Das Medium „Internet“ und die darauf aufbauenden Technologien haben unser Leben in den letzten Jahrzehnten grundsätzlich verändert. Wissen wir etwas nicht, „googeln“Footnote 1 wir danach oder befragen die Internetenzyklopädie Wikipedia. Ebenso sind wir, um miteinander zu sprechen, nicht mehr zwingend auf physische Nähe angewiesen. Dank Foren, Chats, Messenger und Videotelefonie können wir in Echtzeit – und in gewisser Weise gar von Angesicht zu Angesicht – miteinander kommunizieren. Im Laufe der letzten dreißig Jahre sind unzählige neue Räume entstanden (und wieder verschwunden), in denen Menschen sich über Erfahrungen im Gartenbau, über Beautytipps, Fitnessprogramme usw. austauschen. Über diese Lifestylethemen hinausgehend engagieren sich Nutzer*innen aber auch für gesellschaftspolitische Anliegen, beispielsweise indem sie sich positionieren (z. B. über Gruppenmitgliedschaften, Profilangaben oder Bilder), sich einbringen (z. B. in Sozialen Medien politische und gesellschaftliche Themen diskutieren) oder andere aktivieren (z. B. Aktionen organisieren und bewerben) (Wagner et al. 2011).

Mit dem Web 2.0 und seinen gesteigerten Eingriffs-, Kooperations- und Rückmeldemöglichkeiten war zu Beginn in den 1990er Jahren die Hoffnung nach einer neuen Qualität der Teilhabe am öffentlichen Diskurs und einer Revitalisierung der deliberativen Demokratie verbunden. Auch für die Politische Bildung betonten verschiedene Autor*innen das demokratische und partizipative Potential des Internets (z. B. Bennett et al. 2009; Kneuer 2014; Rheingold 2008). Gemäß der Demokratisierungsthese schlägt sich die fortschreitende Vernetzung in einer demokratischeren Gesellschaft nieder (Ess 2018, S. 93). Diese Erwartung baut auf Strukturmerkmalen des Internets wie Gleichheit der Kommunikationspartner*innen, freier Zugang, Unabgeschlossenheit sowie Reduzierung von Zeit-, Raum- und Platzrestriktionen auf (Emmer 2018). Der Zugang zu diversen Sichtweisen kann zu einem Informationsreichtum und zu einer grösseren Heterogenität von persönlichen Netzwerken führen, wie empirische Befunde zeigen (Dubois und Blanc 2018). Diverse soziale Bewegungen haben für bisher ausgeschlossene Positionen neue Gegenöffentlichkeiten geschaffen. Die Klimastreikbewegung und die Bewegungen #meToo oder #BlackLivesMatter lösten globalen Protest aus und haben insbesondere den Jüngeren eine Stimme gegeben. Die digitalen Medien werden aber auch intensiv zur Veröffentlichung rechtspopulistischer und extremistischer Positionen genutzt. Damit wird das Mobilisierungspotential deutlich, welches das Internet auch für undemokratische Zwecke besitzt (Engesser et al. 2017). Die Verteidigung demokratischer Grundwerte erweist sich in dieser Hinsicht als herausfordernd und sollte nicht aufgeschoben werden.

Hinzu kommt, dass nicht alle die vielfältigen Netzaktivitäten und Partizipationsmöglichkeiten nutzen bzw. zu nutzen vermögen. So macht das Konzept des participation gap (Jenkins 2006) auf fehlende finanzielle Ressourcen und technische Möglichkeiten aufmerksam, die eine Partizipation an digitalen Räumen verhindert oder erschwert. Neben dieser Kluft gibt es noch eine weitere, welche die Kompetenzen der Nutzer*innen betrifft. So gibt es eine Differenz zwischen jenen, welche die Logiken sozialer Medien und die Auswirkungen algorithmischer Selektion auf Kommunikation verstehen und für die eigenen Anliegen zu nutzen wissen, und jenen, denen diese Fähigkeiten fehlen. Soziale Ungleichheiten wirken in Onlinekommunikationsräumen fort und verstärken die Kluft zwischen politisch Informierten, die ihr kulturelles und soziales Kapital auch in Partizipations- und Deliberationsprozessen im Internet einbringen, und jenen, welchen der Status oder die Befähigungen zur (politischen) Partizipation fehlt (Davies 2009, S. 2; Kenner und Lange 2020, S. 236–238; Price 2009, S. 42; van Dijk 2006).

Doch nicht nur bezüglich (politischer) Partizipation, sondern auch in Bezug auf persönliche Freiheit und politische Machtverhältnisse sind kritische Stimmen zu hören. Bereits 1985 – d. h. bevor das Internet aufgekommen war – argumentierte Postman (1985/2006), wir liefen in unserer elektronischen Zukunft Gefahr, in einem totalitären Staat zu leben, der für die Kontrolle seiner Bürger*innen auf eine perfekte Überwachung zurückgreifen könne. Diese Gefahr scheinen internetbasierte Technologien weiter zu verstärken. Smartphones, die für viele ein ständiger Begleiter sind, können beispielsweise verwendet werden, um uns auszuhorchen, unser Kommen und Gehen zu verfolgen oder unsere sozialen Kontakte zu identifizieren.Footnote 2 In vielen Bereichen erfolgt die Erfassung, Übertragung, Verarbeitung und Auswertung von Informationen heutzutage hauptsächlich digital. Dies eröffnet – ohne Gegenmaßnahmen (z. B. Verschlüsselung) – nicht nur einen erleichterten Zugang zu Inhalten. Nebst Inhaltsdaten fallen auch MetadatenFootnote 3 an, die es erlauben, umfassende Bewegungs- und Verhaltensprofile zu erstellen (Schaar 2017, S. 74). Diese ermöglichen, bestimmte Personengruppen gezielt anzusprechen oder zu überwachen. Insgesamt sind Daten der Nutzer*innen zur Währung des Internets geworden, dessen digitale Kommunikationsräume immer stärker kommerzialisiert werden und unter die Kontrolle einiger weniger transnationaler Unternehmen geraten (Ess 2018, S. 94). Diesen kommt somit zusehends größere Bedeutung auch für die politische Kommunikation zu.

Diese und weitere Entwicklungen legen den Schluss nahe, dass das Internet eine Gesellschaft nicht zwingend demokratischer macht. In Anbetracht der Phänomene, die in den letzten Jahren die wissenschaftliche und die öffentliche Debatte darüber, wie das Internet Politik und Öffentlichkeit beeinflusst, beherrscht haben, sind zwei miteinander verknüpfte Fragen angebracht: Wie wollen und können wir das Internet zur Unterstützung demokratischer Strukturen nutzen? Und welche Entwicklungen schaden ihnen?

