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Als wir von „Susis Mädels“ (Schwerdtner 2020) Porträts für eine Reportage schießen wollten, waren sie überrascht. Warum wollt ihr Fotos von uns machen? Susis Mädels sind Reinigungskräfte und Gewerkschaftskolleginnen der verstorbenen Susanne Neumann, die ihrerseits bundesweit Bekanntheit erlangte, weil sie 2016 Sigmar Gabriel, dem damaligen SPD-Vorsitzenden, die Leviten las. Sie nannte diese Frauen, die seit Jahren hart schuften und trotzdem eine Armutsrente fürchten, jene Frauen, von denen wir also Fotos machen wollten, ihre „Mädels“; die Geschichte der rebellischen Susi und ihrer ebenso rebellischen Mädels in der Gewerkschaft IG BAU schrieb sich praktisch von selbst. Sie hatten viel zu erzählen. Es gab vorher nur niemanden, der ihnen zuhörte und die Geschichte aufschrieb. Und schon gar niemanden, der Porträtfotos von ihnen schießen würde.

Als sie erfuhren, dass die Geschichte mit den Fotos abgedruckt werden sollte, machten sie große Augen. Das war für ein Magazin, praktisch ein Buch. Die Fotos zeigten müde, aber widerständige Frauen. Die Sorge ins Gesicht und die Arbeit mit den Wischmops in den Händen eingeschrieben. Susi, die zu früh an Krebs gestorben war, bildete den organisierenden Kern der Mädels. Wie konnte es sein, dass diese Betriebsrätin, die die sozialen Härten in diesem Land wie keine andere zur Sprache brachte, nur durch einen Zufall an die Öffentlichkeit geraten war?

Susis Mädels sind wie viele andere Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem Blick der Medien verschwunden, weil auch die organisierte Arbeiterklasse als solche von der Bildfläche verschwand. Die strukturellen Gründe liegen tiefer als ein bloßes Desinteresse von Journalistinnen und Journalisten: sie sind in der Tatsache begründet, dass die Organisationsmacht der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder vom Übergang des sogenannten Fordismus zum „Postfordismus“ abnahm – und somit auch die Gründe, sich mit den Belangen der arbeitenden Menschen zu beschäftigen.

Gab es mit dem Aufblühen der Arbeiterbewegung am Ausgang des 19. Jahrhunderts noch eine proletarische Kultur mit eigenen Zeitungen und Vereinen, ist davon nun kaum mehr etwas übrig. Die mächtigen Arbeiterparteien hatten damals ihre eigenen Publikationen mit großer Leserschaft (etwa den Vorwärts) und waren auf die bürgerliche Öffentlichkeit, wie sie sich mit der Drucktechnik hauptsächlich für gebildete Bürgerinnen und Bürger herausbildete (vgl. Habermas 1962), als solche nicht angewiesen. Durch das Aufkommen von demokratischen Großorganisationen, etwa sozialdemokratischen Parteien, entwickelte sich auch eine auf wirtschaftliche Gleichheit abzielende (Teil-)Öffentlichkeit. Während des Nazismus und des Zweiten Weltkriegs verboten oder im Exil, überlebte von dieser sozialistischen Arbeiterkultur nur wenig. Es folgt die Phase des Fordismus – des eingehegten Kapitalismus, dessen Wachstumsmotor die industrielle Massenproduktion und dessen Integrationsinstrument der Ausbau des Wohlfahrtsstaates war. Dieser Kapitalismus zeichnete sich durch eine stabile gewerkschaftliche Organisationsmacht und einen Korporatismus aus, der die Interessen der Arbeiterinnen und Arbeiter in das politische System und damit in die öffentliche Wahrnehmung als Verhandlungspartner einbinden konnte. Nach dieser Phase der wirtschaftlichen Stabilisierung folgte eine Zeit der Krisen, aber auch der gesellschaftspolitischen Aufbrüche in den 1960er- und 1970er-Jahren. Das fordistische Modell kommt an sein Ende – und mit ihm die Figur des weißen Industriearbeiters als Repräsentant der Arbeiterklasse, die bis heute in der öffentlichen Darstellung wahlweise idealisiert oder verhöhnt wird.

