Schlüsselwörter

1 Einleitung

Dass sich inzwischen in über 30 Staaten Studierende der VWL organisiert haben, um eine umfassende Erweiterung der Inhalte und Methoden ihres Studiums zu bewirken, ist eine für den Hochschulbetrieb historisch beispiellose Situation (Raworth 2017, S. 1 ff.). Im Schulterschluss mit einigen Lehrenden fordern die protestierenden Studierenden, die neoklassische Engführung der Disziplin zugunsten einer pluralen Ökonomik zu überwinden, die ihnen einen breiten sozialwissenschaftlichen Horizont auf die Wirtschaft und die VWL eröffnet (z. B. Petersen et al. 2019). Die „studentische Intervention für plurale Ökonomik“ (Dürmeier 2006, S. 13) geht 2020 ins dritte Jahrzehnt. Ihren Anfang nahmen die studentischen Proteste im Juni 2000 in Frankreich, als Studierende der Universität Paris-Sorbonne eine Petition gegen die ideologische Einseitigkeit und Realitätsferne der VWL auf den Weg brachten, die schließlich auch in der französischen Tageszeitung Le Monde abgedruckt wurde (ebd., S. 14). Im Kern geht es den protestierenden Studierenden damals wie heute darum, dass ihr Studium sie dazu befähigt, „Wirtschaft neu zu denken“ (Petersen et al. 2019, S. XXVI) und damit auch neu zu lehren – der vorliegende Sammelband und weitere einschlägige Publikationen im Sinne einer pluralen Ökonomik (u. v. a. van Treeck und Urban 2016) stehen ebenfalls unter diesem programmatischen Leitmotiv. Die studentische Forderung, Wirtschaft neu zu denken, verweist auf eine grundlegende Verpflichtung akademischer Lehre und Forschung: es geht hier um nichts Geringeres, als um die Verwirklichung der Freiheit und Offenheit von Wissenschaft(en) bzw. darum, den Studierenden ihre akademische Selbstbestimmung zu eröffnen.

Die folgenden Überlegungen über das Selbstverständnis und die Prinzipien einer bildungswirksamen Hochschullehre gründen auf der Annahme, dass ebenso das Fundament wie die Perspektiven eines freien wissenschaftlichen Denkens in individuellen Bildungsprozessen begründet liegen. Erinnert wird an die unter dem Eindruck der Aufklärung entwickelte Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts, die der preußische Bildungsreformer auch mit einem am Bildungsinteresse der Studierenden orientierten Universitätskonzept verknüpft hat. Die Bildungstheorie respektive die Universitätsidee Humboldts wird als wegweisend angesehen, um das Selbstverständnis einer adressatinnen- und adressatenorientierten Hochschullehre zu umreißen und die Gestaltung der Lehre im Interesse der Studierenden als konstituierendes Prinzip einer bildungswirksamen Hochschullehre zu konkretisieren. Ergänzt wird die Maxime der Adressatinnen- und Adressatenorientierung um weitere Prinzipien der Gestaltung von Lehre, die speziell für sozialwissenschaftliche respektive sozioökonomische Studiengänge bedeutsam sind. Dabei wird sozioökonomische Hochschulbildung als eine grundlegende Alternative zu der in der Gegenwart vorherrschenden neoklassischen Hochschulausbildung sichtbar – statt von den Studierenden die reaktive Reproduktion neoklassischer Dogmen zu fordern, fördert sie ein freies akademisches Denken über Wirtschaft und deren gesellschaftliche Zusammenhänge, das die Fähigkeit zur Wissenschaftskritik einschließt und auch den politischen Charakter von Wirtschaft und den mit ihr befassten Sozialwissenschaften nachvollzieht.

2 Bildung ≠ Schulung

Zur Legitimation der These, dass Hochschulbildung der Schlüssel dafür ist, dass Studierende ein reflexives und selbstbestimmtes wissenschaftliches Denken entwickeln, bedarf es zunächst einer grundlegenden Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff. Dessen Unschärfe im alltäglichen Sprachgebrauch ist offensichtlich. So werden alle in irgendeiner Weise mit der Wissensvermittlung und/oder Erziehung befassten Institutionen als „Bildungseinrichtungen“ bezeichnet (es ist z. B. von „frühkindlicher Bildung“, „Schulbildung“, „Hochschulbildung“ und „Erwachsenenbildung“ die Rede); die an „Bildungsinstitutionen“ genutzten Materialien firmieren unabhängig von ihrer Qualität pauschal unter der Bezeichnung „Bildungsmaterialien“ und Studien zur Messung und zum Vergleich von abfragbarem Wissen und operationalisierten Kompetenzen gelten als „Bildungsstudien“, aus denen wiederum konkrete Forderungen an die „Bildungspolitik“ abgeleitet werden. In den Erziehungs- und Sozialwissenschaften herrscht insoweit Einigkeit über das Verständnis dieses für sie zentralen Terminus, als dass er einen aktiven und selbstreflexiven Entwicklungsprozess des Individuums „zu sich selbst und zur Welt (und der ihrer Mitmenschen)“ umschreibt (Stojanov 2006, S. 19 f.). Der Pädagoge Krassimir Stojanov konstatiert vor diesem Hintergrund, dass „‚Bildung‘ […] sicherlich den Vorgang der Formung des einzelnen Individuums als ein autonomes Wesen [meint]” und ergänzt, „dass es sich hierbei nicht nur um einen Vorgang der Entwicklung individueller Autonomie, sondern auch um einen autonomen Vorgang handelt, der sich durch seine Eigen-Logik auszeichnet und sich von außen nicht vorbestimmen sowie nur begrenzt steuern lässt (ebd., Herv. i. O.).

