Zusammenfassung
Die kommunale Armenfürsorge ist der älteste Zweig der Sozialpolitik, letzterer vor- und zugleich nachgeordnet. Nach Ansätzen einer Ausgestaltung der Arbeiterpolitik im Kaiserreich wird die Armutspolitik 1924 erstmals einheitlich gefasst, aber erst mit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961/62 auch bezogen auf das materielle Leistungsrecht. Der Zusammenhang zwischen „Arbeiten“ und „Essen“ unterliegt z. T. heftigen Kontroversen, allerdings haben das Grundgesetz mit Artikel 1 und das Bundesverfassungsgericht Standards für soziale Teilhabe von Hilfebedürftigen gesetzt, die es konkret umzusetzen gilt.
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Notes
- 1.
Ordo meint eine nach außen abgeschlossene Sozialordnung, dargestellt in der Form einer Doppelpyramide. Kaiser und Papst bildeten gemeinsam eine Doppelspitze; weltliches und geistliches Handeln waren mit klaren Vorgaben statisch aufeinander bezogen. Dieses kommt auch in dem verbreiteten ptolemäischen Weltbild zum Ausdruck, wonach die Erde eine Scheibe ist, über der sich der Himmel kugelförmig wölbt, damit auch im Verhältnis Gott – Welt ein klares Über- und Unterordnungsverhältnis zum Ausdruck bringend.
- 2.
„Jedem das Seine.“ – Dieser feudale Rechtsgrundsatz wurde, wie andere auch („Arbeit macht frei.“) von den Nationalsozialisten missbraucht und als Inschriften über die Tore von Konzentrationslagern (Buchenwald) bzw. Vernichtungslagern (Auschwitz) angebracht. Diese Rechtsgrundsätze hatten im feudalen Ordnungssystem eine zentrale Bedeutung: „Jedem das Seine“ meinte danach eine sozial abgestufte Hilfestellung. Dass Arbeit frei mache, bedeutete, dass Leibeigene durch vermehrten Arbeitseinsatz ihre Freiheit erlangen konnten.
- 3.
Der Vormärz beschreibt den Zeitraum zwischen der Julirevolution von 1830 in Frankreich und dem Beginn der deutschen Märzrevolution (1848), in dem sich die politischen und sozialen Auseinandersetzungen um die Lösung der nationalen Frage sowie die damit verbundene Überwindung der feudalen Ordnung krisenhaft zuspitzten. Gegenstand war zum einen die Aufhebung der Kleinstaaterei durch einen republikanischen Nationalstaat (Hambacher Fest), zum anderen gewann die soziale Frage (Pauperisierung) im Zuge der einsetzenden Industrialisierung zunehmend an politischer Bedeutung.
- 4.
Die Stein-Hardenbergschen Reformen markieren Anfang des 19. Jahrhunderts durch den Bruch mit feudalen Herrschaftsprinzipien den Wandel Preußens zum modernen Staat, ohne die Monarchie selbst in Frage zu stellen. In diese Reformperiode fällt im Zuge der Bauernbefreiung (1799–1816) die Gleichstellung von Adel und Bürgertum im Recht auf Landbesitz (1807), die kommunale Selbstverwaltung (1808), die Öffnung des Offizierskorps für Bürgerliche sowie die Einführung der Gewerbefreiheit (1811), die Gleichstellung der Juden im öffentlichen Leben (1812) und schließlich die Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht (1814) bei gleichzeitiger Aufgabe schikanöser Behandlungsformen (Prügelstrafe).
- 5.
Einrichtungen wie etwa die Fachhochschule „Rauhes Haus“ in Hamburg oder die Evangelische Hochschule Rheinland-Westfalen-Klippe in Bochum (eine der Vorgängereinrichtungen kommt aus Düsseldorf – Kaiserswerth) gehen auf diese ersten Diakonischen Einrichtungen zurück, die im 1. Drittel des 19. Jahrhunderts gegründet wurden.
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Huster, EU. (2023). Von der mittelalterlichen Armenfürsorge zur sozialen Dienstleistung: Ausdifferenzierung und Integration. In: Huster, EU., Boeckh, J. (eds) Handbuch Armut und soziale Ausgrenzung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-37808-0_4-1
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