Die Arbeiterschaft differenziert sich aus: ihre Protestformen und ihre Bildsprache werden vielfältiger, migrantischer und weiblicher, der Dienstleistungssektor wächst. Die reale Verhandlungsmacht dieses Sektors und seiner Gewerkschaften bleibt allerdings vergleichsweise gering und auch das Schreiben und Finden von Bildern der ‚versteckten‘ oder ‚sanften‘ Dienstleistungstätigkeiten wird aus Sicht der Medien schwieriger. Bis heute sehen wir, dass sich Bilder eines klassischen Industriearbeiterstreiks besser machen als wütende oder erschöpfte Erzieherinnen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Zum einen haben sich die Tätigkeiten und ihre Bildsprache verändert. Zum anderen gibt es kaum mehr dezidiert sozialistische Medien, die sich diesem Teil der Arbeiterschaft widmen. Linke Medien verbleiben heutzutage weitestgehend in einem Retro-Chic oder geben sich dem Radical-Chic der neuen sozialen Bewegungen hin – für Arbeiterfotografie oder -darstellungen auf der Höhe der Zeit gibt es schlicht kein Massenmedium. Gerade das Privatfernsehen, das noch am ehesten Arbeitermilieus abbildet, ergötzt sich allzu häufig an einem Armuts-Voyeurismus (Gäbler 2020), der eher noch den Effekt hat, dass sich arbeitende und arbeitslose Menschen als Konkurrentinnen und Konkurrenten wahrnehmen.

Auch Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Umfeld tragen dazu bei, dass die Arbeiterklasse aus den Medien verschwindet. So verfolgen ab den 90er-Jahren nahezu alle sozialdemokratischen Parteien der Industrienationen einen neoliberalen Kurs, der sie von ihrer bisherigen sozialen Basis (und Wählerschaft) entfernt. Hier schließt sich wieder der Kreis zu Susis Mädels. Susanne Neumann tritt am Ende der Geschichte enttäuscht aus der SPD aus, weil sie dort keine politische Heimat gefunden hat. Ohne eine starke politische Vertretung im Rücken gibt es für die Medien aber noch weniger Grund, über die Arbeiterklasse zu berichten.

Fehlende Repräsentation als Mangel an Demokratie

Auch die Gewerkschaften haben seit dieser dezidiert gewerkschaftsfeindlichen und neoliberalen Phase an Organisationsmacht eingebüßt; und damit auch an Legitimation in Medien, Kunst und Wissenschaft. Das heißt keineswegs, dass sie und die Beschäftigten gar nicht mehr repräsentiert wären, aber sie sind es nicht mehr so stark und kämpferisch. Heute sind es Arme, Arbeitslose und migrantische Menschen, die im – auch von der Sozialdemokratie – eigens geschaffenen Niedriglohnsektor kaum mehr mediale oder demokratische Repräsentation erfahren und gegeneinander ausgespielt werden. Ein Gutteil der in der Bundesrepublik lebenden Menschen kommt im öffentlichen Diskurs nicht mehr vor, weil er materiell oder diskursiv nicht die Möglichkeiten hat, sich Gehör zu verschaffen.

Verstärkt wird dies Entwicklung durch einen Journalismus als ‚Kaste‘, die im Wesentlichen selbstreferentiell ist. Aus den Interessen von Arbeiterinnen und Arbeitern wurden in der medialen Darstellung zunehmend die Bedürfnisse von Verbraucherinnen und Konsumenten. Das Anzeigengeschäft und die medialen Geschichten folgen der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie und dessen, was sich verkauft – im Fokus der Print- und Funkmedien stehen folglich zahlungskräftige Leserinnen und Zuschauer aus der gehobenen Mittelschicht und dem Bildungsbürgertum. Aus derselben sozialen Schicht rekrutieren sich in zunehmenden Maße auch die Journalistinnen und Journalisten. Diesen Prozess zeichnet Christopher R. Martin (2019) für den US-amerikanischen Kontext in seinem Buch No Longer Newsworthy eindrücklich nach. Die breit angelegte Studie kommt zu dem Schluss, dass über Arbeitskämpfe nach der sogenannten New Deal-Ära, also seit den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren und parallel zum Abstieg der organisierten Arbeiterschaft, kaum mehr berichtet wird. Durch die gleichzeitige Vermarktlichung des Journalismus ist eine Berichterstattung entstanden, in der die Arbeiterklasse nicht mehr vorkommt.