Aktuell sind folgende Entwicklungen des öffentlichen Diskurses, der demokratische Gesellschaften auszeichnet und garantiert, kritisch zu analysieren: Erstens erleben wir derzeit eine „Messengerisierung“ der digitalen Öffentlichkeit (Eisenegger 2019, S. 12–13). In einigen Staaten (z. B. Brasilien, Malaysia oder Südafrika) ist WhatsApp beispielsweise der Ort, an dem Nachrichten geteilt und diskutiert werden (Reuters Institute 2019, S. 10). Auch in der Schweiz sind Messengerdienste in den letzten Jahren für diese Art von Kommunikation wichtiger geworden (Eisenegger 2019, S. 12). Dagegen, politische Diskussionen vermehrt in diesen „privaten“ digitalen Räumen zu führen, spricht zunächst nichts. Wie auch in anderen Lebensbereichen verschieben sich analoge Prozesse ins Digitale. Probleme können aber dann entstehen, wenn diese Debatten sich zu geschlossenen Zirkeln entwickeln, in die nur sehr selektiv Fakten, Gegenmeinungen und Argumente einfließen, die Sachverhalte zu kontextualisieren vermögen. Die fehlende Auseinandersetzung mit vielfältigen Informationen und konträren Argumenten, wie dies in breiten und diversen öffentlichen Debatten zum Tragen kommt, befördert wiederum die unwidersprochene Verbreitung von problematischen Positionen, Desinformationen, Hatespeech und Verschwörungstheorien und kann die Schaffung von epistemischen Blasen und EchokammernFootnote 4 begünstigen. Wir Menschen haben die Tendenz, Informationen auf eine Weise auszuwählen, zu suchen oder zu interpretieren, die den eigenen Erwartungen entspricht oder sich mit ihnen decken. Kommunizieren wir aber primär mit Gleichgesinnten, kann dies den Bestätigungsfehler weiter verstärken. Die daraus entstehenden epistemischen Blasen sind nicht per se problematisch. Werden darüber hinaus aber Quellen, Meinungen und Positionen von andersdenkenden sozialen Akteur*innen diskreditiert und die eigenen verstärkt, entsteht eine Echokammer. Diese können der gesellschaftlichen Polarisierung Vorschub leisten.

In den sozialen Medien lässt sich zweitens der Anschein generieren, eine bestimmte Meinung werde von vielen geteilt (Hagen et al. 2020). Dies kann dazu führen, dass Personen ihre Positionen weniger oder gar nicht mehr in die Öffentlichkeit tragen. Die Hemmung wird umso grösser, je grösser der Gegensatz zwischen der als allgemein vorherrschenden Meinung und der eigenen Meinung wahrgenommen wird. Es entsteht eine Schweigespirale (Noelle-Neumann 2001; für die Auswirkungen in sozialen Medien z. B. Gearhart und Zhang 2015). Wer folglich in der Lage ist, einer Meinung den Anschein zu geben, sie werde von vielen geteilt, beeinflusst sowohl was wie gesagt werden kann als auch unsere (handlungsleitenden) Meinungen und Vorstellungen.

Drittens werden nicht nur gut geprüfte und vertrauenswürdige Informationen im Internet platziert. Es gibt auch das Phänomen der gezielten Desinformation oder Fälschung. Diese werden u. a. auch als politisches Instrument eingesetzt. Der Begriff der „Fake News“ dient dazu, Zensur zu rechtfertigen, findet als Totschlagargument Verwendung, um sich nicht mit der Gegenseite abzugeben, und droht eine kritische Position gegenüber den Medien zu untergraben (Habgood-Coote 2019, S. 1051, 1053, 1054). Die Zunahme von Desinformation hat weitreichende Konsequenzen. Demokratische Prozesse werden untergraben, indem bewusst irreführende Informationen Unsicherheiten schüren und die gemeinsamen Grundlagen erodieren, die demokratische Gesellschaften benötigen (Starbird 2019). Fehlen vertrauenswürdige Informationsquellen, können wir uns kaum in unserer Gesellschaft zurechtfinden. Das Problem ergibt sich aus der Rolle, die News für unser Wissen über unsere Gesellschaft spielen. Nachrichten (und damit die Medien, die uns mit diesen beliefern) sind erstens eine direkte Informationsquelle. Aus ihnen entnehmen wir einen Großteil unseres Wissens über unsere Umwelt. Zweitens sind sie eine indirekte Informationsquelle. Durch die Medien erhalten wir auch Metainformationen darüber, was andere (vermeintlich) interessiert und welche Informationen andere suchen, wenn sie sich über ihre Umwelt informieren (Gelfert 2018, S. 88–89). Vertrauenswürdige Informationen sind daher essenziell.

