Skip to main content

Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste

  • Chapter
  • First Online:
Zur Soziologie des Sterbens

Zusammenfassung

Fehl- und Totgeburt in jeder Phase der Schwangerschaft und anschließende Trauerprozesse sind von subjektiven Ungewissheiten und sozialen Uneindeutigkeiten geprägt. Im Beitrag wird erstens eine kultursoziologische Perspektive auf Verlusterleben und Trauer im Kontext von Fehl- und Totgeburt entfaltet. Zweitens werden vier Deutungs- und Handlungsambivalenzen vorgestellt, die für pränatale Verluste typisch sind: die Inwändigkeit des Sterbens, die Unsichtbarkeit des Verlusts, körperliche Liminalität und die Kongruenz der Prozesse Entbinden und Sterben. Deutlich wird, dass einerseits keine Prozessierungen institutionalisiert sind, Fehl- und Totgeborene aus dem Leben und die Frau am Ende der werdenden Mutterschaft zu begleiten, die Trauer nach pränatalem Verlust andererseits stark normiert ist.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 34.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 44.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Similar content being viewed by others

Notes

  1. 1.

    Lena Dreier und Alexander Leistner danke ich für die kollegiale Kritik an früheren Fassungen.

  2. 2.

    „So gibt es: totgeborene Kinder, tot geborene oder in der Geburt verstorbene Kinder, verstorbene Neugeborene, in der Geburt verstorbene Leibesfrüchte, Fehlgeburten (oder: Fehlgeborene), Totgeburten (oder: Totgeborene), aus Schwangerschaftsabbrüchen stammende Leibesfrüchte, Feten (auch: Föten) oder Embryonen, Ungeborene und totgeborene Leibesfrüchte. Teilweise werden diese Begriffe im Gesetz definiert, teilweise wird eine Definition vorausgesetzt“ (Aeternitas e. V. Verbraucherinitiative Bestattungskultur 2012).

  3. 3.

    Beiden geht eine zelluläre Phase von der Befruchtung bis zur Einnistung in die Gebärmutter voraus.

  4. 4.

    So sind zum Beispiel indische Leihmütter nach der Übergabe des Kindes an die sogenannten Bestelleltern (auch) stolz darauf, ihre Familien reich gemacht zu haben, sowie auf ihre Gebärfähigkeit, die einer unfruchtbaren westlichen Frau Familie ermöglicht.

  5. 5.

    Solche Schwangerschaftsenden inkl. veranlasster Abbrüche können dennoch für Betroffene dramatisch sein.

  6. 6.

    Zur väterlichen Trauer bei Totgeburt vgl. bspw. die Autoethnografie von Weaver-Hightower (2012). Bonnette und Broom (2011) thematisieren anhand qualitativer Interviews die Schwierigkeiten von australischen Vätern Totgeborener, legitim ihre Trauer auszudrücken und sich als (trauernde) Väter zu identifizieren.

  7. 7.

    Ambivalenz und Uneindeutigkeit werden synonym verwendet, wobei der aus der Psychologie stammende Begriff Ambivalenz eher auf Empfindungen von Handlungssubjekten rekurriert, während soziale Uneindeutigkeit besteht, wenn eine Situation oder ein Ereignis intersubjektiv verschieden interpretiert und behandelt wird. Da davon ausgegangen wird, dass auch subjektive Ambivalenz Ergebnis internalisierter, heterogener sozialer Bedeutungen ist, wird die synonyme Verwendung für vertretbar gehalten.

  8. 8.

    Bisher: Sieben narrative Einzel- und Paarinterviews mit Betroffenen, zwei Expertinneninterviews (zwei Kindsbestatterinnen und eine Moderatorin eines Online-Trauerforums) sowie eine Gruppendiskussion unter Selbsthilfe-Initiatorinnen.

  9. 9.

    Zum Beispiel von Veranstaltungen am Weltgedenktag für verstorbene Kinder oder Selbsthilfetreffen.

  10. 10.

    Zudem weiteres Material wie Reden zur Einweihung eines (Sternen-)Kindergrabfeldes, Fotografien dieser Gräber, Gedenkseiten im Internet oder Informationsbroschüren.

  11. 11.

    „Kind“ stellt bereits eine Deutung dar. Es ließe sich auch von Leibesfrucht oder Leiche sprechen. Begrifflich soll stets die jeweilige Sicht, in diesem Fall der Trauernden, zum Ausdruck kommen.

  12. 12.

    Der dem Englischen entlehnte Begriff „Schwangerschaftsverlust“ beinhaltet Fehl- und Totgeburten gleichermaßen. Es ist zu überlegen, ihn als umfassenderen Begriff zu verwenden, um von der scharfen und konsequenzenreichen Differenz Abstand zu nehmen, die nicht zwangsläufig dem Verlusterleben der Betroffenen entspricht. Allerdings fokussiert er den Verlust des leib-körperlichen Zustands der Schwangerschaft selbst und verschiebt damit die Blickrichtung weg vom pränatalen Sterben.

  13. 13.

