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1 Einleitung und Problemstellung

Technologische und kulturelle Transformationsprozesse der Informations- und Wissensgesellschaft erodieren zunehmend die Grenzen zwischen digital und analog, online und offline. Floridi (2014) hat für den damit einhergehenden Perspektivwechsel von Handlungsräumen den Begriff Onlife geprägt. Nach Floridi ist ein dualistisches Weltbild mit der konzeptionellen Trennung von online und offline kontraproduktiv. Mit der zunehmenden Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) ist die digitale Welt nicht als eine Ebene parallel neben der analogen Welt zu betrachten, sondern es bedarf eines grundlegend integrierten Verständnisses von technologie- oder informationsangereicherten Umgebungen: „We shall be in serious trouble, if we do not take seriously the fact that we are constructing the new environment that will be inhabited by future generations“ (Floridi 2007, S. 61).

Mittlerweile zeigen sich bereits zahlreiche Entwicklungen, welche die Herausforderungen und Chancen für die Rekonstruktion von Handlungsräumen als Onlife Spaces aufzeigen. Als ein Beispiel aus dem Alltag kann die zunehmende Auflösung der Grenzen zwischen stationärem Handel und Onlinehandel aufgeführt werden. Dies impliziert aber nicht nur, dass Unternehmen gleichzeitig Ladengeschäfte und Onlineshops, Brick and Click Stores, betreiben, sondern dass gänzlich neue Geschäftskonzepte und damit nutzer*innenorientierte Einkaufserlebnisse entstehen. So entfallen beispielsweise bei Supermärkten von Amazon Go die Kassenbereiche und damit lästige Warteschlangen, da Waren durch Sensoren und Kameras erfasst und mit Verlassen des Geschäfts über eine App auf dem Smartphone des Kunden automatisch berechnet werden (vgl. Cheng 2019). Und in Südkorea können die zahlreichen Pendelnden während der Wartezeiten am Bahnsteig über QR-Codes an zweidimensionalen Produktregalen der Supermarktkette Tesco einkaufen und sich die Waren bequem per App zur gewünschten Uhrzeit nach Hause liefern lassen (vgl. Petit de Meurville et al. 2015). Anhand der zwei exemplarischen Beispiele wird deutlich, dass ein integriertes Verständnis von Onlife Spaces zum einen (a) zu Veränderungen von bestehenden physischen Orten führt, wie beim Beispiel Amazon Go, und zum anderen (b) die Aktivierung von neuen physischen Orten evoziert, wie beim Beispiel Tesco.

Im Bereich der Hochschulbildung zeigt sich, dass mit der experimentellen Bezeichnung Learning Onlife (Norberg 2017) der Diskurs weitergeführt wird, um die Dichotomie zwischen orts- und zeitsynchronen Präsenzstudienangeboten sowie medienbasierten und damit ort- und zeitunabhängigen Bildungsangeboten auszuhandeln. Auf der Grundlage des aktuellen Forschungsstands über die Zusammenhänge von Lernen und Raum (vgl. Ninnemann 2018) gilt es in diesem Kontext, Herausforderungen und Chancen von Onlife Learning Spaces auf Basis des konzeptionellen Grundverständnisses hybrider Lernumgebungen an Hochschulen zu identifizieren (vgl. Ninnemann et al. 2020a). Bei der Entwicklung zukunftsfähiger Lernarchitekturen stellt sich die Frage, ob sich mit der zunehmenden Verknüpfung von physischen und virtuellen Lernumgebungen, wie beispielsweise durch Blended-Learning-Konzepte (vgl. Alexander et al. 2019), die räumlichen Grenzen zwischen Präsenzstudiengängen und Distance Education zunehmend auflösen (vgl. Fogolin 2019, S. 10) und damit grundlegende Veränderungen baulicher Infrastrukturen an Hochschulen einhergehen (müssen).

In Anbetracht des immensen Sanierungsstaus an Hochschulgebäuden in Deutschland in Höhe von ca. 35 Mrd. EUR bis zum Jahr 2025 (vgl. Kultusministerkonferenz 2016) sowie der Forderungen nach nachhaltigen Digitalisierungsstrategien von Lehr- und Lernprozessen und dem Fokus auf lebenslangem Lernen an Hochschulen (vgl. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 2019) zeigt sich die Relevanz von empirischen Befunden zur Ableitung von strategischen Handlungsfeldern bei der Gestaltung hybrider Lernumgebungen an Hochschulen. Mit diesem Beitrag werden der aktuelle Forschungsstand bei innovativen Lernraumgestaltungspraktiken an Hochschulen skizziert (Kap. 2), das Erkenntnisinteresse beim Forschungsprojekt „Onlife Learning Spaces – Neukodierung von Lernen und Raum“ offengelegt (Kap. 3), zentrale Erkenntnisse der qualitativen Vorstudie zusammengefasst (Kap. 4) sowie erste Schlussfolgerungen für strategische Handlungsperspektiven diskutiert (Kap. 5).