Die Zahl der Produzent*innen (politischer) Information hat sich viertens durch das Internet und insbesondere durch die sozialen Medien vergrößert. Neu müssen sich die klassischen Massenmedien und Politiker*innen diese Rolle mit weiteren Akteur*innen teilen (Castells 2007, S. 257; Neuberger 2018, S. 86; Thimm 2017, S. 49). In der Folge haben die klassischen Medien ihre Rolle als Gatekeeper teilweise eingebüßt (Wallace 2018). Die Funktionen des Internets erlauben es Aktivist*innen, Künstler*innen, Wissenschaftler*innen aber auch Influencer*innen einerseits, ihre Anliegen direkt in die Bevölkerung zu tragen, ohne den „Umweg“ über die Massenmedien gehen zu müssen. Andererseits sind diese Akteure*innen aber von jenen abhängig, welche die Infrastruktur bereitstellen, was deren Position sowohl gegenüber den Produzent*innen als auch gegenüber den Konsument*innen politischer Information stärkt. Logiken der sozialen Medien, die zu Spektakel oder Breaking News anstelle ausführlicherer Berichterstattung tendieren (Poell und van Dijck 2015; Pörksen 2018), können Individuen nur schwer umgehen. Dies erschwert es in der Folge, verschiedene Perspektiven und Zwischentöne darzustellen. Die schiere Menge (politischer) Information, die heute verfügbar ist, kann problematisch sein, da sie droht, sowohl das Individuum als auch das System zu überfordern (Dryzek et al. 2019, S. 1144). Bewusst gewählte Selektionsmechanismen oder Qualitätsstandards scheinen dabei nur teilweise eine Rolle zu spielen. Derweil sich im professionellen Journalismus gewisse Standards etabliert haben (vgl. z. B. Deutscher Presserat 2017; Schweizer Presserat o. J.), fehlt diese Art von Vorgaben und Kontrolle in nicht professionellen Publikationen. Die Folgen sind bekannt: Einerseits besteht Raum für Vertiefung und Alternativen, es können sperrige Themen, problematische Sachverhalte oder Themen weg vom Mainstream aufgegriffen werden. Dies verstärkt die Vielfalt. Andererseits stellt sich die Frage, wer die Kontrolle übernehmen bzw. die Verletzung von Standards ahnden soll und welche Effekte dies hervorruft.Footnote 5 Übernehmen dies die Infrastrukturbesitzenden selbst, stärkt dies deren Position weiter. Sie erhalten somit eine größere Kontrolle über die Inhalte, steigern ihren Einfluss darauf, was gesagt werden darf und was nicht, und übernehmen gleichzeitig Funktionen,Footnote 6 die ihnen allenfalls gar nicht zugedacht sind. Diese Herausforderungen – mehr Akteur*innen, die Unübersichtlichkeit politischer Kommunikation und fehlende journalistische Standards – stellen eine zunehmende Herausforderung für die einzelnen Nutzer*innen dar, Informationen zu prüfen und zu kontextualisieren sowie einen diversen Medienmix zu schaffen. Die Kombination aus einer Vielfalt von Medienkanälen und einem Zuwachs an kommunizierenden Akteur*innen macht die Identifikation, Analyse und Kritik jener Systeme, die politische Informationen kreieren und verbreiten, komplexer und damit auch anspruchsvoller. Mehr denn je ist die Fähigkeit zur Orientierung gefragt.

Ein letztes Phänomen, auf das wir hinweisen möchten, betrifft die schwindende Privatsphäre. Wie bereits oben erwähnt, war es noch nie so einfach, so viele Daten über Bürger*innen zu sammeln, wie heute. Weder sind wir aber in der Lage, die langfristigen Folgen dieser Datenflut abzuschätzen, noch können wir genau wissen, wie die verfügbaren Informationen über uns miteinander verknüpft und analysiert werden. Die Auswertung dieser Daten muss nicht zwingend negative Auswirkungen haben, sondern kann beispielsweise dank Mustererkennung in unserem Verhalten unsere Städte oder unsere Mobilität „intelligenter“ machen (Ritzi 2017, S. 101). Big DataFootnote 7 kann sich aber auch negativ auf unser Leben auswirken, wenn auf deren Grundlage Wahl- und Handlungsfreiheiten beschnitten und Diskriminierungen verbunden sind (z. B. Entscheidungen der Versicherungswirtschaft oder die Einschätzung der Kreditwürdigkeit, Schaar 2017, S. 76). Darüber hinaus ergeben sich mehr Möglichkeiten für Kontrolle und Überwachung, insbesondere wenn durch Verknüpfung personenbezogener Daten aus verschiedenen Datensätzen ein umfassendes Bild einer Person generiert werden kann (Ritzi 2017, S. 101).Footnote 8 Es ist heute kaum möglich, sich der Sammlung unserer Daten zu entziehen. Um dies zu erreichen, müssten wir uns komplett aus dem digitalen und öffentlichen Raum zurückziehen. Die Kosten dafür wären aber unverhältnismäßig hoch (soziale Isolation, kein Zugang zu Informationen etc.) und man dürfte keine digitalen Technologien verwenden. Folglich befinden wir uns in einer Lage, in der wir keine realistische Möglichkeit für ein Opt-out besitzen. In Verbindung mit der Tatsache, dass wir (oft) keinen Einfluss darauf haben, wer unsere Daten wie nutzt (Brunton und Nissenbaum 2016, S. 49), bedeutet dies: Wir sehen uns einer eklatanten Informationsasymmetrie gegenüber. Nicht nur sind Angebote hinsichtlich Datenschutz wenig transparent, uns fehlt oftmals auch das Wissen, um zu verstehen, wie unsere Daten durch Big-Data-Auswertungsmethoden mit anderen korreliert werden, welche Modelle hinter den Auswertungen stehen und wie die verwendeten Algorithmen wirklich funktionieren (Brunton und Nissenbaum 2016, S. 49–51). Ohne dieses Verständnis ist es erstens unmöglich, die Folgen der Datensammlungen über uns abzuschätzen. Zweitens erschwert uns dieses fehlende Wissen, genau zu verstehen, weshalb wir mit dieser und nicht mit einer anderen Information konfrontiert werden.Footnote 9 Drittens fällt es uns als Bürger*innen oftmals schwer einzuschätzen, ob die algorithmische Selektion fairFootnote 10 ist bzw. welche Nachteile sich für das Gemeinwohl daraus ergeben.

Diesen kritischen Aspekten stehen unter anderem die bereits erwähnten Potenziale „intelligenter“, auf Big Data beruhenden Technologien gegenüber, die unser Leben einfacher und sicherer machen. Auch erlaubt das Internet einen schnellen Zugang zu Informationen und bietet neue Kommunikationsmöglichkeiten. Zurzeit dominieren – wie Knorre et al. (2020, S. 204) in ihrer Studie zeigen – pessimistische Einschätzungen wie das „Big-Brother-Narrativ“. Optimistischen Schilderungen kommt lediglich eine sekundäre Rolle zu. Insgesamt orten wir einen dringenden Diskussionsbedarf über die (politischen) Gestaltungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten des Internets. Insgesamt sind Diskussionen über regulative Eingriffe und Fragen zur Datenethik spärlich und die Auswirkungen auf das private und gesellschaftliche Zusammenleben in gegenwärtigen Demokratien noch kaum abschätzbar. In diesem Kontext scheint sowohl die Analyse der Auswirkungen der digitalen Transformation und deren Einflussnahme auf die Ausgestaltung politischer Öffentlichkeit als auch der Ausblick auf Alternativen umso wichtiger zu sein.

1 Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen: Was soll und kann die Politische Bildung beitragen?