Ähnliches lässt sich für Deutschland beobachten, müsste aber eigens in einer ähnlich angelegten Studie am empirischen Material nachgewiesen werden. Klar ist aber, dass sich Journalistinnen und Journalisten auch hier aus wenigen Journalistenschulen rekrutieren, oftmals einen akademischen Hintergrund haben und anschließend bei großen Verlagen arbeiten, die als private Unternehmen ein Profitinteresse verfolgen (Ausnahmen bestätigen die Regel). Der Streik in einer beliebigen Branche interessiert in der Regel erst dann, wenn sich daraus eine emotionale Story schnitzen lässt. Untersuchungen aus Deutschland zeigen zudem, „dass die Folgen für die Arbeitnehmer, deren Arbeitsbedingungen Gegenstand der eigentlichen Auseinandersetzung sind, nur dann im Fokus stehen, wenn die Konsequenzen dieser Auseinandersetzung für andere kaum spürbar sind. Sind jedoch Einschränkungen für Endverbraucher (und damit potenzielle Leser der Medien) zu erwarten, so verliert diese arbeitnehmerfokussierte Perspektive massiv an Bedeutung“ (Köhler und Jost 2017, S. 59). Nur die wenigsten Medienschaffenden können es sich leisten, einen politischen Anspruch an ihre Arbeit zu legen, oder sie haben keine Zeit dafür. Diejenigen, die sich für Arbeitskämpfe oder Geschichten von Arbeiterinnen und Arbeitern interessieren (und das nicht in einem instrumentellen Sinne), kann man mittlerweile an zwei Händen abzählen.

Die soziale Schieflage seiner zentralen Akteure und Inhalte hat der Journalismus mit dem politischen System, allen voran dem Bundestag als dem repräsentativen Organ schlechthin gemein. Nicht nur sind die meisten Mitglieder dieser ‚Herzkammer der Demokratie‘ selbst aus akademischen Haushalten (über 80 Prozent der Abgeordneten im Bundestag haben einen akademischen Abschluss, unter zwei Prozent sitzen mit einem Hauptschulabschluss dort, vgl. Deutscher Bundestag 2015) – selbst wenn sie es nicht sind, kann es sehr gut sein, dass die Aufsteigerinnen und Aufsteiger ihre Klassenherkunft hinter sich lassen (wollen).Footnote 1 Entsprechend zeigt die jüngere Forschung, dass die im Bundestag getroffenen politischen Entscheidungen systematisch den politischen Präferenzen der einkommensstarken Schichten in Deutschland folgen, wohingegen die Präferenzen anderer, insbesondere einkommensschwacher Gruppen, missachtet werden – eine Praxis, die den „Grundsatz politischer Gleichheit beschädigt“ (Elsässer et al. 2017, S. 161).

Mit anderen Worten: Das politische System kennt Susis Mädels nicht, es schließt sie auf vielfältige Weisen so stark aus, dass sie als Frauen aus dem Niedriglohnsektor ohne höheren Bildungsabschluss eigentlich keine Chance haben, je in einer Zeitung (oder im Plenarsaal) aufzutauchen oder auch als Vorsitzende ihrer eigenen Gewerkschaft gewählt zu werden. Ihre Belange werden nicht durchgesetzt, sie werden auch nicht gesehen.

Das Verschwinden großer Teile der Arbeiterklasse birgt auch die Gefahr dessen, was gemeinhin als Rechtspopulismus bezeichnet wird. Dort wo es keine Alternativen gibt, können Menschen, wie beispielsweise in Frankreich, zwischen einem Neoliberalen (Emmanuel Macron) oder einer Rechten (Marine Le Pen) wählen. Die politische Linke hat flächendeckend an Legitimation in ihrer sozialen Basis verloren, die Menschen sind ihr schlicht abhandengekommen. Gern wird in den Medien dann vor allem der rechte Arbeiter als Sozialfigur herangezogen, der den Aufstieg der Rechten erst ermögliche.

