1 Frühe Schmidt-Klischees

Arno Schmidt gilt als schwieriger Autor, sicher nicht zu Unrecht, seine Texte sind zum Teil unerhört komplex; allerdings ist er auch ein Autor, der etwas für seine Leserinnen und Leser getan hat, der bei konsistenten Figuren, bei durchgehenden Handlungen geblieben ist, schließlich einer der komischsten Autoren, die wir in der deutschen Literatur haben. Es gibt zwei Klischees der frühen Schmidt-Rezeption, mit denen ich mich befassen will: das eine, seine Ich-Erzähler seien mehr oder weniger alter egos, Selbstporträts. Das andere ist eines, mit dem vor allem Schmidt-Nichtleser gern ihr Nichtlesen begründen: Diese Ich- bzw. Erzählerfiguren bei Schmidt seien für sie unerträglich, arrogant, besserwisserisch, dabei vielleicht noch ein bisschen kleinkariert, pedantische Oberlehrer-Typen, mit denen man ja schon im wirklichen Leben nichts zu tun haben wolle. Klischees haben ja oft – keinen wahren Kern, aber doch etwas wie einen Auslöser in re, einen Leseeindruck, der sie erzeugt. Dass es sich dabei um einen falschen, um einen oberflächlichen Eindruck handelt, der noch nicht einmal den Ich-Figuren, ganz zu schweigen vom Autor Schmidt, gerecht wird, lässt sich mit dem narratologischen Konzept des unzuverlässigen Erzählers und anhand der Erzählung Brand’s Haide (1951) zeigen. Ich will drei Themenkomplexe vorführen, die sich mal mehr, mal weniger mit diesem Konzept verbinden lassen. Zunächst soll der Text den Nicht-Schmidt-Leserinnen und -Lesern vorgestellt werden, die es ja unverständlicherweise geben soll (2). Die Frage nach dem autobiographischen Gehalt wird knapp beantwortet (3). Das Verhältnis des Protagonisten zu seiner Geliebten Lore zeigt seine Unzuverlässigkeit wohl am deutlichsten (4). Auch nach der Funktion der einmontierten Fremdtexte kann gefragt werden – und damit auch nach dem Umgang Schmidts mit Mythos, Traum, Phantastik in Brand’s Haide vor dem Kontext erzählerischer Unzuverlässigkeit (5). Am Ende sollen zwei Vorschläge gemacht werden, warum Schmidt dieses Konzept möglicherweise eingesetzt hat (6).

2 Das Triptychon Brand’s Haide

Zuerst stelle ich kurz Brand’s Haide vor, im Erstdruck 1951 ein Text von 150 Seiten, hier wird er auch auf dem Deckblatt als „Erzählung“ bezeichnet; in der Bargfelder Ausgabe, der gültigen Schmidt-Werkausgabe, sind das 80 Druckseiten. Hier wird Brand’s Haide als gattungsloser Text gedruckt, weder Roman noch Erzählung; gemessen an anderen frühen Schmidt-Texten ginge er vielleicht auch noch als Kurzroman durch. Schmidt hat nach einem ersten Einfall am 31.3./1.4.1949 die Erzählung vom Januar bis September 1950 niedergeschrieben, 1951 ist sie bei Rowohlt erschienen.

Der Text hat drei Teile, ein Triptychon: Im ersten Teil, Blakenhof oder die Überlebenden, kommt der aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassene Unteroffizier Schmidt in dem niedersächsischen Dorf Blakenhof an (ein fiktiver Ortsname). Es ist der 21. März 1946. Ein älterer Mann am Ortseingang schickt ihn zur Dorflehrerin, deren Sohn ihm den Schuppen zeigt, der ihm zugewiesen worden ist. Er lernt seine Nachbarinnen kennen, Lore und Grete, Flüchtlinge aus Schlesien wie er, 32 Jahre alt wie er. Sie leihen ihm weder Besen noch Kehrblech – die kriegt er wieder von dem Alten, der ihm zu Beginn den Weg gewiesen hat. Es wird beschrieben, wie der Protagonist Schmidt die Frauen in den nächsten Tagen besser kennenlernt, wir lernen ihn besser kennen und erfahren, dass er fast nichts hat, dass er an einer Biographie des Barons de la Motte-Fouqué arbeitet. Es zeigt sich auch, dass „Schorsch“, der Sohn der Dorflehrerin, Interesse an Lore hat, der Ich-Erzähler versteht ihn als Nebenbuhler. Es gibt Gespräche mit ihm, mit dem Pfarrer – Schmidt spielt Schach gegen ihn und will die Kirchenbücher einsehen –, erneut mit dem Alten, Schmidt versucht, Lore wie Grete als Mitarbeiterinnen über seinen Fouqué-Archivalien zu gewinnen. Die Freundschaft zwischen den dreien wird enger, die Frauen waschen seine armselige Wäsche mit. Als ein Care-Paket von seiner Schwester aus den USA kommt, vereinbaren sie, Teile des Pakets gegen die notdürftigste Ausstattung für Schmidts Bruchbude einzutauschen.