    Diese pränatal beginnenden Prozesse dauern nach der Entbindung an: Das Neugeborene ist auch danach leiblich abhängig und noch soziale Person im Werden. Für inspirierende Gedanken zum Begriff des „sozialen Akteurs im Werden“ danke ich Susanne Lemke.

  14. 14.

    Die Namen aller Forschungssubjekte wurden durch Pseudonyme ersetzt.

  15. 15.

    Aus dem Kontext wird ersichtlich, dass mit „keine Anzeichen“ nicht die fehlenden Herztöne gemeint sind.

  16. 16.

    Schreibfehler in den Zitaten stammen aus den unverändert übernommenen Originaltexten.

  17. 17.

    Ein Beispiel dafür bietet auch Saras Mann, der vermittelt, auf diese Weise habe sich das Problem einer erneuten Schwangerschaft ja „geklärt“.

  18. 18.

    Infaust (lat. „ungünstig“) ist in der Medizin eine Prognose, wenn die Erkrankung als nicht heilbar erachtet wird und mit konsekutivem Tod zu rechnen ist.

  19. 19.

    Mit der Lebensdauer steigt die Anzahl an Personen, die mit dem Kind interagiert haben. Der Kreis der Angehörigen wächst. So beschrieb ein Paar in einer Selbsthilfegruppe die Anteilnahme des Klinikpersonals am Tod ihrer vier Wochen alten, zu früh geborenen Tochter. Mitarbeitende der neonatalogischen Abteilung, das Paar nennt sie „die Familie“ ihrer Tochter, seien zur Beerdigung gekommen und würden sich noch gelegentlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen. Im anschließenden Gespräch mit einer von Schwangerschaftsverlust betroffenen Frau erklärt diese, wie schwer es ihr fiele, von solcher Anteilnahme zu hören. Bei ihr sei das überhaupt nicht so gewesen, sondern „eine richtige Scheißerfahrung! Ausschabung und fertig“.

  20. 20.

    http://www.klinikaktion.de/leitfadeneltern.pdf. Zugegriffen: 21. Dezember 2015.

  21. 21.

    Gemeint sind solche „Lebendgeburten“, die nach infauster Prognose in absehbarer Zeit versterben werden.

Literatur

  • Aeternitas e.V. Verbraucherinitiative Bestattungskultur (2012). http://www.aeternitas.de/inhalt/recht/themen/artikel/2012_05_15__03_56_19. Zugegriffen: 10. Dezember 2015.

  • Alberti, B. (2012). Die Seele fühlt von Anfang an. Wie pränatale Erfahrungen unsere Beziehungsfähigkeit prägen. 6. Aufl. München: Kösel.

    Google Scholar 

  • Böcker, J. (2015). Kein Tod ohne Leben. Zu Krisen des Trauerns nach Fehl- und Totgeburt. In M. Endreß (Hrsg.), Routinen der Krise – Krise der Routinen. Verhandlungen des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Trier. Open Access http://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband/article/view/158/pdf_89. Zugegriffen: 23. Juni 2016.

  • Böhner, S., & Zirfas, J. (2012). Die Bildung der Trauer. Eine pädagogisch-anthropologische Betrachtung. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 15(1), 125–141.

    Google Scholar 

  • Bonnette, S., & Broom, A. (2011). On grief, fathering and the male role in men’s accounts of stillbirth. Journal of Sociology. The Australian Sociological Association 48(3), 248–265.

    Google Scholar 

  • Cecil, R. (Hrsg.). (1996). The anthropology of pregnancy loss. Comparative studies in miscarriage, stillbirth, and neonatal death. Oxford/Washington: Berg Publishers.

    Google Scholar 

  • Doka, K. J. (Hrsg.). (2002). Disenfranchised grief. Champaign: Research Press.

    Google Scholar 

  • Doka, K. J. (2014). Entrechtete Trauer. In D. Bürgi & C. Metz (Hrsg.), Leid im Abseits – Aberkannte und nicht gesehene Trauer. Leidfaden 3 (S. 4). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Google Scholar 

  • Duden, B. (2002). Zwischen ‚wahrem Wissen‘ und Prophetie. Konzeptionen des Ungeborenen. In B. Duden, J. Schlumbohm & P. Veit (Hrsg.), Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17.-20. Jahrhundert, Bd. 170 (S. 11–48). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

    Google Scholar 

  • Equit, C., & Hohage, C. (Hrsg.). (2016). Handbuch Grounded Theory. Von der Methodologie zur Forschungspraxis. Weinheim: Beltz Juventa.

    Google Scholar 

  • Frost, J., Bradley, H., Levitas, R, Smith, L., & Garcia, J. (2007). The loss of possibility: scientisation of death and the special case of early miscarriage. Sociology of Health & Illness 29(7), 1003–1022.

    Google Scholar 

  • Gesundheitsberichterstattung des Bundes (GBE Bund) (2015). Totgeburten. https://www.gbe-bund.de/stichworte/TOTGEBURTEN.html. Zugegriffen: 30. Mai 2015.

