Zusammenfassung
Fehl- und Totgeburt in jeder Phase der Schwangerschaft und anschließende Trauerprozesse sind von subjektiven Ungewissheiten und sozialen Uneindeutigkeiten geprägt. Im Beitrag wird erstens eine kultursoziologische Perspektive auf Verlusterleben und Trauer im Kontext von Fehl- und Totgeburt entfaltet. Zweitens werden vier Deutungs- und Handlungsambivalenzen vorgestellt, die für pränatale Verluste typisch sind: die Inwändigkeit des Sterbens, die Unsichtbarkeit des Verlusts, körperliche Liminalität und die Kongruenz der Prozesse Entbinden und Sterben. Deutlich wird, dass einerseits keine Prozessierungen institutionalisiert sind, Fehl- und Totgeborene aus dem Leben und die Frau am Ende der werdenden Mutterschaft zu begleiten, die Trauer nach pränatalem Verlust andererseits stark normiert ist.
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Notes
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Lena Dreier und Alexander Leistner danke ich für die kollegiale Kritik an früheren Fassungen.
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„So gibt es: totgeborene Kinder, tot geborene oder in der Geburt verstorbene Kinder, verstorbene Neugeborene, in der Geburt verstorbene Leibesfrüchte, Fehlgeburten (oder: Fehlgeborene), Totgeburten (oder: Totgeborene), aus Schwangerschaftsabbrüchen stammende Leibesfrüchte, Feten (auch: Föten) oder Embryonen, Ungeborene und totgeborene Leibesfrüchte. Teilweise werden diese Begriffe im Gesetz definiert, teilweise wird eine Definition vorausgesetzt“ (Aeternitas e. V. Verbraucherinitiative Bestattungskultur 2012).
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Beiden geht eine zelluläre Phase von der Befruchtung bis zur Einnistung in die Gebärmutter voraus.
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So sind zum Beispiel indische Leihmütter nach der Übergabe des Kindes an die sogenannten Bestelleltern (auch) stolz darauf, ihre Familien reich gemacht zu haben, sowie auf ihre Gebärfähigkeit, die einer unfruchtbaren westlichen Frau Familie ermöglicht.
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Solche Schwangerschaftsenden inkl. veranlasster Abbrüche können dennoch für Betroffene dramatisch sein.
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Zur väterlichen Trauer bei Totgeburt vgl. bspw. die Autoethnografie von Weaver-Hightower (2012). Bonnette und Broom (2011) thematisieren anhand qualitativer Interviews die Schwierigkeiten von australischen Vätern Totgeborener, legitim ihre Trauer auszudrücken und sich als (trauernde) Väter zu identifizieren.
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Ambivalenz und Uneindeutigkeit werden synonym verwendet, wobei der aus der Psychologie stammende Begriff Ambivalenz eher auf Empfindungen von Handlungssubjekten rekurriert, während soziale Uneindeutigkeit besteht, wenn eine Situation oder ein Ereignis intersubjektiv verschieden interpretiert und behandelt wird. Da davon ausgegangen wird, dass auch subjektive Ambivalenz Ergebnis internalisierter, heterogener sozialer Bedeutungen ist, wird die synonyme Verwendung für vertretbar gehalten.
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Bisher: Sieben narrative Einzel- und Paarinterviews mit Betroffenen, zwei Expertinneninterviews (zwei Kindsbestatterinnen und eine Moderatorin eines Online-Trauerforums) sowie eine Gruppendiskussion unter Selbsthilfe-Initiatorinnen.
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Zum Beispiel von Veranstaltungen am Weltgedenktag für verstorbene Kinder oder Selbsthilfetreffen.
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Zudem weiteres Material wie Reden zur Einweihung eines (Sternen-)Kindergrabfeldes, Fotografien dieser Gräber, Gedenkseiten im Internet oder Informationsbroschüren.
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„Kind“ stellt bereits eine Deutung dar. Es ließe sich auch von Leibesfrucht oder Leiche sprechen. Begrifflich soll stets die jeweilige Sicht, in diesem Fall der Trauernden, zum Ausdruck kommen.
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Der dem Englischen entlehnte Begriff „Schwangerschaftsverlust“ beinhaltet Fehl- und Totgeburten gleichermaßen. Es ist zu überlegen, ihn als umfassenderen Begriff zu verwenden, um von der scharfen und konsequenzenreichen Differenz Abstand zu nehmen, die nicht zwangsläufig dem Verlusterleben der Betroffenen entspricht. Allerdings fokussiert er den Verlust des leib-körperlichen Zustands der Schwangerschaft selbst und verschiebt damit die Blickrichtung weg vom pränatalen Sterben.
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Diese pränatal beginnenden Prozesse dauern nach der Entbindung an: Das Neugeborene ist auch danach leiblich abhängig und noch soziale Person im Werden. Für inspirierende Gedanken zum Begriff des „sozialen Akteurs im Werden“ danke ich Susanne Lemke.
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Die Namen aller Forschungssubjekte wurden durch Pseudonyme ersetzt.
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Aus dem Kontext wird ersichtlich, dass mit „keine Anzeichen“ nicht die fehlenden Herztöne gemeint sind.
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Schreibfehler in den Zitaten stammen aus den unverändert übernommenen Originaltexten.
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Ein Beispiel dafür bietet auch Saras Mann, der vermittelt, auf diese Weise habe sich das Problem einer erneuten Schwangerschaft ja „geklärt“.
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Infaust (lat. „ungünstig“) ist in der Medizin eine Prognose, wenn die Erkrankung als nicht heilbar erachtet wird und mit konsekutivem Tod zu rechnen ist.
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Mit der Lebensdauer steigt die Anzahl an Personen, die mit dem Kind interagiert haben. Der Kreis der Angehörigen wächst. So beschrieb ein Paar in einer Selbsthilfegruppe die Anteilnahme des Klinikpersonals am Tod ihrer vier Wochen alten, zu früh geborenen Tochter. Mitarbeitende der neonatalogischen Abteilung, das Paar nennt sie „die Familie“ ihrer Tochter, seien zur Beerdigung gekommen und würden sich noch gelegentlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. Im anschließenden Gespräch mit einer von Schwangerschaftsverlust betroffenen Frau erklärt diese, wie schwer es ihr fiele, von solcher Anteilnahme zu hören. Bei ihr sei das überhaupt nicht so gewesen, sondern „eine richtige Scheißerfahrung! Ausschabung und fertig“.
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http://www.klinikaktion.de/leitfadeneltern.pdf. Zugegriffen: 21. Dezember 2015.
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Gemeint sind solche „Lebendgeburten“, die nach infauster Prognose in absehbarer Zeit versterben werden.
Literatur
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Böcker, J. (2017). Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste. In: Jakoby, N., Thönnes, M. (eds) Zur Soziologie des Sterbens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11874-7_8
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