Im zweiten Teil, Lore oder das spielende Licht, sind wir ein paar Monate weiter, im Hochsommer, datiert auf den 26.7.1946. Im Wald, beim Pilzesammeln, funkt es zwischen Schmidt und Lore. Der Pfarrer hat endlich die Kirchenbücher „rausgerückt“,Footnote 1 mithilfe von Grete und Lore kann Schmidt die fraglichen Fouqué-Details nachsehen; er sucht nach dem ersten Hauslehrer des romantischen Dichters, einem Wilhelm Heinrich Albrecht Fricke. Dessen Großvater ist der Gärtner Johann Wilhelm Auen, einige seltsame Ereignisse um 1730 in dem Waldstück „Brand’s Haide“, direkt vor dem Dorf, scheinen mit Auen zu tun zu haben, es gibt einen Bericht des damaligen Dorfpfarrers Overbeck in den Kirchenbüchern. Lore geht nun nicht mehr mit dem Lehrer (oder der Dorfjugend) tanzen, sie bleibt bei Schmidt. Nachts gehen die beiden Äpfel stehlen, wieder treffen sie den Alten. Schmidt kuriert seine Erkältung einigermaßen mit Schnaps vom Bauern Apel, dem sogenannten Großen Kuhfürsten (er hat 28 Kühe); er kann in der folgenden Nacht schon wieder mit den beiden Frauen Holz stehlen gehen.

Krumau oder willst Du mich noch einmal sehen, der dritte Teil, spielt Ende Oktober/Anfang November 1946; im „oder willst Du mich noch einmal sehen“ erkennen die Aficionados schon Fouqués Undine (1811) wieder, das ist ein Satz, den sie dem Ritter sagt, bevor sie ihn zu Tode küsst. In Schmidts Erzählung liest die Figur „Schmidt“ Lore und Grete natürlich Fouqué vor, nach einigen unguten Ankündigungen, die der Ich-Erzähler nicht versteht, beichtet ihm Lore, dass sie zu ihrem Cousin nach Mexiko gehen wird – ein materiell sicheres Leben, das sie dem Leben mit ihrer großen Liebe Schmidt vorzieht, obwohl er eigentlich der ‚einzige‘ sei, wie sie beteuert. Er bringt sie zum Zug und bleibt mit Grete zurück; als Dichter/Schriftsteller wird er mehr oder minder entsagungsvoll seinem Werk leben.

