Zusammenfassung
Das Kreativitätsdispositiv bezeichnet den Sachverhalt, dass Menschen in unserer Gesellschaft kreativ sein sollen und dies zugleich auch wollen. Was nach der perfekten Win-Win-Situation klingt, ist jedoch gar nicht so unproblematisch: Denn echte Kreativität ist anstrengend. Es verwundert also nicht, wenn Menschen sich dem entziehen, indem sie sich auf die weniger mühsamen Seiten des kreativen Prozesses fokussieren (insbesondere auf den Konsum ästhetischer Reize und Erlebnisse, die ständig auf uns einströmen), um sich auch ohne Anstrengung weiterhin als Teil der kreativen Welt fühlen zu können. Um tatsächlich etwas Kreatives zu schaffen, braucht es aber mehr als nur Inspiration: nämlich Phasen des Leerlaufs ohne Kreativitätsdruck, geistige Unabhängigkeit und vor allem den Mut, sich mit den existenziellen Fragen des Menschseins auseinanderzusetzen – auch, wenn das mit Wachstumsschmerzen verbunden ist. Lehrkräfte, die der subversiven Kraft der Kreativität authentisch begegnen, können ihre SchülerInnen in ihrer Entwicklung vom bloßen Konsumenten (pseudo-)kreativer Produkte zur schöpferischen, starken Persönlichkeit unterstützen.
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Notes
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Diese naturwissenschaftliche Orientierung findet sich durchaus auch in der der ein oder anderen Strömung der zeitgenössischen Künste wieder – man denke beispielsweise in der Musik an den Serialismus als Weiterentwicklung der Zwölftontechnik, der wohl weniger ein sinnliches als vielmehr ein intellektuelles Vergnügen darstellt.
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Die Beziehung zwischen Individuum und System ist übrigens, wie Reckwitz (2012) betont, keineswegs als einseitige Einflussnahme zu verstehen. Auch die Wirtschaft gerät durch das Tun der Individuen massiv unter Druck, sich nun ihrerseits als kreativ zu beweisen (etwa, indem sie „inspirierende Produkte“ ersinnen und zur Verfügung stellen muss). Dieses Schicksal teilt sie mit allen gesellschaftlichen Systemen, etwa den Künsten, den Massenmedien, der Städteplanung u. v. m., von denen sich keines dem Dispositiv entziehen kann (Reckwitz 2018). Kreativität ist inzwischen „längst zum rettenden Motor und zum charakteristischen Wesen unserer gegenwärtigen globalen Ökonomie geworden“ (Jankowski 2012, unpag.).
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Wenn ich in diesen Absätzen die männliche Form wähle, dann deshalb, weil das Stereotyp des Genies bis heute männlich geprägt ist; schon Sechsjährige teilen die Auffassung, dass Frauen eher nicht so brillant sind wie Männer (Bian et al. 2017). Durch die Geschichte hinweg hatten Frauen überdies deutlich weniger Möglichkeiten, ihr kreatives Potenzial öffentlichkeitswirksam umzusetzen, was die Zahl der bekannten kreativen weiblichen Genies noch einmal weiter reduziert.
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Dieses „Gottesgnadentum“, nach eigenen Regeln schaffen zu können, findet seine Parallele in der Autonomie des absolutistischen Herrschers – der Topos der Verbindung zwischen Künstler und Fürsten ist möglicherweise kein Zufall (Ullrich 2016).
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Als herausragendes, aber keineswegs einziges historisches Beispiel ist die Querelle des Anciens et des Modernes 1687 zu nennen. Dieser Literaturstreit entzündete sich an einem Gedicht von Charles Perrault, in dem er die eigene Epoche als der augusteischen überlegen lobte, was auf seiten der „Alten“ auf massiven Widerstand stieß (vgl. Rötzer 1998).
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Der „bürgerliche Stand“ zeichnet sich durch große Heterogenität aus, und der Begriff des Bürgertums hat im Laufe seiner Geschichte vom Dritten Stand der Französischen Revolution bis heute unterschiedlichste Bewertungen erfahren; eine Abhandlung würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Interessierte LeserInnen seien zum Einstieg auf Kocka (2008) verwiesen.
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In unserem Zusammenhang ist es möglicherweise interessant, dass Freud künstlerische Betätigung als Weg sah, unbewusste Triebe und gesellschaftliche Anforderungen in Einklang zu bringen. Dieser Mechanismus – „Sublimierung“ genannt – besteht darin, die sexuelle Triebenergie auf ein „höherwertiges“, sozial akzeptableres Ziel umzulenken, in diesem Fall das künstlerische Schaffen. Die Psychopathologie hingegen sieht das kreative Genie per se als pathologisch an (z. B. Lange-Eichbaum 1928; Lombroso 1887).
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Diese Wissenschaftsskepsis brachte der humanistischen Psychologie einiges an Kritik ein; vgl. Straub (2014).
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Interessanterweise stellt just der Zwang der ständigen Sichtbarkeit eines der Hauptmerkmale effektiver Gefängnisarchitekturen dar – das „Panoptikum“ Jeremy Benthams (1791) ist von einem Mittelpunkt strahlenförmig ausgehend so aufgebaut, dass die Wärter (oder allgemein die Beaufsichtigenden) die Gefangenen (bzw. diejenigen in ihrer Obhut) zu jedem Zeitpunkt unter Beobachtung haben. Foucault (1975) sah darin das Prinzip moderner westlicher Gesellschaften, die durch solche Überwachungs- und Kontrollmechanismen die Konformität des Individuums sicherstellen. (Das Internet vereint diese beiden Aspekte des Gesehen-Werdens auf fast schon ironische Weise.).
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Der Skandal um die ECHO-Verleihung 2018 hat dies anschaulich illustriert. Wenn Sie sich daran nicht erinnern: quod erat demonstrandum.
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Es wäre indes übermäßig idealistisch anzunehmen, dass Kreative stets aus einer inneren Notwendigkeit heraus schaffen und es ihnen egal ist, ob das, was sie schaffen, auch vom Publikum angenommen wird. Allein schon deshalb, weil sie von irgend etwas leben müssen, sind sie auf Rezeption (und Entlohnung!) angewiesen.
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Aus meiner Sicht unterscheidet sich diese Funktion qualitativ von den anderen, weil sie sich auf das Individuum an und für sich und nicht auf seine Position in der Gruppe bezieht. Ich würde sie daher nicht wie Massing (2000) auf derselben Ebene ansiedeln wie die anderen Funktionen, sondern sie eher als eigene Funktionsklasse konzipieren.
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So der Titel von Storrs Buch – im Original The School of Genius.
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Die Ästhetisierung im Kreativitätsdispositiv war ja, wie oben gezeigt just als Reaktion auf die Verkopfung und Entsinnlichung der Welt entstanden. Das sollte auch der Schule zu denken geben – vielleicht ist es ja nicht die schlechteste Idee, Emotionen (die ja unabdingbar zum Menschsein gehören) im Unterricht mehr Raum zuzugestehen.
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Wie wir im Kapitel von Hutmacher und Haager (in diesem Band) gesehen haben, ist Ambiguitätstoleranz ein zentrales Merkmal kreativer Menschen. Möglicherweise kann sie im Zuge aktueller politischer Entwicklungen sogar helfen, dass SchülerInnen dem grassierenden Populismus weniger leicht auf den Leim gehen.
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Baudson, T.G. (2019). Darf man heutzutage noch unkreativ sein?. In: Haager, J., Baudson, T. (eds) Kreativität in der Schule - finden, fördern, leben. Psychologie in Bildung und Erziehung: Vom Wissen zum Handeln. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-22970-2_11
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