2 Forschungsstand zu innovativen Lernraumgestaltungspraktiken an Hochschulen

Beim aktuellen Stand der Forschung zur Entwicklung baulicher Lernumgebungen kann kritisiert werden, dass die Forschungsperspektive bisher überwiegend auf der Untersuchung physischer Aspekte des Containerraums, wie zum Beispiel Licht, Luft, Temperatur und Akustik, liegt (vgl. Higgins et al. 2005). Internationale Studien zeigen auf, dass physische Raumaspekte Einfluss auf Lernverhalten und Lernerfolg, wie zum Beispiel Konzentrationsfähigkeit, Wohlbefinden oder Aufnahmefähigkeit, haben, jedoch im Ergebnis bisher keine eindeutigen Kennzahlen zur Wirkung der untersuchten Faktoren auf Lernprozesse benannt werden können (vgl. Woolner et al. 2007; Schneider 2002). Die Forschungsergebnisse demonstrieren aber, dass neben messbaren Umweltfaktoren auch soziale Handlungsaspekte zu berücksichtigen sind (vgl. Higgins et al. 2005).

Forschungsstudien, die sich ganzheitlich mit dem Lernraum Campus beschäftigt haben (vgl. Gothe und Pfadenhauer 2010; Den Heijer 2011; Bachmann et al. 2014; Ninnemann 2018), zeigen die Relevanz eines Richtungswechsels von einer disziplinären Umweltperspektive zu einer transdisziplinären Handlungsperspektive: „So ist das Verständnis von Lernen als einen (sic!) aktiven, eigenverantwortlichen und sozialen Prozess ein wichtiger Ausgangspunkt für Veränderungen von hochschulischen Lernräumen“ (Ninnemann 2018, S. 32). Des Weiteren verstärkt die rasante Entwicklung und Integration von IKT auf dem Campus mit dem Zugang zu Informationen unabhängig von Zeit und Ort die Bedeutung einer integrativen Perspektive:

„Dank mobiler Geräte beschränkt sich das individuelle Lernen nicht mehr auf einen spezifischen, physischen (meist privaten) Raum oder die traditionelle Bibliothek, vielmehr wird mittlerweile zwischen Präsenzveranstaltungen quasi überall auf dem Campus gelernt“ (Bachmann et al. 2014, S. 21).

Ein Forschungsprojekt zu innovativen Gestaltungspraktiken bei der Zusammenführung physischer und virtueller Lernumgebungen an Hochschulen zeigt mit der Kategorisierung von Innovationsniveaus, dass damit grundlegende Veränderungen bei der Verortung von Lehr- und Lernprozessen auf und neben dem Hochschulcampus einhergehen (Ninnemann 2018). Auf der Grundlage empirischer Erkenntnisse können dabei die in der Einleitung beschriebenen Phänomene von Onlife Spaces – mit (a) der Veränderung von bestehenden physischen Orten oder (b) der Aktivierung neuer physischer Orte – bestätigt werden. Mit der Innovationspyramide der Lernraumgestaltung, wie in Abb. 1 gezeigt, wurden auf Basis von Fallstudienanalysen innovativer Hochschulen im internationalen Umfeld insgesamt vier Innovationsebenen definiert, wie in den folgenden Abschnitten dargelegt wird.

Abb. 1
figure 1

(Eigene Darstellung)

Innovationspyramide der Lernraumgestaltung.

2.1 Onlife Learning Spaces (a) – Veränderung von bestehenden physischen Orten

Die ersten drei Innovationsebenen zeigen auf, dass ein integriertes Verständnis von hybriden Lernumgebungen nicht auf einen dreidimensionalen Containerraum, wie Vorlesungs- und Seminarräume mit integrierter Medientechnik, beschränkt werden kann. Vielmehr umfasst die Definition von Onlife Learning Spaces Veränderungen des gesamten physischen Lernraums Hochschule mit der Differenzierung, Verknüpfung und Zusammenführung von informellen und formellen Lernräumen auf dem Campus (vgl. Ninnemann 2018; Ninnemann und Jahnke 2018).