3 Schmidts „Schmidt“ und andere Realien

Es handelt sich also um einen Text mit einem Ich-Erzähler bzw. (im Modus von Wolfgang Hildesheimer gesprochen) Reflekteur, der das eingangs erwähnte Schmidt-Klischee bestätigt: Er monologisiert, und Schmidt erscheint einmal mehr als ein Autor, der als ‚Realist‘ die „Nessel Wirklichkeit“ packen will, wie es im Kurzroman Aus dem Leben eines Fauns (1953) heißt, einer der meistzitierten Schmidt-Sätze.Footnote 2 Zu allem Überfluss heißt das reflektierende Ich in Brand’s Haide auch noch „Schmidt“, es ist der einzige der frühen Texte, in dem das der Fall ist. Solche metafiktionalen Scherze, gelegentlich als Stilmittel der Postmoderne zugeschlagen, gibt es vermutlich so lange, wie es erzählende Literatur gibt, sicher schon im mittelalterlichen Epos, bei Chaucer und Cervantes, nicht erst bei Borges, Flann O’Brien oder Erich Kästner. In Schmidts Text heißt nicht nur der Protagonist Schmidt, er hat auch eine Menge Schmidtscher Autobiographica aufgebürdet bekommen: Die Geburtsadresse im Hamburger Rumpffsweg ist genannt – „ich als Hamburger“ (154) –, Kindheitserinnerungen, einzelne Mitschüler werden erwähnt (die das zeitgenössische Publikum der fünfziger Jahre natürlich nicht kennen konnte). Schmidts eigener Arbeitspass ist mit exakter Nummer angegeben (121); seine Flüchtlingsnöte, die Armut der Figur dürfte der eigenen entsprechen, auch die genannte britische Kriegsgefangenschaft ist authentisch. Seine Einquartierungsorte heißen zwar nicht „Blakenhof“, aber das Dorf ist eine Zusammenziehung der Wohnorte Benefeld und Cordingen, es sind sogar Nachbarn aus Cordingen genannt. Die Schwester Lucie Kiesler wird namentlich erwähnt, sie ist die Senderin der Care-Pakete, die im wirklichen Leben von Arno und Alice Schmidt eine ähnlich große Rolle spielten wie im Leben des Erzählungs-Schmidt und seiner beiden Nachbarinnen. Der Reflekteur arbeitet an einer Fouqué-Biographie wie Arno Schmidt in diesen Jahren – sie wird erst 1958 erscheinen –, und er hat bereits einiges geschrieben, Texte, die Leviathan, Alexander, Kosmas, Massenbach heißen, alle in Brand’s Haide erwähnt, ob 1951 bereits erschienen oder nicht, in Anspielungen sogar einige der Juvenilia, die erst 1986, sieben Jahre nach dem Tod des Autors ediert worden sind. Auch hier konnte das zeitgenössische Publikum nicht ermessen, wie nah die Figur Schmidt dem Autor Schmidt stand, und auch die heutigen Leserinnen und Leser können diese Faktenebene intratextuell nicht klären.

Von den Autobiographica ganz abgesehen, enthält der Text natürlich Verweise auf andere Realien, wie stets bei Schmidt und wie verschärft in seinen frühen Arbeiten. Brand’s Haide zeigt tatsächlich ein ergreifendes Bild der Mangel-Jahre nach dem verlorenen Krieg, der Flüchtlinge und Vertriebenen zumal. Das Essen auf Lebensmittelmarken, das sehnsüchtige Warten auf Care-Pakete von den wenigen, die sie bekamen, gibt ebenso ein Bild wie die Episode um die Blechbüchse, die Grete wegwerfen will und die der Protagonist ihr abschwatzt, nach Überwindung seiner Scham –

„ich brauch nur was zum Trinken und so.“ („Und so“ war gut ! Aber warum soll gerade ich immer Bedeutendes äußern ?). „O Gott“, sagte sie […] und da hielt sie mir endlich das Ding hin: „Es sind Fischgräten drin“, erklärte sie schüchtern: „es hat Zuteilung gegeben.“; „Danke schön !“ und weg war ich. (Mitsamt den Fischgräten; bin dann nochmal rausgegangen und hab die weggeschüttet. […] N bissel auswässern, wird’s ohne weiteres ne Tasse !) (124)

Dass die Erzählung kurz nach dem Krieg in einem besetzten Land spielt, zeigt eine kleine Episode, in der sich ein durchfahrender „Tommy“-Soldat bei der Figur Schmidt nach dem Weg erkundigt – „Schmidt“ zeigt ihm seinen Pass und tut so, als verstehe er kein Englisch. Später gibt er allerdings zu verstehen, dass er die Besatzung für einen Segen hält und hofft, sie halte noch 50 Jahre an (168). Die politischen Kommentare sind gegenüber anderen Werken sparsamer, auf die Bauern, die im allgemeinen Mangel wie die Maden im Speck leben, gibt es gehässige Tiraden, wie sie gelegentlich bei Schmidt vorkommen. Die bitteren Lebensumstände erzeugen erst einen wesentlichen Teil der Handlungsdramaturgie: Dass Lore schließlich der Armut entflieht, indem sie ihren Vetter in Lateinamerika heiraten will, ist schon auch ein derber Zeitkommentar – wer Deutschland verlassen kann, der tut’s!