Sofern dieser sozial- und erziehungswissenschaftliche Konsens über den Kern des Bildungsbegriffs anerkannt wird, müssen die dem Bildungswesen anvertrauten Kinder und Jugendliche sowie die sich ihm anvertrauenden Erwachsenen die Freiräume zur Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer sozialen und natürlichen Lebenswelt eröffnet werden, derer sie bedürfen, um sich einen entsprechend reflexiven und selbstbestimmten Entwicklungsprozess ihrer Persönlichkeit zu erschließen. Mit diesem auf die Entwicklung von Autonomie fokussierten Bildungsauftrag von Bildungseinrichtungen unvereinbar sind Erziehungs- und Lehrformen, die dem lernenden Subjekt Perspektiven auf sich und seine Umwelt vorenthalten oder es gar (jenseits einer grundlegenden Demokratie- und Menschenrechtserziehung) im Sinne erwünschter Denk- und Urteilsmuster überwältigen. In einer entsprechenden Überwältigung liegt ein Charakteristikum derjenigen wirtschaftsdidaktischen Ansätze für Schulen und Hochschulen, die sich erklärtermaßen auf die Vermittlung „ökonomischer Perspektivität“ beschränken und diese unmittelbar und exklusiv aus dem neoklassischen Paradigma ableiten. Damit, dass eine entsprechend marktfundamentalistische ökonomische Erziehung ihr Geschäft als „ökonomische Bildung“ etikettiert, wird der auf die Selbstbestimmungsfähigkeit des Subjekts bezogene Bildungsbegriff ad absurdum geführt. Studierende der Wirtschaftswissenschaften hingegen, die dagegen protestieren, einseitig und reaktiv in einem neoklassischen Denken geschult zu werden und für eine Plurale Ökonomik (bzw. real-world economics) in Lehre und Forschung eintreten, fordern unmittelbar, dass ihnen Bildung im Sinne der Befähigung zu einem eigenständigen, neuen Denken ermöglicht wird. Eine entsprechende Differenzierung zwischen Erscheinungsformen funktionalistischer Schulungen (z. B. in der neoklassischen Lehre) und einer an der Autonomie des Subjekts interessierten ganzheitlichen Bildung ist geboten, sofern der Bildungsbegriff nicht weiterhin der Beliebigkeit preisgegeben sein soll.

Als richtungsweisend für eine Rückbesinnung auf die subjektorientierte und deshalb ganzheitliche Bildung betrachte ich das Bildungsideal Wilhelm von Humboldts, das unmittelbar das Menschenbild der Aufklärung widerspiegelt (z. B. Nipperdey 2013 [1983], S. 57–65). Legt man die Regelmäßigkeit zugrunde, mit der in bildungspolitischen Diskursen auf das humboldtsche Bildungsideal verwiesen wird, müsste das Schul- und Hochschulwesen in Deutschland ganz im Sinne des preußischen Bildungsreformers organisiert sein. Stattdessen herrscht selbst an öffentlichen Schulen, die laut den Landesverfassungen und Schulgesetzen der Bundesländer der Allgemeinbildung dienen, ein übersteigerter Disziplinismus vor, der Humboldts Ansatz einer ganzheitlichen Menschenbildung erdrückt. Zu Recht spricht Lauer (2017, S. 237) von einer „inhaltsleer gewordenen Bezugnahme auf Humboldt“ in den bildungspolitischen Debatten. Diese ernüchternde Bilanz gilt unvermindert auch für das, was gegenwärtig gemeinhin unter Hochschulbildung verstanden wird: „Humboldt ist ein Topos in den Debatten um Aufgabe und Zukunft von Bildung und Universität, nicht viel mehr“ (ebd., S. 236). Das Verständnis des Humboldtschen Bildungsideals, so scheint es, offenbart unmittelbar die Polyvalenz des Bildungsbegriffes.

Im Kern fordert der preußische Bildungsreformer eine Fokussierung auf das lernende Subjekt und dessen individuelles Bildungsinteresse: „Im Mittelpunkt […] nämlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgendetwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Wert und Dauer verschaffen will“ (ebd., S. 6). Bildung ist für Humboldt Ausdruck und Voraussetzung menschlicher Würde. Das sowohl in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR, Art. 26)Footnote 1 als auch im UN-Sozialpakt (Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR), Art. 13)Footnote 2 aufgenommene Recht auf Bildung ist bereits in Humboldts Bildungstheorie als elementares Menschenrecht angelegt. So identifiziert er Bildung als „letzte Aufgabe unseres Daseins: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person […] einen so großen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (ebd., S. 7) und konstatiert, dass es „[d]ie Würde des Menschen ist […], die er [der Mensch] aufzusuchen […] hat“ (Humboldt 2017c [1797], S. 62). Diese grundlegende Relevanz von Bildung für die menschliche Würde hebt auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel hervor, der den antiken Philosophen Aristippos von Kyrene sprechen lässt: „[D]er Mensch ist, was er ist, wie er als Mensch sein soll, erst durch Bildung“ (Hegel 1986 [1812], S. 543). Notwendige Voraussetzungen für Bildung sind laut Humboldt Ganzheitlichkeit, Freiheit und Soziabilität. Denn die Verwirklichung der menschlichen Würde respektive die Inanspruchnahme des eigenen Verstandes durch Bildung gelingt laut Humboldt „allein durch die Verknüpfung unseres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Dies allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zu Beurteilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis“ (Humboldt 2017a [1793], S. 7; ebenso Humboldt 2017c [1797], S. 71). Dabei stellt er heraus, „dass, wenn man einmal das wahre Streben des menschlichen Geistes […] aufsucht, man unmöglich bei etwas Geringerem stehen bleiben kann“ (ebd.) und bilanziert: „Was also der Mensch notwendig braucht, ist […] ein Gegenstand, der die Wechselwirkung seiner Empfänglichkeit mit seiner Selbsttätigkeit möglich mache. Allein wenn dieser Gegenstand genügen soll […][,] so muss er der Gegenstand schlechthin, die Welt sein, oder doch […] als solcher betrachtet werden“ (Humboldt 2017a [1793], S. 9). Das in Humboldts „Theorie der Bildung des Menschen“ umrissene Ausgangsproblem, dass selbst viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ungebildet bleiben, erklärt sich für ihn daraus, dass sie sich nur mit Einzelproblemen befassen und „ihr Geschäft […] nicht in seiner Vollständigkeit […] übersehen“ (ebd., S. 5). Bildung hängt laut Humboldt also elementar davon ab, dass sich das Subjekt einen ebenso eigenständigen wie ganzheitlichen Zugang zum Gegenstand erschließt. Von Beginn an erweist sich Bildung als ein Prozess der intellektuellen Emanzipation des sich bildenden Menschen, nicht als dessen (wie auch immer gestaltete) Unterweisung.