Auf der ersten Ebene der Pyramide wird der immense Bedarf an informellen Lernräumen mit studentischen Lernarbeitsplätzen für Einzel- und Gruppenarbeiten – neben dem Angebot formeller Lernumgebungen – dargestellt. Dies zeigt sich beispielsweise exemplarisch an der weltweiten Transformation der Hochschulbibliotheken von Informationszentren zu Lernzentren, was mit dem Prototyp eines Learning Centers an der Glasgow Caledonian University 2006 initialisiert wurde. Mit der zweiten Innovationsebene wird dargelegt, dass bei einem orts- und zeitunabhängigen Zugang zu Informationen ein zentraler Hotspot informeller Lernumgebungen auf dem Campus jedoch nicht ausreichend ist. Der 2013 fertiggestellte Campus der Wirtschaftsuniversität Wien zeigt, dass Zwischenräume, wie Flure, Nischen und Eingangsbereiche, genutzt sowie Projekträume als Break-Out-Spaces und Studierendenlounges als informelle Lernorte eingerichtet werden, die im direkten Umfeld von formellen Lernräumen liegen. Mit der Strategie zur Dezentralisierung werden informelle und formelle Lernraumangebote durch die räumliche Nähe miteinander verknüpft und dabei Impulse für die Neugestaltung von formellen Lernräumen gegeben, wie die dritte Innovationsebene veranschaulicht.

Bei der Umsetzung von neuen Konzepten für formelle Lernumgebungen, wie Active Learning Classrooms und Flexible Learning Environments bei den Fallstudien Umeå University und SRH Hochschule Heidelberg 2015, wird die Grenze von formellen und informellen Lernumgebungen aufgehoben. Diese Veränderungen unterstützen mit vielfältigen räumlichen Optionen differenzierte und technologieintegrierende Lernszenarien sowie unterschiedlichste soziale Interaktionen. Aufbauend auf dem damit einhergehenden Bewusstsein von Lernen als einem aktiven Prozess der Wissenskonstruktion, mit Lehrenden als Lernbegleiter*innen und Lernenden als aktiven Wissensproduzent*innen, konnte aber noch eine weitere Innovationsebene bei den vergleichenden Fallstudienanalysen identifiziert werden.

2.2 Onlife Learning Spaces (b) – Aktivierung von neuen physischen Orten

Die vierte Ebene der Innovationspyramide zeigt auf, dass ein integriertes Verständnis von hybriden Lernumgebungen nicht nur Veränderungen des Lernraums Campus umfasst, sondern die Definition von Onlife Learning Spaces auf einem hohen Innovationsniveau auch die Aktivierung des Lebensraums als Lernraum inkludiert (vgl. Ninnemann 2018; Ninnemann und Jahnke 2018).

Die Formulierung Lebensraum als Lernraum setzt sich dabei bewusst vom bereits vielfach diskutierten Lernraum Campus als Lebensraum ab. Die Fallstudie Minerva Schools at KGI (vgl. auch Hasso Plattner Institute of Design at Stanford 2019) nimmt hierbei beispielsweise eine gänzlich neue Position bei der Gestaltung hybrider Lernumgebungen ein, welche die Lernenden und ihr Umfeld und nicht die Bildungsinstitution samt ihren räumlichen Anforderungen in den Mittelpunkt stellt. So verfügt Minerva über keine baulichen Campusanlagen mit Seminar- und Vorlesungsräumen sowie ergänzenden Infrastrukturen. Die Studierenden bei Minerva leben und lernen gemeinsam an verschiedenen Orten weltweit während ihres Studiums, da die Curricula in lokal organisierte Projekte, Organisationen und Aktionen eingebunden sind und damit der Lebensraum als Active Learning Environment genutzt wird. Über das eigens entwickelte Onlineforum, welches aktives Lehren und Lernen forciert, wird der Austausch zwischen den Studierenden wie auch mit den Lernbegleiter*innen unterstützt. Mit der gezielten Integration von IKT können neue, aber im Lebensraum bereits sozial akzeptierte und legitimierte Räume des Alltags, wie Studierendenwohnungen, Coworking Spaces und Cafés, aber auch Unternehmen sowie öffentliche Einrichtungen, Organisationen und urbane Plätze, von Hochschulen gezielt ausgewählt oder von den Studierenden angeeignet werden. Durch diese Entwicklung erhält die Hochschule eine neue Rolle in der Gesellschaft, indem Studierende und Lehrende Teil der städtischen Gemeinschaft sind. Dabei bieten sich neuartige Freiräume für Lehr- und Lernprozesse sowie Chancen zur Kollaboration von Gesellschaft und Wissenschaft über die Aktivierung von öffentlichen, halböffentlichen sowie privaten Räumen als Teil von orts- und zeitunabhängigen sowie organisationsübergreifenden Lernraumangeboten.

