›erledigt‹ einzutragen.

Für dieses letzte ›Listenformular‹ gibt Bäcker übrigens keinen regulären Quellennachweis. In das strenge ›System nachschrift‹ reißt es gewissermaßen eine Lücke, denn im Anhang steht keine Referenz, sondern lediglich »Konkretion« (Bäcker 1997, 239), so als wäre die Kernformel der totalitären Bürokratie allein im Vollzug von Bäckers Verfahren zu enthüllen. Dieses Verfahren kann man als das ›konkreter Poesie‹ verstehen, wenn damit dreierlei gemeint ist: erstens die syntaktische Reinskription eines Sprachzeugnisses oder die visuelle Reflexion eines Diagramms mittels Zitat oder Reproduktion, um es, jenseits seiner dokumentarischen und historischen Bedeutung, semantisch zu reaktivieren und graphisch zu rekonfigurieren;Footnote 9 zweitens die ›Poetisierung‹, die Rückwendung auf die Bausteine und Regelungen der Sprache, auch und gerade, wenn diese als Prosa, als ›geradeaus gerichtete Rede‹ (provorsa oratio) ausgewiesen ist, wodurch bloße Gebrauchstexte eine intensive Lektüre (wie sie sonst nur heiligen oder lyrischen Texten zuteil wird) erfahren (vgl. Gitelman 2014, 30 f.) und womit bloße Dokumente als (auch materiell strukturierte) ›Monumente‹ zu behandeln sind; und drittens die Supplementierung, die Ergänzung und damit die Entrahmung hermetischer Diskursrituale, Textpraktiken und Sprachregelungen. Diese dreifache Art der ›Konkretion‹, die Bäcker auch auf das Feld der bildenden Kunst zu übertragen versucht hat,Footnote 10 löst die Vorschrift aus ihrer totalitären Verschlossenheit. Denn während die nazistische Bürokratie das im Formular angelegte »Wechselverhältnis von Rahmung und Überschuss« (Schüttpelz 2017, 237), seine Ergänzbarkeit über die standardisierten Felder hinaus unterband, macht es die nachschrift wieder zu einem Grenzobjekt; und nachdem das Formular vor allem auf die rituelle Demonstration von Macht und Befehlsgewalt reduziert worden ist, problematisiert Bäcker gerade sein Verhältnis von Struktur und Inhalt. Gegen die fraglose Lückenlosigkeit des Totalitarismus, dessen Bürokratie auf Input-Funktionen verzichtete, setzt die nachschrift einen konkreten Willen zum Wissen.

Schluss

›Konkrete Poesie‹ ist die nachschrift natürlich auch in dem Sinne, dass sie keiner formalen Konvention (wie den metrischen, den Strophen- oder Reimvorgaben traditioneller Lyrik) folgt, um sie exemplarisch zu erfüllen, sondern vielmehr die Eigentümlichkeiten konkreter ›Vorschriften‹, deren Imperativ und deren Schematismus herauszupräparieren versucht. Den »dokumentarischen Sprachmustern«, deren »literarische Sprengkraft« Bäcker allererst freisetzt, begegnet er mit »einem neuen, formal bestimmten System« (Bäcker 1994, 61). Man könnte deshalb glauben, seine nachschrift folge dem Programm einer Gegenschöpfung unter dem Zeichen des Literarischen und sein Schreiben setze sich dem der ›Schreibtischtäter‹, seine Autorschaft sich also der Autorität entgegen. Doch geht es nicht darum, sich selbst den Dokumenten ›einzuschreiben‹. Bäckers (schon biographisch) prekäre Autorschaft gründet ganz und gar auf kollektiver ›Schreibtischtäterschaft‹, die nachschrift hält sich gänzlich im Horizont herrschender Sprachformen und Textbausteine, und sämtliche ihrer Texte sind mit Quellenangabe versehene Zitate. Dies jedoch mit drei prägnanten Ausnahmen, die ihr Verfahren selbst betreffen: Im ersten Band wird eine Liste von Namen mit Berufsbezeichnungen als »Zitat« (Bäcker 1993, 134), im zweiten Band das erwähnte Listenformular »Getötet« / »Nicht getötet« als »Konkretion« nachgewiesen; hinzu kommt eine Seite (Bäcker 1993, 119), die kein Dokument präsentiert, sondern das Faksimile einer Handschrift, nämlich der Handschrift Bäckers, und die als Metalepse diesmal keinerlei Nachweis hat (s. Abb. 12).

Abb. 12
figure 12

(aus: Bäcker 1993, 119)

Die nachschrift als Mitschrift

Das tautologische und rekursive Syntagma »der Schreiber schreibt«, wie es hier als Schreibgeste vervielfacht wird und sich selbst überschreibt, exponiert schon in seiner graphematischen Gestalt das wechselhafte Verhältnis von Mitteilung und Information. Im zeitlosen Präsens gehalten, verweist es darauf, dass die nachschrift gegenüber dem Prätext nicht bloß den derivativen Charakter einer Abschrift oder eines Epitaphs besitzt; vielmehr rückt sie an den Beginn des Schreibens etwas anderes als die Autorität und deren Befehl zur fortgesetzten Formatierung. Oder anders gesagt: Sie hat den Charakter einer ›Mitschrift‹, eines partizipativen Schreibens, das die betreffenden Vorschriften oder Formulare nicht lediglich (etwa durch rekonstruierte Kontexte oder rechtliche Kommentare) ergänzt, um sie damit als bereits historische Dokumente oder längst geschlossene Akten zu respektieren, sondern das ihnen durch Reinskription und Reflexion, durch Poetisierung und Monumentalisierung oder Supplementierung und Entrahmung neue Gestalt und Geltung verschafft. Die nachschrift ›verunvollständigt‹ sozusagen ihre Vorschriften, um jene Lücken aufzutun, die der Verwaltungsmassenmord gelassen hat – aller totalitären Schließung zum Trotz.