Charakteristisch für Bildung im Sinne Humboldts ist die selbstbestimmte Sinnhaftmachung der Welt durch das Individuum: Damit der Mensch in der Auseinandersetzung mit „den Gegenständen außer ihm [der Welt, MPH] […] nicht sich selbst verliere […] muss er diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen“ (Humboldt 2017a [1793], S. 8). Mit seinem Verständnis von Bildung als eine auf der Individualität und der Selbsttätigkeit des Subjekts beruhende Welterschließung antizipiert Humboldt die elementaren Grundannahmen konstruktivistischer Lerntheorien. Motiviert werde der sich bildende Mensch dadurch, „dem Geiste [als individuelles Vermögen zum konstruktiven Verstehen der Welt, MPH] eine eigne und neue Ansicht der Welt und dadurch eine eigne neue Stimmung seiner selbst“ zu geben (ebd., S. 10). Zur Erreichung dieses Ziels bedarf der Mensch laut Humboldt einer Vielfalt an Zugängen und Perspektiven: Der Mensch müsse seine Fähigkeiten nutzen, „ihm denselben Gegenstand in verschiedenen Gestalten […] vor seine Betrachtung zu führen“ (Humboldt 2017c [1797], S. 8) und durch „diese Einheit und Vielfalt […] den Begriff der Welt“ nachzuvollziehen (ebd., S. 9). Dafür bedürfe er ebenso der Reflexivität des eigenen Denkens wie auch der reflexiven Auseinandersetzung mit der Vielfalt der geistigen Leistungen anderer, die dem sich bildenden Menschen neue oder erweiterte Perspektiven auf den Gegenstand eröffnen (ebd., S. 10). Humboldt betont dabei die Notwendigkeit, die spezifischen biographischen und gesellschaftlichen Hintergründe zu reflektieren, unter denen sich Theorien, Erkenntnisse und Urteile anderer Menschen entwickelt haben (ebd.). Er fordert dabei nicht weniger als die umfassende ideengeschichtliche Kontextualisierung der Geistestätigkeiten anderer: „[…] Dadurch nun übersähe [im Sinne eines erhellenden Überblicks, MPH] man nicht nur die mannigfaltigen Arten, wie jedes einzelne Fach bearbeitet werden kann, sondern auch die Folge, in der eine [Art, MPH] nach und nach aus der anderen entspringt“ (ebd., S. 11 f.). Bildung im humboldtschen Sinne bedarf folglich pluraler und kontroverser Zugänge und Perspektiven sowie einer kritischen Reflexivität auf das eigene Denken und Verstehen sowie auf die Denkweisen und Verständnisse anderer Menschen. Die eigene Weltsicht sowie die Weltsicht anderer (einschließlich der zu einem Bildungsgegenstand vorfindbaren wissenschaftlichen Theorien) werden im Rahmen des Bildungsprozesses in ihrer Voraussetzungshaftigkeit und in ihren Interdependenzen erkannt. Der Bildungsprozess umfasst somit auch eine Auseinandersetzung mit wissenssoziologischen Fragen, ohne die eine kritische Reflexion der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Welt nicht möglich ist.

Bildung – das kann mit Humboldt konstatiert werden – verwirklicht sich unter der Bedingung von geistiger Offenheit, Reflexivität und dem Interesse respektive der Neugier des oder der Einzelnen an seiner bzw. ihrer (Um-)Welt. Der Bildungsprozess eines Menschen bedarf Freiheit, Mut, Originalität und Unabhängigkeit statt einer Schulung bzw. einer reaktiven Unterweisung in die Denkweisen anderer Menschen – „ohne außerordentliche und eigen gewählte Bahnen des Geistes würde nie etwas Großes entstanden sein“ (Humboldt 2017b [1795], S. 23). Außerdem erweist sich Bildung als grundsätzlich unvollendet, da sie fortwährend neue Fragen aufwirft (Humboldt 2017c [1797], S. 68). Bildung entfacht dadurch eine Eigendynamik, die den subjektiven Bildungsprozess trägt, fortführt und „auch rund um sich her fruchtbar und begeisternd“ wirkt (ebd., S. 69), also andere zur Bildung inspiriert.

3 Die Förderung von Hochschulbildung als elementare Aufgabe der Hochschullehre

Humboldts Bildungstheorie prägt sein Universitätskonzept. Elementar für eine angemessene Organisation des Wissenschaftsbetriebs ist für ihn, „das Prinzip zu erhalten, die Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten, und unablässig sie als solche zu suchen“ (Humboldt 2017e [1810], S. 155) – eine Schulung in tradierten Lehren stellt somit den genauen Gegensatz zu Humboldts Universitätsidee dar. Wissenschaft kann laut ihm allein „aus der Tiefe des Geistes heraus geschaffen“ werden (ebd.). Das Studium erweist sich dabei als ein „Selbst-Actus“ (Humboldt 2017d [1809], S. 138), für das die Studierenden notwendigerweise der Freiheit bedürfen, sich individuell auf die Wissenschaft einlassen zu können (ebd.). Humboldts viel zitierte Forderung der Einheit von Forschung und Lehre (Weber 2002, S. 156) spiegelt sich insbesondere in dem Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden wider. Hierzu führt er aus: „Der erstere [die/der Hochschullehrende, MPH] ist nicht für die letzteren [die Studierenden, MPH], Beide [sic!] sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen mutig hinstrebenden“ (2017e [1810], S. 153). Entsprechend stellt Humboldt an anderer Stelle fest: „[…] [D]er Universitätslehrer [ist] nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor […] unterstützt ihn darin“ (Humboldt 2017d [1809], S. 113). Die Lehrenden profitieren dabei nicht nur von dem lebhaften Erkenntnisdrang der Studierenden (den sie wiederum durch inspirierende Lehre fördern, Humboldt 2017e [1810], S. 160); sie lernen auch selbst dazu: „Überhaupt lässt sich die Wissenschaft als Wissenschaft nicht wahrhaft vortragen, ohne sie jedes Mal wieder selbsttätig aufzufassen, und es wäre unbegreiflich, wenn man nicht hier, sogar oft, auf Entdeckungen stoßen sollte“ (ebd., S. 160). Universitäten (respektive Hochschulen) repräsentierten für Humboldt Orte, die „ein ununterbrochenes, sich immer selbst wieder belebendes, aber ungezwungenes und absichtsloses [!] Zusammenwirken [von Lehrenden und Studierenden] hervorbringen und unterhalten“ (ebd., S. 153) – die Freiheit von Forschung, Lehre und Studium ist für ihn keine Floskel, sondern Programm.