Zusammenfassend legen die vier Innovationsebenen dar, dass bei der (Neu-) Gestaltung des Lernraums Hochschule als hybride Lernumgebungen Untersuchungen zu veränderten Nutzer*innenanforderungen an bestehende physische Orte sowie Auswahlkriterien bei der Aneignung von neuen Orten durch die Hochschule und Nutzer*innen erforderlich sind, um räumliche Implikationen aufgrund technologischer Transformationsprozesse diskutieren zu können. So ist die Gestaltung und Aktivierung von spezifischen Orten für Lehr- und Lernprozesse letztlich immer das Produkt sozialer Aushandlungsprozesse und Routinen von Akteur*innen und Akteur*innengruppen. Technologische Entwicklungen und damit räumliche Veränderungen gehen mit der Notwendigkeit der Offenlegung dieser Prozesse, unter anderem mit der Analyse organisationaler Strukturen an Hochschulen, einher (vgl. Ninnemann und Jahnke 2018). Vor diesem Hintergrund wird mit dem Forschungsfeld Corporate Learning Architecture (vgl. Ninnemann 2019; 2020) der Terminus Lernraumorganisation eingeführt, welcher die Relevanz und Notwendigkeit der Verknüpfung von Lernen, Raum und Organisation zusammenzufasst (vgl. Ninnemann 2018; Ninnemann et al. 2019, 2020b). Neue Erkenntnisse dazu werden im folgenden Forschungsprojekt dargelegt.

3 Forschungsprojekt Onlife Learning Spaces – Neukodierung von Lernen und Raum

Zahlreiche Studien zu Lernumgebungen an Hochschulen haben sich in den letzten Jahren mit den sich verändernden Nutzungsanforderungen an formelle und informelle Lernräume auf dem Campus bei der Integration von IKT beschäftigt (vgl. Ninnemann 2018). Es kann dabei jedoch konstatiert werden, dass ein Forschungsdesiderat zur Lernraumorganisation auf einem hohen Innovationsniveau – mit (b) der Aktivierung neuer physischer Orte als Lernumgebungen – vorliegt. Die Entwicklung von „Next-Generation Digital Learning Environments“ (vgl. Brown et al. 2020) wie auch die aktuellen Herausforderungen digitaler Hochschullehre im Zuge der COVID-19-Pandemie (vgl. Hochschulforum Digitalisierung 2020) erfordern dringend empirische Erkenntnisse, um fundierte Entscheidungsprozesse bei Investitionsschwerpunkten im Kontext hybrider Lernumgebungen einleiten zu können.

Mit dem Forschungsprojekt „Onlife Learning Spaces – Neukodierung von Lernen und Raum“ werden mit Unterstützung der SRH Förderstiftung von 2019 bis 2020 Szenarien von Onlife Learning Space auf einem hohen Innovationsniveau untersucht. Dabei werden aus der Perspektive von Fernstudierenden etablierte Gestaltungspraktiken hybrider Lernumgebungen aufgenommen und analysiert. Außerhalb der Hochschulorganisation und der damit einhergehenden räumlichen Möglichkeiten und sozialen Erwartungen entwickeln Fernstudierende ganz eigene Konzepte zur Aktivierung von physischen Orten als Lernumgebungen. Mit dieser Vorgehensweise können – unabhängig von institutionellen Bedingungen und Einflüssen – grundlegende Bedürfnisse von Onlife Students, Studierenden in zeit- und ortsunabhängigen Studiengängen, identifiziert werden. Mit dem Forschungsprojekt werden Präferenzen und Entscheidungskriterien von Fernstudierenden bei der Auswahl und Aneignung physischer Lernumgebungen aufgedeckt und strategische Handlungsperspektiven zur Entwicklung hybrider Lernumgebungen an Hochschulen abgeleitet.