Dass in der Erzählung Brand’s Haide ein Ich diese ganzen Partikel wahrnimmt – und dass wir (anscheinend) auch noch einigermaßen wissen, wer dieses Ich ist – nämlich „Schmidt“ –, ist deutlich. So sehr der Protagonist seiner widrigen Wirklichkeit ausgesetzt sein mag, wir sind „an sein Gehirn“ angeschlossen, wir nehmen als Leserinnen und Leser seine Wirklichkeit wahr, die uns kanalisiert und dirigiert überreicht wird; der Stoßseufzer des Protagonisten, auch einer der bekanntesten Schmidt-Sätze, ist also durchaus eingelöst:

Warum kann man andere Menschen nicht an sein Gehirn anschließen, daß sie dieselben Bilder, Erinnerungsbilder, sehen, wie man selbst ? (Es gibt aber auch Lumpen, die dann) (130)

Das Verfahren ist bekannt, war für zeitgenössische Leserinnen und Leser nur hie und da im einzelnen Detail zu entscheiden und könnte mit einem neueren narratologischen Begriff als merging bezeichnet werden: Informationen ganz unterschiedlicher Provenienz, zwischen empirischer Wirklichkeit und Fiktion, werden zusammengeführt, die kategorialen Unterschiede systematisch verwischt (vgl. Strässle 2019, S. 48 f.). Gerade weil die Figur Schmidt einiges mit dem Autor Schmidt zu tun hat, ist es besonders schwer bzw. nur nach genauer extratextueller Recherche möglich, für jedes einzelne Detail den zugehörigen Wirklichkeitsstatus zu entscheiden. Dennoch ließe sich hier kaum von axiologischer Unzuverlässigkeit sprechen, weil an diesen Details kaum je normative Aussagen hängen;Footnote 3 allerdings nicht durchweg, ich komme auf diesen Punkt zurück.

4 Der unzuverlässige Erzähler

Dass dieser Ich-Erzähler ein unzuverlässiger ist, eben gerade kein alleswissender Superman oder arroganter Pinsel, vielmehr ein „partiell Blinder“ (Reemtsma 2006, S. 176 f.), wird an seinem Verhältnis zu Lore Peters am deutlichsten. Denn diese Frau macht, was sie will, sie hört nicht auf das erzählende Ich: Sie beginnt die Affäre, wann sie will, sie beendet sie, wann sie will, da mögen die süßen Liebesbeteuerungen von seiner Seite noch so laut und deutlich ausfallen. Sie ist längst nicht so beeindruckbar wie ihre Mitbewohnerin Grete. Ihre Unabhängigkeit wird im Text stets präsent gehalten, wie diskret auch immer: Sie geht tanzen, mit den Bauernburschen, mit dem Lehrer, ‚Schmidts‘ Intimfeind; sie verlangt von ihm, dass er tanzen lernt. Lore „expects every man to do his duty“, heißt es einmal (128). Gelegentlich verschwindet sie auch aus der Wahrnehmung des Erzählers und damit überhaupt aus der Erzählung – Besorgungen machen, zur Post gehen im Nachbarort, sie bekommt Briefe, von denen der Erzähler nichts weiß. Am Ende geht sie und überlässt ihn seiner Kunst. Er muss in der Folge diese Alterität, die ihm nicht mehr zur Verfügung steht, ins Innere verlegen, obwohl er’s lieber anders hätte; er muss Kunst machen, „früher süß, jetzt rabiat“ (118); und er unterliegt einer Folge von Selbsttäuschungen, was Lore angeht. Er ist geradezu begriffsstutzig, könnte man sagen, mit der Wildtaube, die ihn in das Gehölz Brand’s Haide locken will und dazu diese Worte verwendet: „Du Schtruhkupp – Du, Du!“ (155).

Um kurz zu zeigen, wie das erzählerisch funktioniert: Die Begrenztheit des Erzählers gegenüber Lore wird besonders durch die Fouqué-Anspielungen deutlich, also durch den Romantiker und Undine-Verfasser, dem Schmidt nach jahrelangem Materialsammeln (zusammen mit seiner Frau Alice) eine große Biographie gewidmet hat. Die Erzähler-Figur ‚Schmidt‘ nimmt seine Umgebung permanent durch die Brille seiner Fouqué-Kenntnisse wahr, wie Hans-Edwin Friedrich herausgearbeitet hat (Friedrich 2017, S. 276 f., 283). Eine besonders markante Passage: Er sitzt „vor der Tür auf dem Hocker im Sonnenschein“ (130), sieht sich Fouqué-Materialien durch, die er per Post von einem der Erben bekommen hat; Lore kommt hinzu:

Resolut holte sie sich einen Stuhl in das blitzende Licht. Setzte sich: neben mich ! „Hier will ich arbeiten !“ sagte sie (wie Undine: neben mich ! !)