Wenn Humboldt ausführt, dass „das Kollegienhören selbst […] eigentlich nur zufällig [ist]“ (Humboldt 2017d [1809], S. 113), äußert er damit, dass die Inhalte des Studiums weitgehend austauschbar sind. Entscheidend ist für ihn, dass die Auseinandersetzung mit Inhalten in einer selbstständigen und kritisch-reflexiven Art und Weise erfolgt, die vielfältige Perspektiven auf den Gegenstand eröffnet (siehe oben). Bildung durch Wissenschaft – bzw. die Teilhabe an Wissenschaft überhaupt – schließt für Humboldt alle Formen der reaktiven Reproduktion scheinbarer Gewissheiten aus (Humboldt 2017e [1810], S. 154 ff.) und verlangt, dass sich die Studierenden plurale Zugänge auf die Wissenschaften erschließen: „jede Einseitigkeit [muss] aus den höheren wissenschaftlichen Anstalten verbannt sein“ (ebd., S. 156). Stefan Fisch (2015, S. 54) fasst die Universitäts- bzw. Hochschulbildung im Sinne Humboldts treffend damit zusammen, dass sich der studierende Mensch „selbst bilden [müsse] durch den Umgang mit der sich unablässig selbst infrage stellenden Wissenschaft.“.

Humboldts Universitätsidee spiegelt (ebenso wie seine Bildungstheorie insgesamt) das Kernanliegen der Aufklärung wider, das von Immanuel Kant in dessen wegweisender „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ (Kant 1784) als Entschluss und Mut des einzelnen Menschen erklärt wurde, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“ (ebd., S. 481). Die Grundsätze der Subjektorientierung, der ganzheitlichen Betrachtungsweise, der Multiperspektivität, der Freiheit, der Einheit von Forschung und Lehre, der Reflexivität und der konsequenten Wissenschaftskritik verkörpern ein Ideal von Universität und Studium, das uneingeschränkt auch von anderen Vertreterinnen und Vertretern der Aufklärung eingefordert wurde. So führt etwa Henrik Steffens (1809) wie folgt in seine „Vorlesungen über die Idee der Universitäten“ ein: „Es gibt Menschen […][,] denen eine überlieferte Welt genügt; bestimmt durch fremde Richtung, geleitet durch einen fremden Willen […]. […][.] Hier rede ich aber nur solche an, denen die Welt ein wundersames Räthsel ist, dessen Lösung keinem anderen, sondern nur der eigenen Seele anvertrauet ward […]“ (ebd., S. 2). Friedrich Wilhelm Joseph Schelling betont in seinen „Vorlesungen über die Methode des academischen Studium[s]“, dass der Einzelne der Wissenschaft „nicht als ein Sklave, sondern als ein Freier und im Geiste des Ganzen“ Denkender gegenübertreten müsse (Schelling 1803, S. 7). Studierende, die heute unter dem Eindruck einer reaktiven Schulung in den Glaubenssätzen einer marktfundamentalistischen Ökonomik fordern, dass ihr Studium sie darin fördert, Wirtschaft neu zu denken, stehen unmittelbar in dieser aufklärerischen Tradition.

Elementar für die Verwirklichung eines Universitätskonzepts im Sinne der Aufklärung ist, dass die Studierenden im Rahmen ihres Studiums dazu herausgefordert werden, sich selbstbestimmt Zugänge zu den Wissenschaften zu erschließen, statt selektiv und reaktiv in ausgewählten wissenschaftlichen Lehrmeinungen geschult zu werden. Denn die Teilhabe an Wissenschaft sowie die Wissenschaft selbst – das ist die zentrale Botschaft von Humboldt – bedürfen zuvorderst der Freiheit des Subjekts zur akademischen Bildung. Die Humboldt zugerechnete (aber von ihm nie so formulierte) Losung „Bildung durch Wissenschaft“ ist vor diesem Hintergrund immer auch umgekehrt zu lesen: Wissenschaft bedarf der Bildung. Denn wenn der Bildungsprozess im Sinne Humboldts als eine (vom sich bildenden Subjekt initiierte) dialogische Welterschließung verstanden wird, markiert Bildung die zentrale „Relationskategorie“ (Mertens 2011, S. 89) zwischen dem einzelnen Menschen und der (im Falle der Wissenschaft akademischen) Welt – ohne Bildung können sich Studierende demnach keine eigenständigen Zugänge auf die Wissenschaft(en) eröffnen und werden stattdessen (mit den Worten Schellings) zu „Sklaven“ der wissenschaftlichen Lehren anderer herangezogen. Eine elementare Aufgabe von Hochschullehre liegt daher in der Förderung von Hochschulbildung.

4 Adressatinnen- und Adressatenorientierung als konstituierendes Prinzip einer bildungswirksamen Hochschullehre

Es gibt unzählige Möglichkeiten, Hochschullehre im Sinne des Humboldtschen Bildungsverständnisses zu gestalten. Natürlich ist eine entsprechend bildungswirksame Gestaltung der Lehre aber nicht der Beliebigkeit anheimgestellt. Sie ist an Prinzipien zu orientieren, die der Initialisierung, der Vertiefung und der Reflexion von individuellen Bildungsprozessen dienen. In dieser Anerkennung und Wertschätzung der Diversität der Bildungsbedingungen und einer entsprechend verstandenen Adressatinnen- und Adressatenorientierung wird der Schlüssel für eine bildungswirksame Hochschullehre gesehen. Um eine Hochschullehre im Interesse der Studierenden zu verwirklichen, muss ebenso die Einheit von Lehre und Forschung nachvollzogen werden wie sich das in dieser Einheit widerspiegelnde Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden, das im Sinne der Förderung einer akademischen Bildung eben kein klassisches Lehrer-Schülerverhältnis darstellen kann.

Damit Studierende in ihre individuellen akademischen Bildungsprozesse hineinfinden können, müssen sie ein eigenes Interesse an Wissenschaft(en) respektive an Lehre und Forschung entwickeln. Lehre im Interesse der Studierenden erweist sich deshalb wesentlich als eine Form des inspirierenden akademischen Austauschs zwischen Lehrenden und Studierenden (sowie zwischen Studierenden untereinander), an dessen Gestaltung die Studierenden aktiv und selbstbestimmt mitwirken und für das sie begeistert werden müssen – nicht umsonst fordert Humboldt an der Universität eine Auflösung des hierarchischen Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Stattdessen sieht er Lehrende als Unterstützende selbstbestimmter Studierender, denen die gleiche wissenschaftliche Freiheit zuzugestehen ist, die Lehrende für ihre Forschung in Anspruch nehmen (Humboldt 2017d [1809], S. 113; Humboldt 2017e [1810], S. 153). Das Prinzip einer Lehre im Interesse der Studierenden muss vor allem Humboldts Grundsatz einlösen, Studierende darin zu fördern, sich selbstbestimmt Zugänge zur Wissenschaft zu eröffnen – denn ein bildungswirksames Studium kann ebenso wenig wie Allgemeinbildung verordnet werden, sondern setzt die Eigenaktivität des bzw. der einzelnen Studierenden voraus.