Da bislang keine Studien über räumliche Bedürfnisse und Anforderungen von Studierenden bei Fernstudienprogrammen vorliegen, erfolgte 2019 explorativ eine zweistufige qualitative Vorstudie. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse dienten der Entwicklung eines Fragebogens für die quantitative Hauptuntersuchung, welche von Januar bis März 2020 erfolgte. Aufgrund der derzeit noch laufenden Auswertung der Befragung konzentriert sich dieser Beitrag auf die in der Vorstudie identifizierten zentralen Erkenntnisse.

Im ersten Schritt der Vorstudie wurden von Januar bis Juni 2019 fünf Studierende mit Abschlüssen in Fernstudiengängen, Bachelor (N = 1) und Master (N = 5), an drei Hochschulen mit Fernstudienangeboten, Fernuniversität Hagen (N = 2), Technische Universität Kaiserslautern (N = 2) sowie IUBH Internationale Hochschule (N = 1), befragt; eine befragte Person in dieser Gruppe hat neben dem Bachelor- auch den Masterabschluss im Fernstudium erlangt. Mit dem Einsatz von Leitfadeninterviews (vgl. Aufenanger 2011) konnten dabei erste Erkenntnisse zur Auswahl und Nutzung differenzierter Lernorte gewonnen werden. Im Rahmen der Gastprofessur Corporate Learning Architecture an der Technischen Universität Berlin wurden diese Erkenntnisse bei einer darauf aufbauenden Befragung geprüft und vertiefend untersucht. Im August 2019 wurden dazu 18 Masterstudierende der ersten Kohorte der Fernstudiengänge Wissenschaftsmanagement und Wissenschaftsmarketing, welche im Wintersemester 2018/19 erstmals an der Technischen Universität Berlin gestartet sind, befragt. Das Verhältnis von 1:23 der in der Vorstudie befragten Bachelor- und Masterstudierenden beruht auf dem 2019 vorliegendem Zugang zu potenziellen Teilnehmenden. In der Hauptuntersuchung sind die Studierendengruppen in einem ausgewogeneren Verhältnis von 1:0,7 sowie mit einem höherem Stichprobenumfang (N = 333) vertreten, sodass die im Rahmen der Vorstudie abgeleiteten Hypothesen überprüft werden können.

Mit dem methodischen Einsatz von Mental Maps (vgl. Gieseking 2013) konnten Daten zu Lernaktivitäten und subjektiven Raumwahrnehmungen aufgenommen werden, um Handlungsräume von Fernstudierenden näher beschreiben zu können. Abb. 2 zeigt exemplarisch eine Mental Map und einen Auszug der erklärenden Beschreibungen. Anhand der Zeichnungen von individuellen Landkarten mit der freien Darstellung von Orten, die im Rahmen des Fernstudiums für Lernaktivitäten aufgesucht werden, sowie der ergänzenden Beschreibung der Lernaktivitäten an den dargestellten Orten konnten im Hinblick auf die erkenntnisleitenden Fragestellungen erste Erkenntnisse über Handlungspraktiken von Onlife Students gewonnen werden, wie in den folgenden Abschnitten dargelegt wird.

Abb. 2
figure 2

(Eigene Darstellung)

Beispiel Mental Map mit Auszug Nutzer*innenbeschreibung.

4 Zentrale Erkenntnisse der qualitativen Vorstudie

Auf Grundlage der bei der qualitativen Vorstudie aufgenommenen Daten wurden zwei Aspekte, Routen und Routinen, als relevante Entscheidungskriterien bei der Auswahl und Aneignung von Lernorten durch Fernstudierende identifiziert. Dabei wird deutlich, dass – wie auch bei Onlife Learning Spaces auf einem niedrigeren Innovationsniveau – der Aspekt der Lernraumorganisation als ein relevanter Faktor bei der Aktivierung von neuen physischen Orten zu berücksichtigen ist. Im Unterschied zu Onlife Learning Spaces (a) auf einem niedrigeren Innovationsniveau sind dabei jedoch keine institutionellen Organisationsstrukturen und -prozesse von Bedeutung, sondern die Organisation von Lernumgebungen aufgrund persönlicher Lebensumstände und individueller Verhaltensweisen. So sind zum einen Bedingungen von Alltagshandlungen und zum anderen die Differenzierung von Lernhandlungen zu berücksichtigen.

4.1 Relevanz von Routen bei Onlife Learning Spaces (b)

Das Kriterium Routen fasst ein zentrales Beobachtungsergebnis zusammen, nach welchem sich die Auswahl und Aneignung von Lernorten als Ergebnis von Alltagshandlungen erklärt.