Wie Linda Beck und Linus Westheuser jedoch jüngst in ihrer empirischen Sozialforschung zu Bewusstseinsformen unter Arbeiterinnen und Arbeitern festgestellt haben, ist auch der ‚rechte‘ Arbeiter eine überzeichnete Figur, der vor allem im medialen Diskurs immer dann angeführt wird, wenn der Aufstieg rechter Parteien erklärt werden soll (Beck und Westheuser 2022). In ihren Interviews stellen die beiden hingegen fest, dass bei den Befragten ein starkes Ungerechtigkeitsempfinden vorherrscht sowie ein klares Bewusstsein dafür, nicht an politischen Prozessen teilzuhaben oder repräsentiert zu sein. Es geht bei der politischen Einstellung von Arbeiterinnen und Arbeitern also vielmehr um eine soziale Demobilisierung – eine von den Betroffenen übrigens korrekt antizipierte „demokratische Regression“ (Schäfer und Zürn 2022) – als um ein genuin rechtes Weltbild. Genau diese Vielschichtigkeit an Arbeiterbewusstsein, an widerständigem Verhalten und an neueren Formen von Streiks und Transformationen in den Gewerkschaften, bildet sich in den Medien bisher überhaupt nicht ab. Was genau Arbeiterinnen und Arbeiter davon abhält, sich politisch zu engagieren, wird dann meist gar nicht mehr gefragt – sondern eine Wahl als Indiz einer ganzen politischen Einstellung genommen.

Statt hier also in die Tiefe zu gehen, nutzen Redakteurinnen und Redakteure – beispielsweise Justus Bender (2019) in einer Reportage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – den Industriearbeiter vornehmlich dazu, zu zeigen, dass keine linke Partei mehr in der Lage ist, diesen zu repräsentieren. Damit trifft die Reportage zwar einerseits die bekannte politische Diagnose, geht andererseits aber nicht über eine Bestätigung ebendieser hinaus – die Suche nach Widersprüchen oder Auswegen sowie die Prüfung alternativer Erklärungen unterbleiben. Konservative und neoliberale Redakteure lecken sich geradezu die Finger nach Geschichten, die beweisen, dass ‚der Arbeiter‘ bloß seine eigene materielle Sicherheit im Sinn hat und mit Gender und Klima nichts am Hut haben will. Diese Form der Reportage hat aber nie den Anspruch, eine Lebenswirklichkeit abzubilden, und steht politisch nie auf der Seite der Arbeitenden. Vielmehr gibt es ein instrumentelles Interesse, um den Auf- oder Abstieg von Parteien zu erklären und die Arbeiterschaft in einem Zerrbild darzustellen, damit es in die jeweilige Analyse passt. Das hält auch Martin (2019, S. 3–4) für den us-amerikanischen Kontext als Ergebnis seiner Forschung fest: „[T]he news media typically consider the ‚working class‘ not in its entirety, but just in the stereotypical white male form, which nicely serves the purposes of divisive politicians who seek to exploit this image and divide working-class people on every other dimension: race, gender, sexual orientation, disability, and citizenship.“

Unter dem Gewand der neutralen Beobachtung werden Arbeiterinnen und Arbeitern vor allem zu Objekten der politischen Auseinandersetzung, nicht aber selbst zu handelnden Subjekten. Das zeigt sich in der politischen wie in der medialen Repräsentation eindrücklich.

Es geht auch anders

Dieses Schattendasein führte die Arbeiterklasse, wie eingangs erwähnt, nicht immer. Zu ihren stärksten Zeiten Anfang des 20. Jahrhunderts hatte sie ihre Parteien, Gewerkschaften, Garten- und Fußballvereine und Feste – und ihre eigenen Zeitungen. Eine gefestigte proletarische Kultur, geprägt von Stärke und Stolz, von Arbeiterliedern und der Gewissheit, sich selbst befreien zu können. Marxistische Intellektuelle der Arbeiterbewegung prägten diese Zeitungen, auf Parteischulen fand politische Bildungsarbeit statt. Hier waren die arbeitenden Menschen selbst die handelnden Figuren und die treibenden Kräfte der Geschichte. Ebenso bildete es sich in den entsprechenden Medien dieser Zeit ab.

Eine der Zeitungen, die keine Parteipublikation war, sondern ein ‚kommerzielles‘ und massentaugliches Produkt, war die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung (AIZ), die von 1921 bis 1938 erschien. Der Marxist und Geschäftsmann Willi MünzenbergFootnote 2 machte die AIZ Mitte der 1920er-Jahre zu einer der auflagenstärksten Wochenzeitungen. In ihr kultivierte er Zeichnungen von Käthe Kollwitz, Geschichten von Erich Kästner oder Anna Seghers, aber auch die berühmten Collagen von John Heartfield, der zu seinen Mitarbeitern zählte. Eines der Spezifika war die Arbeiterfotografie, die bis heute modern und gleichzeitig ungemein kraftvoll wirkt. Geschichten über die ‚Arbeiterfrau‘ oder Fotografien von Händen einer Arbeiterin waren keine Seltenheit, sondern der Standard. Dazu Gedichte, Rätsel und Werbung für glänzendes Haar.