Ein naheliegender Ansatzpunkt für eine in diesem Sinne adressatinnen- und adressatenorientierte Lehre ist es, Lehrveranstaltungen möglichst dialogisch zu gestalten und Studierende möglichst weitgehend an der Auswahl und Strukturierung der Inhalte zu beteiligen. Bei Seminaren bietet sich eine Öffnung des Readers an, indem Studierende über Teile der für ihre Vorbereitung auf das Seminar verbindlichen Literatur entscheiden. Bewährt haben sich die folgenden beiden Varianten:

Das Angebot einer Auswahl von Texten für einzelne Sitzungen (die z. B. jeweils eine andere sozialwissenschaftliche Perspektive eröffnen): Die Studierenden können dann frei wählen, mit welchem Text sie sich auf die Sitzung vorbereiten. Wichtig ist, dass von den Studierenden eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit dem gewählten Text erwartet wird, damit die verschiedenen Texte im Seminar angemessen besprochen und diskutiert werden können.

Die Festlegung von Seminarliteratur durch Studierende: Eine andere Möglichkeit ist, dass Studierende nach einem einführenden Teil in das Seminar, für den die Textauswahl bei der Seminarleitung liegt, in Arbeitstandems oder in Kleingruppen (je nach Seminargröße) die Textauswahl für jeweils eine Sitzung übernehmen. Hierbei ist wichtig, dass die Auswahl des Textes nach gemeinsam vereinbarten Kriterien erfolgt, rechtzeitig mit der Seminarleitung besprochen wird (z. B. zwei Wochen vor der Sitzung in einem Sprechstundentermin) und der von den Studierenden ausgewählte und von der Seminarleitung freigegebene Text dann spätestens eine Woche vor der Sitzung allen am Seminar Teilnehmenden zugänglich gemacht wird. Ein Teil der Sitzung sollte dann auch der Begründung und der Diskussion der Textauswahl gewidmet sein.

Es ist evident, dass eine Lehre, die im Interesse der Studierenden stehen soll, insbesondere versuchen muss, dass Studierende das geforderte Engagement in und für die Lehrveranstaltung als subjektiv sinnvoll erleben. Gerade Studienleistungen (verstanden als die im Rahmen einer Lehrveranstaltung seitens der Studierenden semesterbegleitend zu erbringenden Leistungen, die nicht in die Endnote eingehen) müssen deshalb von der Seminarleitung konsequent als Mittel zum übergeordneten Zweck behandelt werden – dem selbstbestimmten Studium der bzw. des einzelnen Studierenden respektive ihrer bzw. seiner akademischen Bildung. Sie sollten unmittelbar dazu dienen, dass sich der oder die einzelne Studierende selbstbestimmt und reflektiert mit einem für die Lehrveranstaltung relevanten Inhalt (z. B. einer wissenschaftlich relevanten Frage- oder Problemstellung, einer wissenschaftlichen Kontroverse oder einer wissenschaftlichen Theorie) auseinandersetzt und sich dadurch eine selbstbestimmte Teilhabe an Wissenschaft(en) eröffnet bzw. diese vertieft. Im Sinne der bereits von Humboldt betonten Bedeutung des gegenseitigen akademischen Austauschs sowie der akademischen Diskussion sollte das Plenum an den Ergebnissen der einzelnen Studienleistungen teilhaben bzw. unmittelbar in die Studienleistung einbezogen werden. Zu beachten ist dabei, dass dem Plenum eine aktive und keine rein reaktive oder gar passive Rolle zukommt. Unbedingt zu vermeiden sind Situationen, in denen die im Rahmen ihrer Studienleistung in die Sitzungsgestaltung einbezogenen Studierenden ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen frontal unterrichten, statt den akademischen Austausch mit ihnen zu suchen. Beispiele für Studienleistungen in diesem Sinne sind:

Die Auswahl von Texten durch Studierende und deren von Studierenden strukturierte Besprechung, die auch eine Begründung und Diskussion der Textauswahl umfassen sollte. Teil der Studienleistung sollte dabei außerdem sein, dass sich die Studierenden auf die von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen ausgewählten Texte vorbereiten (z. B., indem sie vorbereitend Thesen oder Gegenthesen zum Text formulieren oder von ihren Kommilitoninnen und Kommilitonen vorbereitete Fragen zum Text bearbeiten).

Impulsreferate von Studierenden, die unter der Voraussetzung stehen, dass die Referatsthemen von den Studierenden bestimmt bzw. mitbestimmt werden konnten und eigenständig vorbereitet werden. Impulsreferate sind auf höchstens zwanzig Minuten beschränkt und dienen dazu, eine lebendige Lehrveranstaltung zu evozieren, in der sich die Studierenden problemorientiert über kontroverse Fragen austauschen und miteinander diskutieren. Keinesfalls sollen sie zu der Situation führen, dass Studierende ihre Kommilitoninnen und Kommilitonen frontal unterrichten – stattdessen soll deutlich werden, dass „Wissenschaft als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten“ ist (Humboldt 2017e [1810], S. 155) und deshalb immer auch der Kontroverse bedarf (ebd., S. 153 ff.). Im Sinne einer fundierten Diskussion bedürfen dabei alle Studierenden einer Vorbereitung auf die Sitzung – die Studienleistung umfasst also die Vorbereitung auf alle Sitzungstermine. Impulsreferate können mit der Studienleistung der begründeten Textauswahl und -vorbereitung kombiniert werden. Sofern die Textgrundlage für die Sitzung nicht von der Studierendengruppe ausgewählt wird, die das Impulsreferat verantwortet, muss für eine frühzeitige und verbindliche Abstimmung zwischen beiden Studierendengruppen Sorge getragen werden.

Grundsätzlich gilt, dass die Abstimmung zwischen allen an der Lehrveranstaltung Beteiligten umso wichtiger wird, je offener ihre Gestaltung gehalten wird. Elementar für das Ermöglichen einer Lehre im Interesse der Studierenden ist:

  • Ein gemeinsam abgestimmter Terminplan, der die im Vorfeld der einzelnen Sitzungstermine notwendige Kommunikation zwischen Studierenden und Lehrendem/Lehrender bzw. unter den Studierenden verbindlich und transparent macht und dessen Umsetzung Teil der Studienleistung ist (die andernfalls nicht entsprechend studierendenorientiert gestaltet werden könnte).