  • Hahn, A. (1968). Einstellungen zum Tod und ihre soziale Bedingtheit. Eine soziologische Untersuchung. Stuttgart: Kohlhammer.

    Google Scholar 

  • Hahn, A. (2002). Tod und Sterben in soziologischer Sicht. In J. Assmann & R. Trauzettel (Hrsg.), Tod, Jenseits und Identität. Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Thanatologie (S. 55–89). Freiburg/München: Karl Alber.

    Google Scholar 

  • Heimerl, B. (2013). Die Ultraschallsprechstunde. Eine Ethnografie pränataldiagnostischer Situationen. Bielefeld: Transcript.

    Google Scholar 

  • Hirschauer, S., Heimerl, B., Hoffmann, A., & Hofmann, P. (2014). Soziologie der Schwangerschaft. Explorationen pränataler Sozialität. (Qualitative Soziologie, Bd. 19). Stuttgart: Lucius & Lucius.

    Google Scholar 

  • Hertz, R. (2007 [1907]): Beitrag zur Untersuchung der kollektiven Repräsentationen des Todes. In S. Moebius & C. Papilloud (Hrsg.), Robert Hertz. Das Sakrale, die Sünde und der Tod. Religions-, kultur- und wissenssoziologische Untersuchungen (S. 65–179). Konstanz: UVK.

    Google Scholar 

  • Jakoby, N. (2012). Trauer als Forschungsgegenstand der Emotionssoziologie. In A. Schnabel & R. Schützeichel (Hrsg.), Emotionen, Sozialstruktur und Moderne (S. 407–424). Wiesbaden: VS.

    Google Scholar 

  • Jakoby, N., Haslinger, J., & Gross, C. (2013). Trauernormen. Historische und gegenwärtige Perspektiven. SWS-Rundschau 53(3), 253–274.

    Google Scholar 

  • Kaufman, S. R., & Morgan, L. M. (Hrsg.). (2005). The Anthropology of the Beginnings and Ends of Life. Annual Review of Anthropology 34, 317–341.

    Google Scholar 

  • Plessner, H. (1975 [1928]). Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Berlin/New York: Walter de Gruyter.

    Google Scholar 

  • Prosser, M. (2005). Friedhöfe eines ‚unzeitigen Todes‘. Tot geborene Kinder und das Problem ihres Bestattungsortes. In N. Fischer & M. Herzog (Hrsg.), Nekropolis. Der Friedhof als Ort der Toten und der Lebenden (S. 125–146). (Irseer Dialoge 10). Stuttgart: Kohlhammer.

    Google Scholar 

  • Przyborski, A., & Wohlrab-Sahr, M. (2014). Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch. 4. erw. Aufl. München: Oldenbourg.

    Google Scholar 

  • Sänger, E., Dörr, A., Scheunemann, J., & Treusch, P. (2013). Embodying Schwangerschaft. Pränatales Eltern-Werden im Kontext medizinischer Risikodiskurse und Geschlechternormen. Gender 1, 56–71.

    Google Scholar 

  • Scheper-Hughes, N. (2004). Death Without Weeping. In A. C. G. M. Robben (Hrsg.), Death, mourning, and burial: A cross-cultural reader (S. 179–193). Malden, MA: Blackwell Pub.

    Google Scholar 

  • Schütz, A. (1932). Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie. Wien: Springer.

    Google Scholar 

  • Schütze, Y. (1986). Die gute Mutter. Zur Geschichte des normativen Musters ‚Mutterliebe‘. Schriftenreihe des Instituts Frau und Gesellschaft. Hannover: Kleine.

    Google Scholar 

  • Strauss, A. (1998). Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Datenanalyse und Theoriebildung in der empirischen und soziologischen Forschung. München: Fink.

    Google Scholar 

  • Turner, V. (1989). Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur. Frankfurt a.M.: Campus.

    Google Scholar 

  • Warland, J., & Davis, D. L. (2011). Caring for families experiencing stillbirth. A unified position statement on contact with the baby. An international collaboration. http://missfoundation.org/news/StillbirthContactwBaby_position_statement.pdf. Zugegriffen: 12. Dezember 2015.

  • Weaver-Hightower, M. B. (2012). Waltzing Matilda. An Autoethnography of a Father’s Stillbirth. Journal of Contemporary Ethnography 41(4), 462–491.

    Google Scholar 

  • Winkel, H. (2008). Trauer als Biografiegenerator. Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research 9(1), Art. 50 [42 Absätze].

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Julia Böcker .

Editor information

Editors and Affiliations

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2017 Springer Fachmedien Wiesbaden

About this chapter

Cite this chapter

Böcker, J. (2017). Inwändig, unsichtbar, liminal. Ambivalenzen pränataler Verluste. In: Jakoby, N., Thönnes, M. (eds) Zur Soziologie des Sterbens. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-11874-7_8

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-11874-7_8

  • Published:

  • Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-658-11873-0

  • Online ISBN: 978-3-658-11874-7

  • eBook Packages: Social Science and Law (German Language)

Publish with us

Policies and ethics