Von den befragten Fernstudierenden wird das Zuhause hinsichtlich der Aspekte Häufigkeit und Regelmäßigkeit als wichtigster Lernort genannt, um „das Notwendige mit dem Angenehmen [zu] verbinden“ (FS1; Interviewpartner*in 29.01.2019). Hier zeigen sich Übereinstimmungen mit Studierenden an Präsenzhochschulen, die auch das Zuhause als Lernort beim Selbststudium bevorzugen (vgl. Vogel et al. 2019). So bieten sich hier nach den Aussagen der Fernstudierenden differenziertere Nutzungsmöglichkeiten und Aufenthaltsqualitäten sowie die Möglichkeit der Verknüpfung von Tätigkeiten im Alltag mit der Lernumgebung. Als zweiter wichtiger Lernort wird der Arbeitsplatz in der Firma benannt. Hier können inhaltliche Themen- und Fragestellungen des Studiums mit der Arbeitstätigkeit verknüpft werden, was insbesondere die Motivation und Effizienz von Lernhandlungen unterstützen kann. Darüber hinaus wird am Arbeitsplatz der Austausch mit Kolleg*innen über Studienaspekte, wie beispielsweise Lern- und Prüfungsthemen, genutzt. Des Weiteren wird von Fernstudierenden der Arbeitsplatz auch vor dem Hintergrund der Nutzung von professionellen Infrastrukturen, wie zum Beispiel große und mehrere Monitore sowie Druckmöglichkeiten, und auch als Rückzugsmöglichkeit in Anspruch genommen: „Ich habe meiner Familie versprochen, dass sie vom Studium nichts mitbekommen“ (FS4; Interviewpartner*in 15.03.2019). Von den interviewten Fernstudienabsolvent*innen wurde auch die Notwendigkeit zur Verknüpfung von Lernhandlungen mit Erholungs- und Alltagsaktivitäten, wie zum Beispiel Urlaubsreisen, Spazierengehen oder Fahrten zur Arbeit, dargelegt: „Das Studium ist immer dabei“ (FS2; Interviewpartner*in 29.01.2019).

Anhand der Befragung von Fernstudierenden der TU Berlin konnten vertiefende Erkenntnisse zum Themenbereich Routen insbesondere bei der Nutzung des Arbeitsplatzes als Lernort gewonnen werden. In Bezug auf die Verortung des Arbeitsplatzes zeigt sich, dass der Arbeitsplatz überwiegend als Lernort für Ortsansässige und Wochenendpendelnde, aber kaum als Lernort für Tagespendelnde angeeignet wird; diese nutzen häufiger öffentliche Verkehrsmittel als Lernumgebung. Auffallend war bei der Auswertung der Mental Maps, dass Mitarbeiter der TU Berlin – anders als bei den Fernstudierenden mit einem anderen Arbeitgeber – der Arbeitsplatz häufiger als Lernort genutzt wird. So werden im Rahmen der quantitativen Hauptuntersuchung Daten zu Unterstützungsleistungen von Arbeitgebern aufgenommen und mit Entscheidungskriterien zur Verortung von Lernhandlungen bei Fernstudierenden zusammengeführt.

In der Zusammenschau zur Verortung von Lernaktivitäten bei Fernstudierenden zeigte sich in der Vorstudie deutlich die Relevanz der Anknüpfung von Lernhandlungen an Orte des Alltags, um die Mehrfachbelastung durch Familie, Arbeit und Studium bewältigen zu können. Dabei lässt sich auch erkennen, dass neben der Lernraumgestaltung, mit der räumlichen Gestaltung und Inszenierung von Orten im Zuhause, insbesondere die Lernraumorganisation, mit der Aktivierung differenzierter Orte für Lernaktivitäten entlang der täglichen Routen, als relevantes Bedürfnis von Onlife Students zu integrieren ist. Mit der Vorstudie wurde dabei eine neue Lernumgebung, der Arbeitsplatz berufstätiger Studierender, identifiziert, welcher bisher nicht als ein relevanter Ort während des Studiums berücksichtigt ist.

4.2 Relevanz von Routinen bei Onlife Learning Spaces (b)

Mit dem Kriterium Routinen kann als ein weiteres zentrales Beobachtungsergebnis zusammengefasst werden, dass die Auswahl und Aneignung von Orten als Ergebnis von Lernhandlungen resultiert.