  • Ein Kriterienkatalog für das wissenschaftliche Arbeiten im Seminar, der idealerweise in einer der einführenden Sitzungen gemeinsam erarbeitet wird, den Studierenden bei der Gestaltung ihrer Studienleistung Orientierungshilfen gibt und der einen wichtigen Bezugspunkt für die im Seminar geführten Kontroversen darstellen kann.

Für die transparente Abstimmung und Kommunikation der innerhalb der Lehrveranstaltung zu erbringenden akademischen Leistungen sollten die Möglichkeiten genutzt werden, die die an der Hochschule etablierte internetbasierte Lehr- und Lernplattform bietet. Um die Übersicht auf der gemeinsam genutzten digitalen Lehr- und Lernplattform zu wahren, sollte die bzw. der Lehrende ein logisch strukturiertes Ordnersystem anlegen (z. B. untergliedert in „Organisatorisches“, „Sitzungsvorbereitungen“, „Sitzungsnachbereitungen“). Für die Benennung der i. d. R. maßgeblich von den Studierenden einzustellenden Dateien sollte ein einheitliches und inhaltlich aussagekräftiges Muster vereinbart werden (z. B. Datum des Sitzungstermins_Sitzungsthema_Nachname(n) der Autorinnen/Autoren).

Insbesondere für Vorlesungen bietet es sich an, die Studienleistung als ein individuelles Lern- respektive Bildungsjournal zu gestalten, mittels dem alle an der Lehrveranstaltung beteiligten Studierenden die einzelnen Termine individuell vor- und nachbereiten und ihre aktive Beteiligung an der Lehrveranstaltung dokumentieren (Haarmann 2020, S. 257 f.). Auch und gerade für diese Form der Studienleistung kann die an der Hochschule etablierte internetgestützte Lehr- und Lernplattform als Infrastruktur genutzt werden, indem dort für alle an der Lehrveranstaltung teilnehmenden Studierenden ein Dateiordner angelegt wird, in dem die Studierenden Abschnitt für Abschnitt ihr lehrveranstaltungsbegleitend entwickeltes Lern- bzw. Bildungsjournal einstellen. Kern dieser individuellen Auseinandersetzung mit der Veranstaltung ist die Dokumentation der individuellen Vor- und Nachbereitung einer vereinbarten Mindestanzahl von einzelnen Terminen der Lehrveranstaltung, die die Studierenden in Abhängigkeit ihres individuellen Interesses wählen können:

Die Vorbereitung dient dazu, dass die Studierenden ihre subjektive Lernausgangslage in Bezug auf das Thema des jeweiligen Lehrveranstaltungstermins strukturiert zusammenfassen, indem sie a.) ihr (aus ihrer Sicht) für das Thema relevantes Vorwissen darstellen; b.) ihre Erwartungen an den Termin umreißen, wobei unter anderem erkenntnisleitende Fragen formuliert werden können. Dieser Teil des Lern- bzw. Bildungsjournals ist vor dem jeweiligen Sitzungstermin anzufertigen und online zu stellen. Die individuellen Erwartungen der Studierenden werden auch in die einzelnen Vorlesungstermine einbezogen, indem diese durch eine entsprechende Erwartungsabfrage eröffnet werden und mit einer pointierten Diskussion offen gebliebener Fragen schließen.

Die Nachbereitung dient der Dokumentation und Reflexion des individuellen Bildungsprozesses bzw. der individuellen Lernentwicklung. Dafür beschreiben die Studierenden diesen unter Rückbezug auf ihre Lernausgangslage. Maßgeblich ist dabei die Frage, inwiefern sie in der Vorlesung mit für sie neuem und relevantem Wissen konfrontiert wurden, das sie 1.) thesenartig zusammenfassen und 2.) vor dem Hintergrund des übergeordneten Themas der Vorlesung kontextualisieren und reflektieren sollen. Außerdem formulieren die Studierenden eine wissenschaftliche Frage, die die Sitzung aus ihrer Sicht aufgeworfen hat. Diese Frage soll so gestellt werden, dass sie ein konkretes wissenschaftliches Erkenntnisinteresse widerspiegelt und zu erwarten ist, dass sie unter Heranziehung von Fachliteratur seriös bearbeitet werden kann.

Auf Grundlage der von den Studierenden formulierten Fragestellungen stellt die oder der Lehrende schließlich einen Katalog weiterführender wissenschaftlicher Fragen zusammen, von denen die Studierenden eine Fragestellung auswählen (und ggf. in Rücksprache mit ihr noch modifizieren können) und in der vorlesungsfreien Zeit als Prüfungsleistung in Form einer Hausarbeit oder eines Diskussionspapiers bearbeiten. Eine entsprechend gestaltete Prüfungsleistung steht in einem unmittelbaren Bezug zu den eigenverantwortlich erbrachten Studienleistungen.

Auch andere Prüfungsleistungsformen sollten so gestaltet werden, dass sie in Einklang mit dem konstituierenden Prinzip einer Lehre im Interesse der Studierenden stehen. Von Prüfungsleistungen, bei denen die reaktive Reproduktion von Wissen im Vordergrund steht, muss im Sinne einer an den Adressatinnen und Adressaten orientierten Lehre Abstand genommen werden. Stattdessen sollten Prüfungsleistungen die Studierenden dazu herausfordern, ihre in der und durch die Lehrveranstaltung erworbene bzw. vertiefte akademische Bildung anzuwenden. Für die verbreitete Prüfungsform der Klausur muss der Fokus dafür auf Aufgabenstellungen liegen, die ein diskursives und reflexives Denken einfordern und nicht zu eng gestellt sind – dann können Studierende zeigen, wie fundiert und reflektiert sie sich mit den Inhalten der Lehrveranstaltung auseinandersetzen können.

Eine in entsprechender Weise adressatinnen- und adressatenorientierte Gestaltung von Studien- und Prüfungsleistungen setzt voraus, dass der Vor- und Nachbereitung der Lehre ein angemessener Stellenwert im Universitätsalltag eingeräumt wird (Haarmann 2020, S. 260). Insbesondere für Großveranstaltungen bedürfen Lehrende dabei der Unterstützung durch Tutorinnen und Tutoren. Letztere wiederum benötigen eine angemessene Ausbildung, um dazu beitragen zu können, dass die Studierenden eine angemessene Begleitung und Förderung in ihren individuellen Bildungsprozessen erfahren.