Welche Aufgabe kommt in diesem Umfeld der Politischen Bildung zu? Zielt letztere darauf ab, die Lernenden zu befähigen, als selbstbestimmte und -ermächtigte Bürger*innen am Politischen zu partizipieren, müssen sich diese in der Gesellschaft orientieren können. Diese integrative Perspektive sieht vor, Heranwachsende in ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten so zu stärken, dass sie verstehen, wie gesellschaftstragende Institutionen funktionieren. Darauf aufbauend sollen sie politische Fragen und Probleme beurteilen und sich in öffentlichen Angelegenheiten engagieren können. Das Zielkonzept der Politischen Kompetenz erfasst die dafür notwendigen Fähigkeiten und Einstellungen in Dimensionen wie Methoden-, Urteils- und Handlungskompetenz sowie konzeptuelles Deutungswissen (Detjen et al. 2012; Kühberger 2009). Dabei geht es nicht nur um die Erlangung basaler Kompetenzen. Vielmehr will Politische Bildung Heranwachsende dazu ermächtigen – sich basierend auf demokratischen Prinzipien und Grundrechten – am Politischen beteiligen zu können. Die sozialen Verhältnisse, in die Individuen eingebunden sind, sollen sie verstehen und reflektieren können. Darüber hinaus müssen sie als selbstbestimmte und -ermächtigte Bürger*innen in der Lage sein, Bestehendes kritisch zu hinterfragen und – wenn notwendig – mittels legitimer politischer Mittel zu verändern. Aus dieser Perspektive kommt der Politischen Bildung ebenfalls eine emanzipierende Funktion zu.

In einer Gesellschaft, die von Medien durchdrungen ist, stellen diese nicht nur eine wichtige Quelle politischer Informationen dar. Die politische Arena ist primär eine mediale. Wir leben in einer Mediengesellschaft (Jarren 2001, S. 11). Mit Medien und politischen Informationen umgehen zu können, ist aus diesem Grund für selbstbestimmte und ermächtigte Bürger*innen essenziell. Beispielsweise beschreiben Mihailidis und Thevenin (2013, S. 1614) medienkundige Bürger*innen im digitalen Zeitalter erstens als kritische Denker*innen, die Medieninhalte analysieren und kontextualisieren. Zweitens sind sie effektive Schöpfer*innen und Kommunikator*innen, die dazu in der Lage sind, ihre Sicht der Dinge mitzuteilen und neue Kommunikationswege, -mittel oder -formen zu entwickeln (Mihailidis und Thevenin 2013, S. 1615–1616). Darüber hinaus sind sie drittens aktive Akteur*innen des gesellschaftlichen Wandels, die Informationen sammeln und analysieren, selbstständig fundierte Meinungen bilden und diese mit anderen teilen (Mihailidis und Thevenin 2013, S. 1616). Die Autoren postulieren vier Kompetenzen medienkundiger Bürger*innen: Erstens sollen medienkundige Bürger*innen fähig sein, Medieninhalte zu verarbeiten, sich diese anzueignen und in neuer Form erneut zu verbreiten (partizipative Kompetenz). Zweitens sollen sie das Internet mitgestalten können, indem sie durch Kollaboration geteilte Bedeutungen schaffen, mit anderen in Verbindung treten und ihre Kommunikation auf eine Gruppe von interessierten Peers ausdehnen (kollaborative Kompetenz). Drittens sollen sie in der Lage sein, den digitalen Raum mitzugestalten, indem sie ein gemeinsames Narrativ kreieren (expressive Kompetenz). Viertens sollen sie sich mit Medieninhalten, die ihnen im Alltag begegnen, kritisch auseinandersetzen können (kritische Kompetenz). Der Fächer an Wissen und Fähigkeiten, der notwendig ist, um an einer digitalisierten oder mediatisierten Gesellschaft selbstbestimmt und -ermächtig zu partizipieren, stellt hohe Ansprüche an die politische Bildung der Bürger*innen.

In Bezug auf die schulische Politische Bildung stellt sich daran anschließend die Frage, was sie leisten soll und kann. Der schnelle und andauernde Wandel sowie die kaum abzuschätzenden Folgen der Transformation des Mediensystems machen selbstorganisiertes und lebenslanges Lernen zu einer Notwendigkeit weit über die Schule hinaus. Allerdings stellt sich die Frage, was an Basiswissen und -kompetenzen im Rahmen der formalen Bildung angesprochen werden soll. Schüler*innen erwerben gegenwärtig ihre Mediennutzungskompetenzen primär fächerübergreifend sowie in informellen Settings. Selbstsozialisation und -initiation in die digitale Öffentlichkeit bestimmen derzeit den Umgang mit neuen Medien (Sutter 2017, S. 45). Digital verankerte Jugendkulturen erweisen sich zum Teil als Treiber des Medienwandels (z. B. der Erfolg von Plattformen wie YouTube). Das klassische Wissensgefälle zwischen Lehrpersonen und Schüler*innen weicht sich im Feld der Medienbildung auf. Schule kann daher insbesondere als Raum dienen, um eigenes und fremdes Handeln sowie eigene und fremde Positionen und Anschauungen zu reflektieren (Moser 2010, S. 65) und gemeinsam darüber ins Gespräch zu kommen. Die schulische Politische Bildung ist ein Ort, an dem Heranwachsende unabhängig von ihrer Herkunft und medial geprägten Vorlieben angesprochen und deren politische Lernprozesse systematisch(er) angeregt werden können. Sie hält zudem methodische Vorschläge für die Gestaltung solcher Lernprozesse bereit.

Mit Blick auf bestehenden Kompetenzmodelle der Politischen Bildung zeigt sich ein starker Bezug zur politischen Methodenkompetenz. Diese umfasst einerseits die Fähigkeit, sich mündlich, schriftlich und visuell – unter anderem in „modernen Medien“ – ausdrücken zu können. Andererseits zielt diese Kompetenz darauf ab, „Manifestationen des Politischen“ zu entschlüsseln (Krammer 2008, S. 10; Kühberger 2009, S. 137). Ausgehend von der Idee einer partizipativen Kultur (Jenkins 2009, S. 6–7), die das Internet in gewissen Fällen befördern kann, gibt es erstens gute Gründe dafür, die beiden Dimensionen der Methodenkompetenz nicht nur als stark verknüpft, sondern als untrennbar zu verstehen. Zweitens sind die neuen Ausdrucksmittel wie z. B. Memes oder die breite Verfügbarkeit einst limitierter Medienformen wie z. B. Video zu berücksichtigen.