Ich zitierte: „Leben ist ein Hauch nur…“ „Was ist Das ?“ fragte Schorsch nach einer Weile träumerisch bestürzt. Ich feixte nachlässig und schüttelte: „Nichts für Sie; oder einen Schlagerrefrain: ist bereits anderweitiges geistiges Eigentum.“ (131)

Der Erzähler sieht in Lores Satz „Hier will ich arbeiten“ eine Undine-Passage, damit das große Liebes-Einverständnis; es ist aber nun ganz unwahrscheinlich, dass Lore diesen Text kennt, für sie ist das einfach ein Alltags-Satz. Und auch der Erzähler hat seinen Fouqué keineswegs sicher parat. Hans-Edwin Friedrich und Peter Piontek haben nachgesehen, bei Fouqué ist es gerade umgekehrt: Der Ritter Huldbrand sitzt auf dem Stuhl, Undine setzt sich mit dem Satz „Hier will ich arbeiten“ zu seinen Füßen – auf einen Hocker. Der liebessehnsüchtige Erzähler verkennt die Situation also durchaus, er sitzt sehnsüchtig zu ihren Füßen auf dem Hocker, nicht umgekehrt (Friedrich 2017, S. 283; Piontek 1983, S. 10). Und wenn er dann auch noch zur Unterstreichung die Zeile eines Fouqué-Gedichts zitiert, ist alles zu spät: Diese Zeile konnte 1951 niemand kennen, sie ist erst 1958 veröffentlicht worden – im Anhang von Arno Schmidts Fouqué-Biographie, hier handelt es sich also allemal um eine Verletzung des Kooperationsprinzips bzw. des kommunikativen Paktes.Footnote 4 Nachdem der Reflekteur ‚Schmidt‘ die Unkenntnis und Reaktion seines Lore-Konkurrenten Schorsch tatsächlich aufnimmt, um ihn abzuwerten, ließe sich hier wohl doch von einer auch axiologischen Unzuverlässigkeit im Sinn von Köppe und Kindt (2014) sprechen (vgl. Aumüller 2018, S. 9): was für die zeitgenössischen Leser gilt, gilt für die Nebenfigur im Text erst recht, es ist mitnichten eine Schande, einen unveröffentlichten Fouqué-Text nicht zu kennen.

Ein Beispiel für eine ganz andere Strategie: Brand’s Haide enthält eine Reihe von längeren Texten, die von Sprache und Duktus her sich deutlich von der Reflexionsprosa des Ich-Erzählers unterscheiden, eingeschobene Fremdkörper. Drei von ihnen haben mit Fouqué zu tun; mindestens einer ist ebenfalls in Bezug auf Lore sehr irritierend. Der Erzähler liest den Frauen ein paar Seiten aus Fouqués Roman Alethes von Lindenstein (1817) vor, zwei Passagen von jeweils etwa vier Druckseiten der Werkausgabe; der erste Ausschnitt (181–184) beschreibt eine beklemmende Szene zwischen dem jungen Ritter Alethes bei einem wahnsinnigen Alten in dessen Wohnhöhle, die einen offenbar höllischen Untergrund hat. Der junge Mann verriegelt diesen Untergrund, dauerhaft, wie er meint – und vergeblich, wie ihm der Alte mitteilt, die Geister seien durch ein Tor aus Eichenholz nicht zu stoppen. Der Alte hält den Ritter für seinen Schüler, der er aber nicht ist, nur deshalb bleibt er freundlich. Eine zweite Passage schildert die Höllenfahrt der schönen jungen Mathilde (190–194), sie wird mühsam von einem Priester mit allerlei Zauberformeln wieder an die Oberfläche geholt, ist aber schon der Hölle verfallen, sie verspottet die entsetzte Gesellschaft und fährt wieder in den Untergrund, wo sie bleiben will.