5 Ergänzende Prinzipien sozioökonomischer Hochschullehre

Setzt man Humboldts grundsätzliche Überlegungen zur Bildung des Menschen in Bezug zum Selbstverständnis von Sozioökonomie und sozioökonomischer Bildung, wird eine große Schnittmenge deutlich. So verdichtet z. B. Silja Graupe (2014, S. 203) das Anliegen von Sozioökonomie auf die Frage: „Wie kann die Sozio-Ökonomie dem wissenschaftlichen Diskurs einen Raum eröffnen, in dem Menschen […] über diese Fragen [über das Verhältnis von Wirtschaft, VWL und Gesellschaft, MPH] gemeinsam und in Freiheit nachdenken können?“ Für Reinhold Hedtke verwirklicht sich sozioökonomische Bildung in Gestalt „einer pragmatischen […] Philosophie“ (Hedtke 2014, S. 81), die „sich in allererster Linie den lernenden Subjekten […] verpflichtet“ sieht (ebd., S. 85). Kate Raworth (2017, S. 6–12) stellt ganz grundsätzlich fest, dass es einer Emanzipation gegenüber den tradierten volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen bedarf, um sich angesichts der ökologischen und sozialen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts überhaupt in einer für Individuum und Gesellschaft relevanten Weise mit wirtschaftlichen Fragen auseinandersetzen zu können. Sozioökonomie verweist also unmittelbar auf eine Hochschullehre im Interesse der Studierenden.

Um die Studierenden dabei zu unterstützen, Wirtschaft neu (im Sinne von selbstbestimmt und ergebnisoffen) denken zu können, lassen sich aus dem für alle Studiengänge relevanten konstituierenden Prinzip einer Lehre im Interesse der Studierenden spezielle Prinzipien für die Gestaltung von sozioökonomischer Hochschullehre entwickeln. Da sich die sozioökonomische Hochschuldidaktik erst in ihren Anfängen befindet, lohnt es sich dabei, auf Erträge der Allgemeinen Didaktik, der Didaktik der sozialwissenschaftlichen Unterrichtsfächer sowie der Wirtschaftspädagogik zurückzugreifen – denn diese Disziplinen setzen sich seit Jahrzehnten mit der Frage auseinander, wie individuelle Bildungsprozesse angestoßen und unterstützt werden können. Als relevant erscheinen dabei Prinzipien, die Studierende aktivieren, ihnen plurale Perspektiven auf Wirtschaft und Gesellschaft sowie auf die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften eröffnen und/oder die in den Wissenschaften sowie in der Gesellschaft vorfindbaren Sichtweisen auf Wirtschaft hinterfrag- und kritisierbar machen. Eine grundlegende Bedeutung kommt dabei den folgenden drei Prinzipien zu, die gut miteinander kombiniert werden können sowie auf den an Kersten Reichs systemisch-konstruktivistischer Pädagogik orientierten didaktischen Dreischritt aus verstehender Rekonstruktion, kritisch-hinterfragender Dekonstruktion und schaffender (Eigen-)Konstruktion von (sozial-)wissenschaftlichem Wissen bezogen werden können (dazu unter anderem Haarmann 2018, insbesondere S. 208 f.):

  • Problemorientierung: Um „die Kräfte freizulegen, die […] zum Suchen und Forschen anregen“, müssen laut Hans Aebli (1983, S. 277) „lebendig empfundene Probleme“ vorhanden sein. Die zentrale Relevanz von Problemstellungen für die Initiierung von Bildungsprozessen ist innerhalb der Allgemeinen Didaktik sowie der Didaktiken des sozialwissenschaftlichen Unterrichts und der Wirtschaftspädagogik weithin anerkannt und evident (für die sozioökonomische Bildung exemplarisch Hedtke 2014, S. 84): Unter der Voraussetzung, dass es sich aus Sicht des Individuums um ein relevantes gesellschaftliches Problem handelt und es in wissenschaftlichen Perspektiven den Schlüssel für eine aufgeklärte Auseinandersetzung mit dem Problem erkennt, wird es sich um eine entsprechende wissenschaftliche Bildung bemühen. Auch in der Wissenschaft sind es Probleme, durch die Forschungsprozesse initiiert, orientiert und legitimiert werden: „Alle Wissenschaften entstehen aus Problemen. Ihre Absichten, Methoden und Ergebnisse können nur von ihren Problemen her verstanden werden“ (Eucken 1947, S. 15). Wissenschaft, die nicht problemorientiert forscht, verliert ihre gesellschaftliche Relevanz (ebd., S. 15 ff.) – eine mangelnde Orientierung an gesellschaftlich relevanten Problemlagen ist somit ein zentraler Ansatzpunkt für eine fundamentale Wissenschaftskritik.

  • Kontroversitätsgebot: Das Kontroversitätsgebot gilt innerhalb der Didaktik des sozialwissenschaftlichen Unterrichts als unverzichtbar, um Bildungsprozesse zu ermöglichen. Prägnant auf den Punkt gebracht wird es mit dem zweiten Grundsatz des 1976 innerhalb der politischen Bildung formulierten „Beutelsbacher Konsens“: Dort heißt es: „Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muß auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten [dem Überwältigungsverbot, MPH] aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten. Zu fragen ist, ob der Lehrer nicht sogar eine Korrekturfunktion haben sollte, d. h. ob er nicht solche Standpunkte und Alternativen besonders herausarbeiten muß, die den Schülern […] von ihrer jeweiligen politischen und sozialen Herkunft her fremd sind“ (Wehling 1977, S. 179). Die Relevanz des Kontroversitätsgebots für das Ermöglichen von Bildung durch Wissenschaft ist offensichtlich: Kontroverse Zugänge sind eine Voraussetzung für eine differenzierte Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichem Wissen (respektive mit den relevanten gesellschaftlichen Problemlagen); und die differenzierte Auseinandersetzung mit sozialwissenschaftlichem Wissen ist wiederum eine Voraussetzung dafür, dass sich das Individuum seines Verstandes ohne Leitung eines Anderen bedient. Natürlich kann es dabei (zumindest jenseits vom Lehrveranstaltungstyp der Vorlesung) in wissenschaftlichen Lehrveranstaltungen nicht darum gehen, dass Lehrende kontroverse Positionen instruktiv vermitteln. Vielmehr haben Studierende die Aufgabe, Kontroversen (z. B. auf Grundlage einer geeigneten Literaturauswahl) aufzuspüren und konstruktiv zu durchdenken. Bei der inhaltlichen Gestaltung von Lehrveranstaltungen können relevante sozialwissenschaftliche Kontroversen ergebnisoffen anmoderiert und dabei ggf. auch marginalisierte wissenschaftliche Positionen einbezogen werden. Letzteres bietet sich insbesondere dann an, wenn diese Positionen profunde Kritik an herrschenden wissenschaftlichen Lehrmeinungen und/oder der herrschenden gesellschaftlichen Realität ermöglichen und so für die Entwicklung von Kritikfähigkeit wertvoll erscheinen.