Ein Modell, welches diese Forderung aufnimmt, ist Jenkins’ (2009) Konzept der new media literacy. Darin fordert er erstens eine inklusive media literacy, die traditionelle Lese- und Schreibfähigkeiten mit digitalen, visuellen und audiovisuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten kombiniert. Das Modell betont zweitens die zentrale Stellung von Recherchefertigkeiten. Diese umfassen nebst gängigen Strategien ebenfalls, Information kritisch danach zu befragen, ob sie verlässlich oder vertrauenswürdig sind. Drittens verweist Jenkins auf die Relevanz von IT-Fertigkeiten. Darunter fallen für ihn u. a. Kenntnisse darum, wie die Technik funktioniert, und die Fähigkeit, sich mit der IT selbsttätig auseinander zu setzen. Viertens verlangt das Modell danach, die Strukturen medialer Repräsentation zu analysieren und zu hinterfragen. Dabei geht es insbesondere um den Erwerb eines grundlegenden Verständnisses, wie Medien durchs Framing beeinflussen, wie wir die Welt wahrnehmen, und wie Meinungsbildungsmechanismen funktionieren. Für Jenkins ist new media literacy eine soziale Fähigkeit und bezieht sich damit nicht nur auf den individuellen Ausdruck. Sie zielt auch darauf ab, in einer Gemeinschaft zu interagieren. Entsprechend fordert er neue Lernerfahrungen in Schulen, die dazu beitragen, Fähigkeiten aufzubauen, die ein kooperatives Lösen von Problemen erlauben. Dafür sind Fertigkeiten und Erfahrungen zu Aspekten wie Spiel, Simulation, Performanz, Urteilen, kollektive Intelligenz und Netzwerken entscheidend.

Als weitere relevante Themenkomplexe erweisen sich politisches Urteilen (May 2019), digitale Ethik und digitale Partizipation (Choi 2016; Waldis 2020), sowie die Frage, wie die Analyse und Kritik politischer Kommunikation anzugehen ist (für einen auf dem Konzept Macht basierenden Vorschlag, siehe z. B. Hubacher 2021). Selbst wenn wir diese Punkte hier nicht vertiefen können, wird ein Aspekt bereits sehr deutlich: Das Ziel, die Lernenden zu befähigen, als selbstbestimmte und -ermächtigte Bürger*innen am Politischen teilzuhaben, verlangt in einer Mediengesellschaft unter anderem danach, jene Systeme verstehen, kritisieren und gestalten zu können, die politische Information kreieren und verbreiten. Um der Komplexität und den Interdependenzen dieser Systeme gerecht zu werden, ist auf verschiedenste Fachbereiche und deren Zugänge zurückzugreifen. Diese bilden die Grundlage, um Lernende zu befähigen, sich selbstbestimmt und emanzipiert mit den gesellschaftspolitischen Fragen des 21. Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Der vorliegende Band ist dieser multiperspektivischen und transdisziplinären Perspektive verpflichtet. Aus diesem Grund versammelt er nicht nur Beiträge aus der Politischen Bildung, der Medien- und Kommunikationswissenschaft, der Philosophie, der Erziehungswissenschaft sowie der Praxis, sondern vereint Beiträge, die ein diverses Verständnis über Ziele und Aufgaben politischer Bildung aufweisen (vgl. Abschn. 2). Trotz diesen unterschiedlichen Positionen zeigen sich gemeinsame oder anschlussfähige Überlegungen und Annahmen, auf deren Basis sich eine Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit entwickeln lässt (vgl. Abschn. 3).

2 Die Beiträge

Bei den ersten beiden Beiträgen handelt es sich um überarbeitete Nachdrucke bereits publizierter Beiträge. Ulrich Binder und Heinz-Elmar Tenorth befassen sich mit der Frage, ob der Filterblaseneffekt ein Problem für die Politische Bildung darstellt. Dazu gehen sie zuerst auf die klassischen Theorien über Öffentlichkeit ein und identifizieren, welche Momente daraus abgeleitet als öffentlichkeitsgefährdend respektive, ex negativo, als unabdingbar für eine wie auch immer funktionierende Öffentlichkeit einzuschätzen sind. Darauf aufbauend befassen sich die beiden Autoren damit, ob und wie die herausgearbeitete Problematik die Politische Bildung betrifft. Binder und Tenorth sehen ganz allgemein die Bildung in der Pflicht, Heranwachsende auf die grundlegenden Herausforderungen einer Demokratie im digitalen Zeitalter vorzubereiten.

Roberto Simanowski argumentiert in seinem Beitrag dafür, als Gesellschaft bei der Entwicklung und Implementierung neuer Technologien vorsichtig zu sein. Er sieht sowohl die gesellschaftlichen Teilsysteme Kultur und Bildung in der Pflicht, die technologische Entwicklung kritisch zu begutachten und deren Konsequenzen für die Gesellschaft zu analysieren. Dabei gilt es, nicht nur die intendierten Implikationen in den Blick zu nehmen, sondern die darüberhinausgehenden Auswirkungen aufzudecken und die Möglichkeiten, diese gegebenenfalls zu verhindern. Die Bildungsinstitutionen sollen die stattfindenden Entwicklungen analysieren, um sie historisch einzuordnen und mit Annahmen über die Zukunft auszustatten.

Colin Porlezza bespricht in seinem Beitrag die Auswirkungen der Algorithmisierung öffentlicher Kommunikation. In einem ersten Schritt zeigt er, wie stark Medien unser soziales Leben dominieren und welche Folgen der Medienwandel für die Öffentlichkeit(en) hat. Zweitens analysiert der Beitrag, wie Algorithmen die mediale Kommunikation vorstrukturieren und den selektiven News-Konsum beeinflussen. Abschließend plädiert der Beitrag für ein konzertiertes Vorgehen in der politischen Bildung, das den Erwerb von Medienkompetenz ins Zentrum stellt. Er empfiehlt dabei, die im Journalismus vorliegende Expertise in die Strategien zur Bewältigung der neuen medialen Unübersichtlichkeit einzubeziehen.