So differenzieren die Fernstudienabsolvent*innen zwischen der Phase des Einarbeitens, mit kleinteiligen Lernhandlungen wie Recherchearbeiten und Leseeinheiten, und der Phase des Ausarbeitens, mit komplexeren Lernaktivitäten wie dem Schreiben von Hausarbeiten und Prüfungsvorbereitungen. In der Einarbeitungsphase werden mobile Medien, wie Laptop, Notepad, virtuelle Cloud sowie Studienbriefe, an unterschiedlichsten Orten des Zuhauses, wie Sofa, Balkon und Küche, oder unterwegs zur Arbeit und in Erholungsphasen genutzt. Bei dem Wechsel zur Ausarbeitungsphase und damit der erklärten Verlagerung vom „passiven Lernenden“ (FS4; Interviewpartner*in 15.03.2019) zum „aktiven Lernenden“ (ebenda) ist die Nutzung von leistungsstarken Datenverarbeitungsgeräten, wie Desktop-Computern mit großen oder mehreren Monitoren, an Orten mit Platz für Notizen, Unterlagen und Büchern, wie am privaten Schreibtisch oder am Arbeitsplatz des Arbeitgebers, relevant. Auf Grundlage der Beschreibungen zu Lernhandlungen zeigt sich die Relevanz der Differenzierung von Lernorten aufgrund verschiedener Lernhandlungen entsprechend den Tätigkeiten im Studienverlauf.

Anhand der Befragung der Fernstudierenden an der TU Berlin konnten jedoch auch noch andere Aspekte bei der Verortung von Lernhandlungen identifiziert werden, welche die Bedeutung von Routinen stärken. So zeigt sich hier, dass in Vollzeit arbeitende Studierende in höherem Maße unterschiedliche Lernorte nutzen und damit andere Routinen aufweisen als Fernstudierende mit einer Teilzeittätigkeit. Noch stärker stellt sich diese Ausdifferenzierung der Nutzung unterschiedlicher Lernorte bei der Unterscheidung von weiblichen und männlichen Fernstudierenden mit Teilzeittätigkeiten in der untersuchten Kohorte dar, welches die Bedeutung familiärer Bedingungen und damit etablierter Routinen bei der Verortung von Lernhandlungen impliziert. Während Studenten sich hauptsächlich das Zuhause als Lernort aneignen, nutzen Studentinnen darüber hinaus häufiger den Arbeitsplatz und auch öffentliche Verkehrsmittel, Bibliotheken oder Coworking Spaces. Obgleich die Analyse unterschiedlicher Altersgruppen keine Hinweise auf Unterschiede in der Auswahl und Aneignung von Lernorten zeigt, gibt die Vorstudie des Weiteren einen Hinweis auf die Bedeutung von Bildungsbiografien und damit einhergehenden Routinen von Lernhandlungen. So nutzen Fernstudierende mit einem höheren Bildungsgrad, wie bereits vorliegender Masterabschluss oder Promotion, ungewöhnlichere Lernorte, wie zum Beispiel Cafés, Parkanalagen, Coworking Spaces oder das Hausboot, als die Studierenden mit einem Bachelorabschluss.

In der Zusammenschau zur Verortung von Lernhandlungen über Routinen bestätigt sich bei der Vorstudie deutlich die Relevanz der Lernraumorganisation. Handlungsroutinen von Onlife Students werden einerseits durch externe Faktoren wie Tätigkeiten im Studium und andererseits durch persönliche Bedingungen wie Beschäftigungsumfang neben dem Studium, familiäre Verpflichtungen und individuelle Bildungsbiographien ausgebildet. Des Weiteren manifestiert sich über den Aspekt der Routinen der Arbeitsplatz von berufstätigen Studierenden als ein relevanter Ort für Lernprozesse im Studium und damit als ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil hybrider Lernumgebungen von Onlife Students.

5 Zusammenfassung und Diskussion von strategischen Handlungsperspektiven

Bei der Digitalisierung von Lehr- und Lernprozessen an Hochschulen diffundieren zunehmend die räumlichen Grenzen von Präsenzstudienangeboten und Distance-Learning-Programmen. Wie beim Forschungsstand zu innovativen Lernraumgestaltungspraktiken und bei den aktuellen Erkenntnissen im Forschungsprojekt „Onlife Learning Spaces – Neukodierung von Lernen und Raum“ dargelegt, werden mit dem Konzept der Onlife Learning Spaces (a) bestehende Raumstrukturen an Hochschulen grundlegend verändert sowie (b) neue Lernumgebungen außerhalb von Hochschulen aktiviert.

