Zusammenfassung
Psychisch Kranke sind vor dem Gesetz frei. Ihnen steht, wie allen Menschen, das Recht zu, über ihr Leben selbst zu entscheiden. Im Rahmen schwerer psychischer Störungen können sie jedoch in Situationen geraten, in denen die Freiheit, selbstverantwortlich zu handeln, eingeschränkt oder aufgehoben ist. Dies geschieht unter anderem im Rahmen von Erregungszuständen, die besonders häufig bei Intoxikationen mit oder dem Entzug von Alkohol, Medikamenten und Drogen und bei bestimmten psychischen Störungen mit Beeinträchtigung des Realitätsbezugs (Schizophrenien) auftreten. Auch bei anderen psychischen Störungen kann es zu Erregungszuständen kommen, z. B. bei Reaktionen auf akute psychosoziale Konfliktsituationen, bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen und bei Demenzen. Die Freiheit, selbstverantwortlich zu handeln, kann auch außerhalb von krankheitsbedingten Erregungszuständen eingeschränkt oder aufgehoben sein. Vor allem geschieht dies bei von den Betroffenen nicht beherrschbaren Suizidimpulsen, aber auch Impulsen, sich selbst zu verletzen, oder bei schweren Störungen der räumlichen und situativen Orientierung. Unter bestimmten Voraussetzungen können Betroffene gegen ihren Willen in einer hierfür anerkannten Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie untergebracht werden. Sie können dort, wiederum unter bestimmten engen Voraussetzungen, in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt und gegen ihren Willen behandelt werden. Die Einschränkung der Bewegungsfreiheit und die medikamentöse Behandlung gegen den Willen der betroffenen Personen stellen erhebliche Eingriffe in deren Freiheitsrechte dar. Diese sind nur gerechtfertigt und rechtlich möglich, wenn der Realitätsbezug gestört und die Maßnahme erforderlich ist. Vorher müssen alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die Person davon zu überzeugen, dass eine Behandlung für sie hilfreich und in dieser Situation erforderlich ist. Sie müssen vom zuständigen Amtsgericht genehmigt werden (Richtervorbehalt). Ziel der Behandlung ist die Wiederherstellung von Entscheidungsfreiheit und Selbstkontrolle. Zwangsmaßnahmen werden von Betroffenen meist als Willkür erlebt, unabhängig vom Anlass. Viele Betroffene erinnern sich an das, was bei der Fixierung geschehen ist und an ihre Hilflosigkeit in der Fixierung, aber nicht an den Anlass der Zwangsmaßnahme. Deshalb sollten Zwangsbehandlungen und Fixierung, wenn immer möglich, vermieden werden.
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Luderer, HJ. (2023). Freiheit und Zwang im Umgang mit schwer psychisch kranken Menschen. In: Fuchs, M.J., Hähnel, M., Simmermacher, D. (eds) Der Patientenwille und seine (Re-)Konstruktion. Philosophische Herausforderungen der angewandten Ethik und Gesundheitswissenschaften/ Philosophical Challenges of Applied Ethics and Health Sciences. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-40192-4_7
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