Weit mehr Arbeiterinnen und Arbeiter lasen wohl die AIZ als die halbe Million Abonnements zu ihren Spitzenzeiten (vgl. Bois und Sonnenberg 2021), denn oftmals kaufte man sich eine Ausgabe und teilte sie auf, las sie gemeinsam. Eine Illustrierte, die die Arbeiterschaft abbildet, aber eben mehr tut als das. Eine Zeitschrift mit einem internationalistischen Anspruch, mit Berichterstattung aus aller Welt, mit Infografiken und einem modernen Design, das bis heute seinesgleichen sucht. Und trotzdem mit einer Nähe zur Arbeiterschaft. Die Zeit der AIZ endete mit dem Aufstieg der Nazis im Prager Exil Ende der 1930er-Jahre. An ihre Qualität und ihre Auflage ist keine explizite Arbeiterzeitung seitdem mehr herangekommen.

Dennoch ist es wert, sich die AIZ genauer anzusehen, um zu studieren, wie die Darstellung von Arbeiterinnen und Arbeitern gelingen kann – vor allem wie sie so gelingen kann, dass nicht nur über sie in einem instrumentellen Verhältnis berichtet wird, sondern auf eine Art und Weise, die ihr Leben abbildet, ihre Arbeit und ihre Körper, ihren Sport und ihre Leidenschaften, ihre politischen Organisationen und Kämpfe. Auf eine Art und Weise, die sie selbst als Lesende und politische Subjekte ernst nimmt. Dazu gehört unter den gegenwärtigen Bedingungen, dass man an entlegene Orte fahren und sich das Vertrauen bei den Menschen erarbeiten muss, über sie und ihre Leben angemessen zu berichten. Zu häufig haben Arbeiterinnen und Arbeiter erlebt, dass ihr Leben in den Medien vorgeführt wird – oder sie schämen sich für ihre Armut.

Statt in Großbetriebe oder Arbeitervereine müssen Journalistinnen und Journalisten heute einzelne Uber-Fahrer oder Pendlerinnen auf dem Weg ins abgeschottete Tesla-Werk begleiten (vgl. Junack 2022). Sowohl der Zugriff auf die prekär Beschäftigten ist schwieriger als auch sind die Konflikte zugespitzter, insbesondere wenn es um den Großkonflikt „Arbeiterinnen und Arbeiter gegen die Klimabewegung“ geht (vgl. beispielsweise die Reportage zu Bauern und Umweltverbänden von Blank 2020). Solche real existierenden Widersprüche lassen sich nicht einfach glatt bügeln für eine Darstellung, die nur ein bestimmtes politisches Ziel verfolgt, denn es stehen sich Interessen gegenüber, die – wie die Antriebe und Ängste der jeweiligen Handelnden – in ihrer Widersprüchlichkeit ernst genommen werden müssen. Eine adäquate Abbildung nimmt diesen Anspruch an und scheut sich dennoch nicht, die Geschehnisse einzurahmen und zu kontextualisieren.

Auf der ästhetischen Ebene bedeutet eine moderne Berichterstattung über Arbeiterinnen und Arbeiter, dass ergänzend zum Foto-Realismus und zu Collagen im Stile der AIZ auch eine spielerische Form der Verfremdung oder Illustrationen wieder eingang in die Berichterstattung findet. Menschen werden dann zwar bei der Arbeit porträtiert, doch das Schreiben über die Arbeit selbst darf auch abstrakt und die Ästhetik spielerisch sein. Denn es geht nicht um einen Objektivismus, der an das Material angelegt wird, sondern darum, das Material und die Menschen darin ernst zu nehmen, ihre Anliegen politisch und auf der bildlichen Ebene wieder zu erfassen.