In seinem Beitrag argumentiert Michael Schröder dafür, Medienkompetenz als Schlüssel für Demokratiekompetenz zu verstehen. Zunächst erläutert und definiert der Autor die zentralen Begriffe Medienkompetenz und Demokratiekompetenz. Für ihn sind die Ziele der Medienkompetenzbildung auch jene der Politischen Bildung. Danach geht Michael Schröder auf die tiefgreifende Veränderung der Medienlandschaft und -nutzung ein. Er argumentiert, der professionelle Journalismus verliere seine klassische Bedeutung als Gatekeeper und „Navigator“ im Nachrichtenstrom. Nicht journalistischen Quellen komme dagegen immer mehr die Rolle der meinungsbildenden Medien zu, was mittelfristig die politische Informiertheit und Diskursfähigkeit schwäche und die gesellschaftliche Polarisierung verstärke. Die digitalen Onlinewelten erweisen sich für Schröder als janusköpfig. Einerseits ermöglichen sie vielen freien Informationszugang und erlauben eine demokratischere politische Kommunikation. Andererseits ist das Internet auch eine Bühne für Hasskommentare, Lügen und Propaganda. Demokratie braucht eine funktionierende Öffentlichkeit, deren Fortbestehen ist aber herausgefordert. In diesem Kontext plädiert der Autor für eine konsequente Förderung der Medienkompetenz. Medienbildung, Politische Bildung, soziales Lernen und Werteerziehung fließen im Idealfall zusammen zu einer digitalen Staatsbürgerkunde.

Andreas Eis fragt in seinem Beitrag nach den fachdidaktischen Konsequenzen, die sich aus der Transnationalisierung und zugleich erfolgender Fragmentierung von Räumen politischer Öffentlichkeit durch digitale Medien ergeben. Zunächst reflektiert der Autor neue Machtstrukturen aus demokratietheoretischer Sicht im Hinblick auf die Meinungs- und Willensbildung. Dabei argumentiert er, dass sich diese nicht allein durch die digitalen Technologien, sondern wesentlich durch Prozesse der Transnationalisierung und ökonomische In-Wert-Setzung sozialer Kommunikation verändern. Im zweiten Schritt erörtert er die Chancen und Grenzen digitaler Kommunikation für demokratische Teilhabe im „kommunikativen Kapitalismus“. Dabei lassen sich einerseits Belege für die Schaffung neuer Zugänge zu Informationen, politischer Selbstorganisation und sozialer Teilhabe finden. Andererseits gibt es ebenfalls gute Argumente für eine gegenteilige These, nach der digitale Medien den öffentlichen sowie den privaten Raum zerstören und damit die Demokratie gefährden. Diese Thesen diskutiert Andreas Eis abschließend anhand eines Beispiels einer transnationalen sozialen Bewegung in Europa (Klimastreikbewegung) hinsichtlich der Frage, wie sich aus neuen Handlungsräumen Lernanlässe ableiten und für die Politische Bildung nutzen lassen.

Gudrun Hentges und Bettina Lösch beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit der politischen Neutralität und Normativität in der politischen Bildung. Sie beleuchten die Praxis der AfD-Fraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft – die in weiteren Bundesländern nachgeahmt wurde –, eine Meldeplattform „Neutrale Schule“ im Internet einzurichten. Mit diesen Plattformen werden Schüler*innen dazu aufgerufen, Lehrer*innen zu melden, die sich kritisch gegenüber der AfD äußern, was gegen den Beutelsbacher Konsens (BK) und sein (angebliches) Neutralitätsgebot verstoße. Der BK hat weder rechtliche Geltung noch impliziert er ein Neutralitätsgebot. Dennoch bewirkten die AfD-Plattformen eine Verunsicherung unter politischen Bildner*innen und weiteren Akteur*innen im Bildungsbereich. Wie „neutral“ muss sich politische Bildung in der Öffentlichkeit, vor allem gegenüber demokratisch gewählten Parteien verhalten? Welche politische Normativität ist notwendig für eine demokratische politische Bildung? Anders als im Falle von Fake News, Bullshitting etc. stellen die Meldeplattformen eine besondere Form der Beeinflussung der politischen Öffentlichkeit dar. Sie dienen der Denunziation, der Diffamierung und sind (dahingehend) spezifische Formen des Hatespeech.

In seinem Beitrag greift Manuel S. Hubacher das Phänomen Fake News auf und plädiert für einen analytischen Zugang zur Thematik. Zunächst grenzt er den Begriff der Fake News von anderen Phänomenen ab. Er zeigt auf, dass der Begriff nicht nur keinen analytischen Mehrwert bietet, sondern dass er die eigentlichen Probleme verschleiert und als Propagandabegriff u. a. Verwendung findet, um Zensur zu rechtfertigen und die Gegenseite zu delegitimieren. Trotzdem sollte die Politische Bildung nicht vollkommen auf den Begriff verzichten. Versteht man Fake News als einen fließenden Signifikant in hegemonischen Projekten, erlaubt dies den Zugriff auf die politische Dimension von Desinformation. Fake News als politischer Kampfbegriff lässt sich darüber hinaus als einen Angriff auf die Autorität der Leitmedien interpretieren. Der Autor geht im Anschluss sowohl auf die inhaltliche als auch auf die formelle Dimension dieses Angriffs ein. Darauf basierend erarbeitet er einen Vorschlag, wie Fake News auf analytischer Basis in der Politischen Bildung behandelt werden könnten.

Romy Jaster und David Lanius greifen in ihrem Beitrag das Phänomen des Bullshits auf. Im Unterschied zum Lügner, der über die Fakten täuschen will, stellt der Bullshitter seine Behauptungen ohne jedwede Orientierung an den Tatsachen auf. Bullshit zeichnet sich durch Gleichgültigkeit gegenüber der Wahrheit aus. Politik, Medien und Wissenschaft haben die Virulenz von Bullshit bereits bemerkt – allerdings bleibt unklar, was es bedeutet, dass Bullshitter der Wahrheit gegenüber gleichgültig sind. Jaster und Lanius argumentieren erstens, dass für Bullshit in unterschiedlichen Behauptungszusammenhängen (Redebeiträge in Talkshows, Zeitungsartikel, Post in den sozialen Medien, etc.) unterschiedliche Grade von Gleichgültigkeit einschlägig sind, weil unterschiedliche Sorgfaltspflichten bestehen. Zweitens zeigen Jaster und Lanius, dass der besonders problematische demonstrative Bullshit regelmäßig übersehen wird. Akteure wie Donald Trump oder die AfD bullshitten demonstrativ, um die Norm der Wahrheit im gesellschaftlichen Diskurs zu untergraben und so die Grundlage für demokratische Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse zu zersetzen. An diese Überlegungen anknüpfend folgern Jaster und Lanius, die Politische Bildung solle die Wirkweise des (demonstrativen) Bullshits vermitteln und gemeinsame Erkenntnisnormen stärken.

