Zusammenfassung
Utopische Stadtmodelle und Idealstadtplanungen basieren auf einer gemeinsamen Schnittmenge, nämlich der Rezeption antiker Modelle und Schriften. Früh schon verknüpften sich auch Gesellschaftslehren bzw. ideale Staatsentwürfe mit entsprechenden Stadtmodellen. Erst im Frühhumanismus weist die Stadtbaugeschichte Idealstadtkonzeptionen auf; zeitgleich werden die erste nachantike Architekturtheorie verfasst und die erste Stadt errichtet, die wohl mit dem Begriff Idealstadt bezeichnet werden kann, und auch die erste literarische Utopie geschrieben. Die Stränge laufen seither parallel. Wird in der utopischen Literatur nicht mehr die Veränderung auf eine ins Jenseits projizierte heilsgeschichtliche Konzeption des „himmlischen Jerusalem“ verlagert, sondern der gewollte Traditionsbruch vorgestellt, so wandeln sich auch Architektur und Städtebau unter dem Einfluss humanistischer Vorstellungen von einer hinzunehmenden Seinsgegebenheit zu einer aktiven Gestaltungsaufgabe für die städtische oder staatliche Obrigkeit. Ihre Wirkung und weitreichende Entsprechung konnten solche Vorstellungen sowohl in den Utopien als auch im frühneuzeitlichen Staat auf einer tabula rasa entfalten – also bei Stadtneugründungen, in denen das Ideal der wohlangelegten, geordneten, sauberen steinernen Stadt durch vorhergehende Planung umsetzbar war.
Das Tabula-rasa-Verfahren hat in den Utopien und insbesondere in Morus’ Utopia gleichfalls paradigmatische Bedeutung. Nur in einem Raum, der sich nach außen abschottet, kann der Versuch gelingen, die Lebensbedingungen der Menschen und diesen selbst radikal, d.h. von Grund auf neu zu gestalten und die utopische Stadt gleichsam auf einer tabula rasa zu imaginieren. Die streng geometrischen Stadtgrundrisse waren rational erklärbar, mathematisch überprüfbar und sind zugleich Ausdruck guter Ordnung in einem funktionierenden, geregelten, quasi perfekten Gemeinwesen für den „Neuen Menschen“.
Die Autoren werfen abschließend einen Blick auf die russische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts (Suprematismus und Konstruktivismus), welche die geometrische Formensprache vierhundert Jahre später noch einmal aufgriff und teilweise mit neuen Ideen verband, teilweise diese radikalisierte.
Der Aufsatz wurde 1996 modellhaft zugespitzt formuliert. Die sich daran anschließende Diskussion um Utopie und Architektur wurde maßgeblich durch die Arbeiten der Autorin und gemeinsame Schriften beider Autoren befördert und hat inzwischen insbesondere die Utopieforschung, die Film- und Mediengeschichte, die Literaturwissenschaft wie auch die Architekturgeschichte und Stadtplanung zu weiterer Auseinandersetzung und Arbeiten angeregt.
Beim Beitrag handelt es sich um einen unveränderten Wiederabdruck des Aufsatzes aus: ZS für Geschichtswissenschaft 8, 44. Jg. 1996, S. 677–692.
Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Metropol-Verlages Berlin.
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Notes
- 1.
Vgl. zu den Unterschieden dieser drei Ansätze: Saage (1995, S. 2–8) (Einleitung).
- 2.
Zur Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitutopie vgl. grundlegend Koselleck (1982).
- 3.
Vgl. hierzu Nipperdey (1962, S. 364).
- 4.
Vgl. hierzu Künzli (1989, S. 27 f.).
- 5.
Vgl. hierzu Gustafsson (1982, S. 288).
- 6.
Vgl. hierzu Saage (1991).
- 7.
- 8.
Vgl. grundlegend Günther 1992.
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Saage, R., Seng, EM. (2019). Geometrische Muster zwischen frühneuzeitlicher Utopie und russischer Avantgarde. In: Illies, C. (eds) Bauen mit Sinn. Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25489-6_5
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