Zusammenfassung
Aldo Legnaro ordnet in seinem Beitrag das Sicherheitsgefühl historisch ein und kontextuiert es mit den jeweils vorherrschenden sozialen Konstruktionen von Bedrohungen. Hierzu überprüft er einige Annahmen und selten hinterfragten Gewissheiten, dass etwa Kriminalität objektiv zu den herausragenden Gefahren gehört und die Furcht davor eine selbstverständliche Reaktion darauf ist, die sich klar operationalisieren und quantifizieren ließe. So einfach steht es jedoch nicht mit den Unsicherheitsgefühlen. Sie sind stattdessen tief eingewoben in die politische Ökonomie, in die Modalitäten sozialer Kontrolle, in Otheringprozesse und treten als Ausdruck von Abstiegs- und Prekarisierungsängsten auf. Daher plädiert der Autor für das integrative Konzept der Sicherheitsmentalitäten, das Kriminalitätsfurcht rückbindet an individuelle Dispositionen und Lebenswirklichkeiten sowie an lokale und gesellschaftliche governance-Strukturen.
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Notes
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Sehr nebenbei bemerkt: seine Professur war nicht mit einem festen Gehalt verbunden, was die Prekarität heutiger universitärer Zustände noch übersteigt.
- 2.
Eine neuere Biografie des Teufels interpretiert ihn denn auch als eine theologische Abspaltung der Gottheit, sodass beide – nach dem Muster von bad cop und good cop – in der Welt agieren können (Flasch 2015).
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Es handelt sich dabei um die Viktimisierungsperspektive, wonach Kriminalitätsfurcht vor allem von der Erfahrung eigener Opferwerdung abhängt, um die These sozialer Desorganisation auf lokaler Ebene und um die These sozialer Probleme, wonach Kriminalitätsfurcht vor allem durch die Berichterstattung der Medien entsteht.
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Das sind im Wesentlichen schon in den 1980er-Jahren vorgebrachte kritische Anmerkungen zum Konzept und seiner operationalen Definition; vgl. etwa Garofalo (1981), Ferraro und LaGrange (1987), LaGrange und Ferraro (1989). Zur Kritik der Methoden, einer weiteren Ausdifferenzierung der empirischen Erhebungsstrategien und einer Gesamtbewertung vgl. insgesamt Kreuter (2002).
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Die Erhebung fand von Juni bis Mitte Juli 2015 statt, als der Begriff ‚Flüchtlingskrise‘ noch nicht erfunden worden war. Um so bemerkenswerter, dass die einschlägigen Ängste bereits einen solch großen Raum einnehmen.
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Eine phänomenologische Beschreibung samt detaillierter Analyse von „Main Street, U.S.A.“ bei Legnaro und Birenheide (2005, S. 177 ff.).
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Es gehört zur Ironie der Entwicklung, dass gerade an solchen incivilities reiche Stadtviertel für die erste Welle von gentrifiern oft auch einen Reiz entfalten und über kurz oder lang dann in den Sog einer Gentrifizierung geraten, die die Bevölkerung zu einem großen Teil austauscht und sie im Sinne gediegener Bürgerlichkeit ‚normalisiert‘. Das beschreibt am Beispiel des Hamburger Schanzenviertels Naegler (2012).
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Diese Kritik habe ich vor nahezu zwanzig Jahren formuliert; vgl. Legnaro (1998).
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Es ist umstritten, wie begründet diese Ängste sind, doch beherrscht die „fear of falling“ (Ehrenreich 1994) offenbar weite Teile der Mittelschicht, die allerdings vorrangig unter temporärer und wohlstandsnaher Prekarität zu leiden haben, während armutsnahe und zur Verfestigung neigende – also tatsächlich bedrohliche – Prekarität eher ein Phänomen von niedrig Qualifizierten darstellt (Kraemer 2009); siehe auch Schimank et al. (2014); Burzan et al. (2014). Aber bekanntlich entfalten auch lediglich vorgestellte und imaginativ antizipierte Situationen Wirkungen.
- 10.
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Legnaro, A. (2019). Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sicherheitsmentalität?. In: Klimke, D., Oelkers, N., Schweer, M. (eds) Sicherheitsmentalitäten im ländlichen Raum. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-15118-8_1
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