Die beiden Werkstattberichte beleuchten mögliche Ansätze, um einen emanzipierten und selbstbestimmten Umgang mit politischer Information und Kommunikation in digitalen Räumen zu erlernen. Sonja Enz und Julia Hochuli präsentieren in ihrem Bericht die Ausstellung FAKE. Die ganze Wahrheit. Welche Lügen sind verzeihlich, welche gefährlich und welche vielleicht sogar nötig? Inwiefern bedrohen Fake News die Demokratie? Und wem können wir noch vertrauen? Für die Ausstellung FAKE verwandelte sich das Stapferhaus Lenzburg in das „Amt für die ganze Wahrheit“. Das Ziel dieser Behörde bestand darin, Orientierung zu geben im Umgang mit Lüge und Wahrheit. Den Besucher*innen kam dabei die Hauptrolle zu: Sie wurden in demokratischer Manier zur aktiven Mitarbeit aufgefordert. Im Bericht machen die beiden Autorinnen anhand zweier Abteilungen – der „Zentralen Lügenanlaufstelle“ und der „Dienststelle für Wahrheitsfindung und -sicherung“ – beispielhaft deutlich, wie das Stapferhaus seine Besucher*innen zur Partizipation und kritischen Reflexion bewegte. Sie zeigen auf, wie digitale Technologien maßgeblich zum kollektiven Erleben und zum öffentlichen Dialog beitragen und weshalb die Besuchenden mit dem Aufruf „Die Wahrheit braucht dich!“ aus dem Amt entlassen wurden.

In seinem Bericht beschreibt Robert Behrendt am Beispiel zweier Projekte, wie politische Jugendbildung aussehen kann, welche die Möglichkeiten von Onlinebeteiligung nutzt, indem sie auf Social Media als Aktionsraum setzt. Dabei liegt der Fokus nicht darauf, über Social Media politisch bildnerische Inhalte zu verteilen. Vielmehr werden den Jugendlichen Werkzeuge an die Hand gegeben, um sich gesellschaftspolitische Fragen selbst zu erschließen. Reale Anlässe ermöglichen, die eigene Haltung zu reflektieren und Ausdrucksformen dafür zu finden. Anhand der Projekte #NichtEgal und How2Influence prüft der Autor, wie YouTube und Instagram als Beteiligungsmittel eingesetzt werden können, um junge Menschen politisch online zu beteiligen. Erfahrungen mit aktiver Medienarbeit, Peer-Education und dem „Bring your own device“-Ansatz reflektiert Behrendt als Basis für erfolgreiche Onlinebeteiligung. Der Bericht behandelt abschließend die Frage, welche Rolle nichtöffentliche Kommunikation in Messengerdiensten künftig spielen könnte.

3 Quo vadis?

Die verschiedenen Beiträge legen trotz – oder gerade wegen – ihrer multiperspektivischen und transdisziplinären Perspektive einige Schlussfolgerungen für die Politische Bildung nahe. Medien sind ein unabdingbarer Bestandteil des Politischen. Politik spielt sich in, um und durch die medial hergestellte Öffentlichkeit ab. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass der Medienkompetenz in den Beiträgen eine entscheidende Rolle eingeräumt wird (Porlezza, Schröder, Behrendt). Diese ist essenziell dafür, dass Lernende ihre Rolle als selbstbestimmte Bürger*innen einnehmen können, die politische Informationen analysieren und kritisch hinterfragen, emanzipiert eigene Inhalte schaffen und eigene Ansichten kommunizieren sowie ihre Gesellschaft aktiv mitgestalten. Dafür müssen die Schüler*innen nicht nur in der Lage sein, die technischen Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, zu nutzen. Die „politische“ Frage ist dafür entscheidend. Dies beinhaltet etwa die kritische Auseinandersetzung mit möglichen, nicht zwingendermaßen intendierten gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien (Simanowski). Denn die Entwicklungen ergeben sich nicht naturwüchsig aus den digitalen Technologien, es spielen weitere Prozesse wie die Transnationalisierung und ökonomische Verwertung sozialer Kommunikation eine Rolle (Eis). Die digitale Transformation ist selbst politisch. Entsprechend sind Aushandlungs- und Partizipationsmöglichkeiten zu gestalten und die Aufrechterhaltung demokratischer Werte wie Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung im digitalen Raum fortwährend zu diskutieren.

Die Apps und Dienste der Intermediäre benutzen zu können, ist eine notwendige Voraussetzung, um als selbstbestimmte und ermächtigte Bürger*innen zu partizipieren. Deren reflektierte Nutzung bildet auch einen geeigneten Ausgangspunkt, um den Lernenden die Werkzeuge an die Hand zu geben, sich selbstständig mit gesellschaftspolitischen Fragen zu beschäftigen (Behrendt). Dabei geht es nicht primär darum, die grundlegenden Funktionsweisen zu erlernen, denn dieses Wissen bringen die Schüler*innen oftmals bereits mit. Nimmt man die Auswirkungen aktueller Entwicklungen für die Gestaltung von Öffentlichkeit in den Blick und analysiert diese im Unterricht, eröffnet sich die Möglichkeit, grundlegende, aber fürs Politische entscheidende Fragen anzugehen und relevante Erkenntnisse zu fördern. Auf diese Weise können etwa Desinformationen auf ihre politische Funktion hin reflektiert (Hubacher) und die Wichtigkeit geteilter Normen, was wahre oder vertrauenswürdige Informationen sind, herausgearbeitet werden (Jaster und Lanius). Diese politische Dimension digitaler Kommunikation ist nicht nur relevant für Schüler*innen. Er betrifft auch die Lehrer*innen, deren Handeln ebenfalls politisch ist, und damit politische Reaktionen hervorruft (Hentges und Lösch).

Daran anschließend ergeben sich aus unserer Sicht folgende Thesen für eine Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit:

  1. 1.

    Die in bildungspolitischen Diskursen wiederholt skizzierten Anforderungen an die Kompetenzen von Bürger*innen in einer digitalen Welt beziehen sich auf den „reflektierten, selbstbestimmten, verantwortlichen und partizipatorischen Umgang mit Medien- und Informationstechnologien, Daten und Informationen“ (Gapski 2017, S. 109). Diese Vorstellungen leiten auch Konzeptionen einer digital citizenship (Choi 2016; Frau-Meigs et al. 2017). Die in der Dagstuhl-Erklärung (Gesellschaft für Informatik 2016) allgemein für Bildungsprozesse formulierte Forderung ist für die Politische Bildung zu akzentuieren: Sie soll die Reflexion gesellschaftlicher und kultureller Phänomene und deren politische Auswirkungen ins Zentrum stellen. Die kritische Analyse des eigenen und fremden Nutzungsverhalten in Kombination mit dem Verständnis für die Funktionsweise digitaler Technik bildet dazu den Ausgangspunkt. Daran muss eine Analyse der gesellschaftlichen Situation anschließen: Welche Auswirkungen haben die Entwicklungen auf unsere Freiheit? Sind die neuen Gegebenheiten gerecht oder diskriminieren sie? Was ist – wenn überhaupt – zu regulieren, um das Gemeinwohl bestmöglich zu fördern oder zu erhalten? Welche ethische Grundlage soll das Handeln im digitalen Raum leiten?