Mit dem Beitrag wird deutlich, dass bei der Entwicklung hybrider Lernumgebungen ein ganzheitliches Verständnis des Lernraums Hochschule notwendig ist, welches weit über Fragen zur (Neu-)Gestaltung von physischen und virtuellen Lernräumen auf dem Campus hinausgeht. Vielmehr zeigt sich die Notwendigkeit einer Konzeption von querliegenden Lernarchitekturen und damit der Entwicklung von zeit- und ortsunabhängigen sowie organisationsübergreifenden Lernraumangeboten. Anhand der Erkenntnisse im Forschungsprojekt über Anforderungen von Fernstudierenden bei der Auswahl und Aneignung von Orten für Lernprozesse wird dargelegt, dass mit zeit- und ortsunabhängigen Studienprogrammen keine Beliebigkeit beim Zeitpunkt und der Verortung von Lernprozessen – Lernen irgendwann und irgendwo – einhergeht. Im Gegenteil zeigt sich, dass Onlife Students im Rahmen von Alltagshandlungen und Lernhandlungen ganz gezielt spezifische Orte organisieren.

Dabei kann konstatiert werden, dass physische Orte für Lernprozesse entlang von Routen – als Ergebnis von Alltagshandlungen – und Routinen – als Ergebnis von Lernhandlungen – aktivieren. Im Kontext von Routen haben die Ergebnisse der Vorstudie im Forschungsprojekt gezeigt, dass die Atmosphäre und Gestaltung von Orten kein vorrangiges Argument für die Aneignung und Nutzung sind. Erst wenn Orte an Wegstrecken im Alltag der Studierenden angebunden sind, erfahren diese eine Aktivierung als Lernumgebung. Der Aspekt der Routinen zeigt weiter auf, dass Lernhandlungen über externe Faktoren wie Tätigkeiten im Studium sowie über persönliche Bedingungen wie Beschäftigungsumfang neben dem Studium, familiäre Verpflichtungen und individuelle Bildungsbiografien geprägt und dementsprechend an dazu passende Orte angebunden werden.

Die Erkenntnisse im Forschungsprojekt implizieren einen grundlegenden Perspektivwechsel der Lernraumgestaltung mit der Priorisierung des Erkenntnisinteresses zur Lernraumorganisation bei der Entwicklung hybrider Lernumgebungen. In diesem Zusammenhang manifestiert sich die konzeptionelle Integration von Arbeitsumgebungen in Unternehmen als ein strategisches Handlungsfeld. So stellt der Arbeitsplatz nicht nur gut ausgebaute technische und räumliche Infrastrukturen bereit, sondern bietet Onlife Students einen Ort zum fachlichen Austausch mit Kolleg*innen sowie die Möglichkeit, Themenstellungen aus dem Studium mit der Praxis zu verknüpfen. Mit der quantitativen Hauptuntersuchung im Forschungsprojekt werden im Rahmen von Workspace-Management-Konzepten spezifische Nutzer*innenanforderungen und Bedürfnisse von Onlife Students bei der Aktivierung von Arbeitsumgebungen als Lernräume vertiefend untersucht und analysiert.

Um Digitalisierung in Studium und Lehre gemeinsam gestalten zu können, bedarf es eines erweiterten Aktionsradius und Kreises Beteiligter für innovative und nachhaltige Konzepte infrastruktureller Investitionsschwerpunkte im tertiären Bildungsbereich. Diese sind auf die transdisziplinäre Verknüpfung empirischer Erkenntnisse in den Bereichen Lernraumorganisation und Workspace-Management aufzubauen. Mit zeit- und ortsunabhängigen sowie organisationsübergreifenden Lernraumangeboten kann dabei nicht nur die Entwicklung von Handlungskompetenzen bei Studierenden unterstützt werden. Über die Erweiterung von Kooperationen – und damit der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Wirtschaft in Forschung und Lehre können auch Hochschulen und Unternehmen als lernende Organisation bei der Entwicklung hybrider Lernumgebungen gewinnen. So kann zum einen die zunehmend zentrale Rolle von Hochschulen bei der Orchestrierung von „multi actor innovation networks“ (Reichert 2019, S. 22) gestärkt werden. Und zum anderen können Unternehmen als Teil eines innovativen Ökosystems erforderliche Re- und Up-Skilling-Maßnahmen des lebenslangen Lernens aktiv mitgestalten sowie eigene unternehmensinterne Prozesse und Strukturen des Lern- und Wissensmanagements im digitalen Zeitalter katalysieren.