Zusammenfassung
Im Zuge bildungspolitischer Änderungen haben Kindertagesstätten in den letzten Jahrzehnten einen Bedeutungswandel erfahren. Sie sind verstärkt zu Orten von Wissensproduktionen erklärt worden, an die hohe Erwartungen im Hinblick auf die Kompensation von ‚ungünstigen‘ Ausgangsvoraussetzungen von Kindern und ihren Übergang in die Grundschule gestellt werden. Dabei erfährt der Diskurs über ‚Sprachdefizite von Migrantenkindern‘ im Austausch zwischen frühpädagogischen Fachkräften und Lehrkräften eine besondere Gewichtung. Dies verdeutlichen Aussagen von Kindertagesstätten-Leitungskräften, die im Rahmen der Studie „Von Sprachdefiziten und anderen Mythen. Eine Studie zum Nicht-Verbleib von Elementarpädagoginnen und -pädagogen mit Migrationshintergrund“ befragt worden sind.
Der Beitrag setzt sich auf der Grundlage dieser Studie kritisch mit institutionell und strukturell gegebenen diskriminierenden und rassialisierenden Mechanismen und Praxen im Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Elementarpädagogik auseinander. Ein Fokus wird auf die Analyse von Differenzkonstruktionen und Interaktionsprozessen zwischen pädagogischen Fachkräften mit und ohne ‚Migrationshintergrund‘ gelegt, die im Rahmen von quantitativen und qualitativen Ansätzen untersucht worden sind. Aus den Analysen lassen sich deutliche Indizien für diskriminierende Gruppenkonstruktionen und für eine fehlende Anerkennung der Mehrsprachigkeit von (angehenden) Fachkräften ableiten. Ausgehend von den Befunden werden Handlungsbedarfe für die elementarpädagogische Praxis formuliert.
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Notes
- 1.
Um die problematische Konstruiertheit und die provisorische Verwendung des Begriffs ‚Migrationshintergrund‘ anzuzeigen, markieren wir ihn mit einfachen Anführungszeichen.
- 2.
Sonderschule für Lernbehinderung.
- 3.
Die Namen der interviewten Fachkräfte wurden in der Studie anonymisiert.
- 4.
An dieser Stelle sollte auf einen weiteren Selektionsmechanismus hingewiesen werden: Fachkräfte, die im Nicht-EU-Ausland eine frühpädagogische Ausbildung absolviert haben, müssen diese meistens wiederholen, da kaum etwas von ihrer Ausbildung in Deutschland anerkannt wird (vgl. Gereke et al. 2014). Für die Aufnahme und das Bestehen der frühpädagogischen Ausbildung müssen Deutschkenntnisse auf hohem Niveau (B2/ C1) vorliegen. In diesen Anerkennungs- und Bewertungsverfahren wird weiteren Sprachkenntnissen keinerlei Bedeutung beigemessen.
- 5.
Mit ‚Othering‘ werden Praxen bezeichnet, „die Andere als (…) sinnlich erkennbare, als einheitliche und kommunizierbare Phänomene konstituieren und den oder die Andere(n) als Andere festschreiben und damit, in gewisser Weise, beständig verfehlen“ (Broden und Mecheril 2007, S. 13).
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Akbaş, B., Polat, A. (2022). Von „Sprachdefiziten“ und anderen Mythen – Praxen der Herstellung von Differenz in Einrichtungen der Elementarpädagogik. In: Akbaba, Y., Bello, B., Fereidooni, K. (eds) Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Pädagogische Professionalität und Migrationsdiskurse. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29043-6_9
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