  • Konfliktorientierung: Das Prinzip der Konfliktorientierung orientiert sich an Ralf Dahrendorfs These von der gesellschaftlichen Bedeutung und produktiven Funktion sozialer Konflikte und versucht sozialwissenschaftliche Bildungsprozesse zu initiieren, indem auf gesellschaftliche Konfliktlagen fokussiert wird (Reinhardt 2005, S. 76). Auch die von Herwig Blankertz betonte Bedeutung des politisch-wissenschaftlichen Diskurses (Kutscha 2019) verweist auf die Konfliktorientierung. Um Wirtschaft im Sinne von Sozioökonomie und sozioökonomischer Bildung in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und Widersprüchen (be-)greifbar zu machen, ist eine Auseinandersetzung mit den vielfältigen (ökonomischen, sozialen, ökologischen) Interessen- und Zielkonflikten des wirtschaftlichen Zusammenlebens elementar. Zudem erweist sich auch das Konfliktpotenzial zwischen verschiedenen wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Sichtweisen und Paradigmen als bildungswirksam – Studierende können etwa aus sich gegenseitig widersprechenden wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Annahmen und Aussagen Grundlagen einer Wissenschaftskritik entwickeln und Möglichkeiten sowie Grenzen einzelner wissenschaftlicher Zugänge beurteilen. Durch Anwendung des Prinzips der Konfliktorientierung tritt ein grundlegendes Charakteristikum von Wirtschaft hervor: als konfliktgeprägter gesellschaftlicher Raum ist Wirtschaft hochgradig politisch regelungsbedürftig (Haarmann 2016). Die politische Regelungsbedürftigkeit von Wirtschaft besteht unabhängig von der (politischen) Entscheidung über die grundlegende Planungs- und Lenkungsform einer Volkswirtschaft. Eine „freie“ Marktwirtschaft etwa mag zwar in den Lehrwerken der Neoklassik als die „natürliche“ Wirtschaftsordnung erscheinen, dann aber ist der Blick auf sie (wie auf Wirtschaft insgesamt) ideologisch verstellt. Denn ebenso wie jede andere Wirtschaftsordnung setzt eine marktwirtschaftliche Ordnung die Durchsetzung einer bestimmten Politik voraus. Das politische Fundament einer Marktwirtschaft umfasst z. B. die politische Garantie und Definition von bestimmten Individualrechten (z. B. Eigentumsrechte, Berufs-, Gewerbe-, Vereinigungs- und Vertragsfreiheit) sowie die Herstellung von Rechtssicherheit. Als gesellschaftlicher Raum, in dem Menschen unter mannigfachen Konfliktsituationen elementare Interessen verfolgen, weist zudem auch die Wirtschaft selbst einen unmittelbar politischen Charakter auf (ebd.). Die politische Regelungsbedürftigkeit und der politische Charakter von Wirtschaft übertragen sich unmittelbar auf die mit diesem Gegenstandsbereich befassten Sozialwissenschaften. Gerade die VWL erweist sich als eine sehr politische Sozialwissenschaft. Deshalb war deren frühere Bezeichnung als politische Ökonomie konsequent: „Das Wichtigste, was in jenem Namen unserer Wissenschaft lag, war wohl dies, daß man keinen Zweifel über ihren politischen Charakter lassen wollte“ (Röpke 2009 [1959], S. 315). Eine Lehre im Interesse der Studierenden setzt voraus, dass der politische Charakter von Ökonomie und Ökonomik durch das Prinzip der Konfliktorientierung transparent gemacht wird. Andernfalls werden Studierende dazu verleitet, die politischen Prämissen, unter denen z. B. volkswirtschaftliche Theorien stehen, unerkannt anzuerkennen. Die politischen Implikationen von Wirtschaft und den mit ihr befassten Sozialwissenschaften verweisen auch auf die Bedeutung, Studierenden im Sinne des Kontroversitätsgebots vielfältige Perspektiven auf Wirtschaft und VWL zu eröffnen und dabei problemorientiert vorzugehen. Denn ansonsten wird Hochschullehre ideologisch einseitig und praxisfern und leidet unter genau den Defiziten, die die Bewegung für eine Plurale Ökonomik an einseitig neoklassisch orientierten Lehrveranstaltungen und Studiengängen bemängelt.

Eine an den vier erläuterten Prinzipien orientierte sozioökonomische Hochschullehre kommt den Forderungen, die kritische Studierende klassischer volkswirtschaftlicher Studiengänge an ihre Disziplin stellen, umfassend nach. Sie dient dem akademischen Empowerment der Studierenden, indem sie die Studierenden dazu animiert, sich ausgehend von für Individuum und/oder Gesellschaft bedeutsamen (sozio-)ökonomischen Problemen selbstbestimmt mit den Perspektiven, Erkenntnissen und offenen Fragen von (Sozial-)Wissenschaft(en) auseinanderzusetzen und ihnen diese kontrovers und konfliktorientiert zugänglich macht, statt sie einseitig in einer bestimmten ökonomi(sti)schen Theorie zu schulen. Studierende befähigen sich dabei durch die wechselseitige Re- und Dekonstruktion (sozial-)wissenschaftlicher Theorie(n) zur (Eigen-)Konstruktion von (sozial-)wissenschaftlichem Wissen und erschließen sich durch diesen dialektischen Prozess eine nachhaltige (sozial-)wissenschaftliche Bildung. Der politische Charakter von Ökonomie und Ökonomik wird dabei transparent gemacht, statt ihn zu verdecken und Studierende dazu zu verleiten, die politischen Prämissen volkswirtschaftlicher Theorieansätze unerkannt anzuerkennen. Eine entsprechend gestaltete sozioökonomische Hochschullehre unterstützt die Studierenden dabei, Wirtschaft neu und vor dem Hintergrund ihrer politischen Implikationen zu denken und dadurch das zu leisten, was das Ziel jeder (Sozial-)Wissenschaft sein sollte: Einen Beitrag zu einem aufgeklärten Weiterdenken von Gesellschaft zu leisten.