  2. 2.

    Kinder und Jugendlichen nutzen das Internet und seine Angebote primär konsumorientiert, expressiv und für die Pflege von sozialen Beziehungen (Kersting 2017; Sutter 2017). Folglich nehmen sie das Internet nicht automatisch als Ort des Politischen wahr. Implizit sind sie mit Aktivitäten wie Liken und Teilen an der Selektion und Verbreitung von (politischer) Information beteiligt. Mit Profilbildern und Posts gestalten sie Kommunikationsstandards mit. Ihr Bewusstsein, dass sie mit diesen und weiteren Handlungen den digitalen Raum und damit die Gesellschaft mitgestalten, gilt es zu schärfen und zu stärken.

  3. 3.

    Die Politische Bildung für eine digitale Öffentlichkeit setzt Medienkompetenz voraus und ist deren spezifischen Förderung für das Politische verpflichtet. Jenkins folgend plädieren wir für eine breite information literacy: Traditionelle Lese- und Schreibfähigkeiten sind erstens mit visuellen und audiovisuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten im Umgang mit Bilderwelten zu erweitern. Zweitens müssen selbstbestimmte und ermächtigte Bürger*innen Recherchestrategien besitzen sowie Methoden anwenden können, die ihnen helfen, Informationen politisch zu kontextualisieren und auf deren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Drittens müssen die Lernenden die Fähigkeiten erlernen, einerseits Strukturen medialer Repräsentationen auf den jeweiligen Plattformen zu durchschauen und andererseits auch die Produzenten*innen einer Information und deren Anliegen und (politischen) Interessen zu identifizieren. Schließlich muss die Analyse und Kritik der Apps, Dienstleistungen und Phänomene die politische Dimension ins Zentrum stellen. Dabei geht es um Macht- und Monopolstrukturen von Techintermediären und Medienhäusern, Zugänglichkeit und Transparenz sowie Gerechtigkeit und Fairness. Diese analytischen und kritischen Fähigkeiten bilden die Grundlage, um die Medienöffentlichkeit partizipativ, expressiv und kollaborativ mitzugestalten.

  4. 4.

    Die Politische Bildung für eine digitale Öffentlichkeit ist auf die Befähigung zur Demokratie auszurichten – wie dies für die Politische Bildung allgemein gefordert wird. Dabei spielen einerseits profunde Kenntnisse demokratischer Strukturen und politischer Institutionen eine Rolle. Andererseits ist die Fähigkeit entscheidend, vernünftig politisch zu urteilen und politisch zu handeln. Viele der populären digitalen Plattformen sind derzeit nicht darauf ausgelegt, fundierte Debatten zu ermöglichen. Die den sozialen Medien innewohnenden Logiken der Beschleunigung und Personalisierung stellen das Spektakel ins Zentrum. Ebenfalls liegt der Fokus oftmals auf der schnellen Zustimmung (oder Ablehnung), Gruppenbildung, Selbstdarstellung und Denunziation. Solche Prozesse und die damit verbundenen Spielregeln drohen in Kombination mit Desinformation sowie der Messengerisierung der Öffentlichkeit vernünftiges Handeln und Urteilen zu unterlaufen. Ihre Wirkung gilt es politisch zu reflektieren und zu beurteilen, was die Ausbildung analytischer Fähigkeiten zukünftig noch wichtiger macht. In diesem Zusammenhang dürfte auch die Erfahrung diskursiver Aushandlung bedeutsam sein. Die damit verbundenen Prozesse können das Verständnis für Zwischentöne und die Diversität des Denkens, Wahrnehmens und Fühlens stärken. Diese Erfahrung bildet wiederum die Grundlage, um die Notwendigkeit von Kompromissen und kooperativer Konfliktbewältigung zu erkennen. Insgesamt ist sicherlich mit aller Vehemenz einer zu vereinfachten Sicht auf Welt entgegenzutreten und rationales Denken zu fördern. Mehr noch: Es geht darum, gemeinsames Denken in einem Rahmen zu fördern, in dem die Vernunft zum Tragen kommt und zugleich Autorität und Konformität mit Blick auf das grundsätzlich „Demokratische“ herausgefordert werden können (Pinker 2020).

  5. 5.

    Heranwachsenden Bürger*innen sollen nicht nur die Grundlagen freier Gesellschaften (u. a. Demokratie mit Debatte und Gewaltenteilung, freie Presse, ein auf dem Verhandlungsgrundsatz beruhendes Justizsystem) nähergebracht werden. Sie müssen ebenfalls mit den Normen und Gesetzmässigkeiten der Wissensproduktion vertraut gemacht werden. Neben epistemologischen Aspekten (z. B. wie entsteht eigentlich Wissen in und über unsere(r) Gesellschaft) sind dabei auch die verwendeten Artefakte (z. B. Suchmaschinen oder Onlineenzyklopädien wie Wikipedia) in den Blick zu nehmen. Die Strukturen und Prozesse der Wissensproduktion sowie die Interessen der involvierten Akteur*innen zu beleuchten ist ein zentrales Element davon. Die Politische Bildung für eine digitale Öffentlichkeit verlangt nach einem multiperspektivischen Zugang und endet nicht beim Individuum. Es braucht gesellschaftliche Debatten darüber, wie die digitale Öffentlichkeit von morgen aussehen soll und welche Regeln dort zu gelten haben. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, Dezentralisierung, Offenheit, Konsens, Flexibilität, universelle Zugänglichkeit, Antikommerzialisierung und Antiautoritarismus – die sich als Werte in der Hackerethik wiederfinden (Choi 2016, S. 581) – anzusprechen. Diskussionen darüber können Ausgangspunkt für Politisches Lernen im Kollektiv bilden. Die Politische Bildung steht in der Pflicht, im Sinne emanzipatorischen und kollektiven Lernens solche Diskussionen an so unterschiedlichen Orten wie der Schule, in Vereinen, in der offenen Kinder- und Jugendarbeit und in den Medien selbst anzustoßen.