Die Flamme, die nicht ausgeht

Wir sind gegenwärtig zwar weit davon entfernt, eine wirkliche Arbeiter Illustrierte mit einer vergleichbaren Größe und Bekanntheit wieder herzustellen, auch aufgrund der zuvor genannten objektiven Gründe der verringerten Macht der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen. Nichtsdestotrotz gibt es einige Anzeichen, die für ein Aufleben sowohl von Arbeitskämpfen als auch von Berichten über sie sprechen.

Allen Unkenrufen zum Trotz gibt es die Klasse nämlich doch noch. Nicht nur in einem analytischen Sinn nach Marx, sondern auch in einem ganz lebendigen Sinn. Denn der eingangs genannte Dienstleistungssektor beginnt, sich – trotz der skizzierten schwierigeren Ausgangsbedingungen – gegen schlechte Löhne und miserable Arbeitsbedingungen aufzulehnen. Das wurde erkennbar bei den Sozial- und Erziehungsstreiks, es wird jetzt deutlich in der Krankenhausbewegung und bei zahlreichen Organisierungsversuchen in Lagern von Amazon weltweit. Auch die Presse kommt nicht umhin, von diesen Streiks zu berichten, weil sie auch ein Aufbäumen gegen den Geist der Privatisierung und der Finanzialisierung darstellen, der weite Bereiche unseres Lebens ergriffen hat. Dazu kommen durch die Pandemie und durch die steigenden Preise, unter anderem aufgrund des Kriegs in der Ukraine, diverse Streiks in allen Bereichen, die deutlich höhere Löhne nach Jahren des Verzichts fordern.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass es in den Händen von Betroffenen liegt, sich gegen die Ungerechtigkeiten, die ihnen widerfahren, zu wehren. Und die arbeitenden Menschen machen immer noch die ganz große Mehrheit in der Bundesrepublik (wie auch global) aus, ebenso wie die Bedingungen im Arbeitsleben weiterhin maßgeblich für die soziale (Un)Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft sind. Es gibt allen Grund, dass ihre Leben und ihre Arbeitskämpfe auch in den Medien präsenter sein sollten. Dass sie es nicht sind, liegt an den oben dargestellten Entwicklungen, ist aber kein Grund, nicht von einer zukünftigen stärkeren Rückkehr der Klasse auch in den Medien auszugehen. Erste Romane in der Gegenwartsliteratur, etwa Rückkehr nach Reims von Didier Eribon (2016) oder Christian Barons (2020) Ein Mann seiner Klasse, deuten darauf hin. Auch Zeitungsbeiträge, die den Klassenkonflikt benennen, zeigen, dass die Frage nach Umverteilung und Teilhabe im politischen Diskurs wieder entlang von Klassenlinien diskutiert wird. Nicht zuletzt ist auch die Debatte um Klassismus ein Indiz, dass diese spezifische Form der Unterdrückung ihren Platz in der öffentlichen Wahrnehmung einnimmt – wenn auch zunächst als Debatte im Feuilleton oder an den Universitäten. In der Realität ist sie ja schon längst wieder da, die soziale Frage, die Medien hinken in diesem Sinne einfach etwas hinterher.

Die Schwierigkeit besteht jedoch weiterhin darin, diese Rückkehr der Arbeiterklasse nicht bloß als Phänomen zu beschreiben, sondern die handelnden Akteure selbst ins Zentrum zu rücken. Und das mit ungeheurer Genauigkeit und der Offenheit für unliebsame Ergebnisse fernab jeder Idealisierung. So ist es auch bei Susis Mädels und allen anderen Geschichten, an denen wir so schreiben müssen, dass die komplexe und oftmals widersprüchliche Realität deutlich wird: einerseits die Widerständigkeit der Protagonistinnen, andererseits ihre Gebrochenheit und der Verdruss mit dem politischen System. Einerseits ihr Einstehen für Gerechtigkeit, andererseits das Verlangen nach Autoritäten. Eine einfache Erklärung für den Aufstieg rechter Parteien lässt sich nicht herbeischreiben, ebenso wenig wie die Dynamik eines Streiks nur aus der Brille von Verbraucherinnen und Verbrauchern angemessen abgebildet werden kann. In der Berichterstattung sollten Journalistinnen und Journalisten erbarmungslos ehrlich und zugleich in hohem Maße empathisch sein. Nur auf diese Weise lassen sich Geschichten über die ‚wiederentdeckte‘ Arbeiterklasse erzählen, die kein Zerrbild oder bloße Propaganda sind, sondern die Menschen dieser Klasse ernst nehmen.