Beide Episoden weisen Hohlwelten auf, einen unterirdischen Höllen-Raum, damit lassen sie sich auf Lores Abreise beziehen; auch sie wird in die (heiße) Hölle Lateinamerikas reisen und dem Protagonisten nicht mehr erreichbar sein, und sie will das auch so haben. Der zweite Text, durch die Mathilden-Figur, verdüstert das Bild der geliebten Lore, wenn man beide aufeinander bezieht, aber man muss es selber tun – es gibt keinen Hinweis von Schmidt (oder ‚Schmidt‘): Die Figur Schmidt weiß noch nicht von Lores Abreise, von der bevorstehenden Trennung, als sie den ersten dieser Höhlenwelt-Texte vorliest. Es ist also von der Perspektive der Figur her sinnlos zu sagen, es gebe auch schon beim ersten Auszug einen Lore-Bezug; allerdings ist wieder ihre Reaktion sehr irritierend, sie hört sich den Alethes-Ausschnitt an und sagt „düster und rätselhaft“: „Du tust mir leid. Mein Junge“ (184 f.). Der Erzähler sagt zwar: „ich verstand gleich etwas“, versteht aber offenbar nichts, obwohl er Lore „unheimlich in die Augen“ sieht. Grete fragt: „Wollen Wirs ihm nicht sagen…“ – er wischt das weg, will’s nicht wissen, vermerkt aber an dieser Stelle, Lore sei „wieder allein in Krumau gewesen“ (185). Die Wirklichkeit soll sich weiterhin seinen Wünschen anpassen. Am kommenden Tag erzählt Lore ihm, was passieren wird, und er liest die zweite Romanpassage – nun kann man ihm schon zubilligen, dass die Mathilde-Höllenfahrt-Episode eine indirekte Kommentierung seiner Freundin ist.

Es gibt noch eine ganze Reihe von Hinweisen in dieser Richtung, die deutlich machen, dass Lore gerade die Begrenztheit des Ich-Erzählers Schmidt zeigt; und dass das eine sorgfältig ausgearbeitete Strategie des Autors Schmidt ist – wenn man genau liest, gibt es schon auf der allerersten Textseite einen Hinweis, warum Lores Reisepläne in der Welt seiner Erzählerfigur gar nicht vorkommen können, der kann so etwas nicht denken, weil er dort der Meinung ist: „auswandern lassen sie uns nicht“ (117). Hier liegt also durchaus eine starke Distanzierung Arno Schmidts von seiner Figur Schmidt vor, und insofern ist gar nicht so klar, was von Lores Satz „Du bist der Letzte gewesen“ (189) zu halten ist, den sie ihm zum Abschied sagt, vielleicht lügt sie ihn barmherzig an oder verschweigt wieder etwas anderes. So viel in aller Knappheit; es handelt sich jedenfalls um mimetisch unzuverlässiges Erzählen, mit einigen Kooperationsbrüchen und wenigen axiologischen Widersprüchen.

5 Polyphonie durch Montage?

Es gibt noch andere Aspekte, die weit komplexer sind und die in diesem Rahmen nur noch angetippt werden können. Es gibt einen manifesten Anspruch auf Realismus in Brand’s Haide, der die Leserinnen und Leser freilich nicht vor massiven Fälschungen, neudeutsch ‚Fakes‘, bewahren kann. Ein Zeitbild mit vielen Details aus dem armseligen Flüchtlingsleben entsteht, in einem großen Repertoire an Stilhöhen, Textsorten, Bildungsgut, auch Albernheiten, die als solche instrumentiert werden – das Geraune um einen „Fritz Viereck“ etwa („Haben Sie im Lexikon nachgesehen ?“, 175) entpuppt sich als das Lob einer Stettiner Rumsorte. Heinrich Schwiers Handbuch zu Brand’s Haide braucht 300 Seiten, um Einzelstellen zu erläutern und Quellen zu klären (Schwier 2000). Schmidt spielt mit Prätexten, er integriert sie, spielt auf sie an, macht Eigenes damit, amalgamiert diese Fremdtexte. Sein Sprachduktus kann noch so viele solcher Details, Anspielungen, auch Sprachbrüche, fremdsprachlicher Partikel aufnehmen, dennoch wissen die Leserinnen und Leser nach spätestens zwei Zeilen, dass es sich eben um einen Schmidt-Text handelt. Das ließe sich nun als Dialogizität oder als Intertextualität abhandeln, unzuverlässiges Erzählen ist das nicht. Etwas wie eine wirkliche Polyphonie entsteht durch die längeren Fremdtexte, die beiden genannten Fouqués, ein weiterer dieser Texte stammt aus den Erinnerungen der Suzanne de Robillard, Fouqués Großmutter (133–135). Die Hugenottin erzählt von ihrer gelungenen Flucht aus Frankreich 1687, ihr Bericht steht isoliert ohne ausdrückliche Bezüge zur Brand’s Haide-Erzählung. Man kann sich überlegen, ob man ihn einer Fluchtphantasie zuordnen will, mit der ausbleibenden Trennung von einer nahestehenden Person; dennoch bleibt der Text etwas erratisch, offen. Spannender noch ist der „Bericht des Predigers Overbeck vom 11.10.1742“, den die drei Kirchenbuch-Lesenden dort finden und sich gegenseitig vortragen. Dieser Text hat eine eminent wichtige Funktion, er erklärt, warum die Dorfbewohner bis zum Jahr der Handlung 1946 das Waldstück Brand’s Haide unheimlich finden. Ein kleiner Ausschnitt muss wenigstens eingerückt werden:

Unterschiedliche Bauern instruiereten mich, daß man am heutigen Abend in Brands-Haide viele Lichter sehe, auch Stimmen hören könne, so daß gar das liebe Vieh in den Ställen unruhig sey und sich Kinder und Mägdgen nicht aus den Häusern traueten. Ich verfügte mich in Begleitung des adjuncti, Hrn. von Bock, sogleich auf den Kirchturm, wohin mir auch besagte Bauern mit Laternen und Dusacken [Prügeln] folgeten, um den casum zu untersuchen. Die Nacht war ungemein windstill, kühl, und, zumal über Brands-haide voll einiger Nebel, so aber die Sicht nicht sonderlich störeten: so observiereten wir in Richtung Krumau viele schweifende Lichter im Forst, deren Anzahl wir auf circa Fünf-Hundert ästimieren mußten; doch konnte selbst der v. Bock, so sich mit einem guten Dollond [einem Fernrohr] versehen hatte, nichts Näheres eruieren. (160)

Der Pfarrer meint, es müsse sich um Irrlichter handeln; in der Folge wird noch von einer Art Teufelserscheinung berichtet und von einem Knecht, der die Erscheinung in den Wald verfolgt hat und nie zurückgekehrt ist. Dieser Text stammt nun keineswegs vom Prediger Overbeck aus einem (z. B.) Cordinger Kirchenbuch, es handelt sich um einen Fake – auch dieser Absatz ist reiner Schmidt, zusammengesetzt aus alten Chroniken, Fouqué, Cooper, Schnabel, Storm, Sagen, Märchen und anderem (Schwier 2000, S. 174); der große Gestus des Authentischen will uns also gerade eine Fälschung andrehen. Ist das unzuverlässiges Erzählen? Wieder fallen die beiden Schmidts auseinander: der eine fälscht das – schon für den Titel des ganzen Textes zentrale – Dokument des 18. Jahrhunderts, der andere trägt es als echt vor. Textimmanent ist das aber nicht zu klären, und eine Beschränktheit der Figur lässt sich daraus auch nicht ableiten, vielmehr wird hier eine Voraussetzung der ganzen fiktionalen Erzählung statuiert.

Der letzte große abweichende Text nun, der Öreland-Traum, wird mit dem Satz eingeleitet: „Dies hab ich am 22.3. gegen Morgen get[…]räumt; kein Wort verstellt! (Wie auch die andern Träume im Leviathan! Bin ein Bardur in dieser Hinsicht.)“Footnote 5 Hier lässt der Autor Schmidt also seine Figur Schmidt auf den 1946 geschriebenen Erstling Leviathan des Autors Schmidt verweisen und behauptet, der Traum sei authentisch, ein Satz, der zudem den autobiographischen Pakt schließt und an dieser Stelle nun einmal ausdrücklich behauptet, Figur und Verfasser seien identisch. Nach den Erfahrungen mit Herrn Overbeck stinkt das nun ein bisschen gegen den Wind; wenn jemand so laut behauptet, etwas sei authentisch, ist es das bestimmt nicht. Zudem passt der Traum auch motivisch einfach zu gut in Brand’s Haide hinein: Es ist ein Text, der atmosphärisch an Hebels Kannitverstan (1808) erinnert, nur dass statt des vermurksten Holländisch (‚Ik kann niet verstaan‘) immer das Wort Öreland fällt, tatsächlich eine Halbinsel im norwegischen Trondheimsfjord. Es geht um den Neuanfang nach einer Sintflut (ähnlich dem Neuanfang der Brand’s Haide-Figuren nach dem Krieg), es gibt einen Alten wie in Brand’s Haide und in Fouqués Undine und obendrein noch einen möglichen Tagesrest des Protagonisten, am Ende will sich die Traumfigur Werkzeug beim Nachbarn borgen und hofft, ein paar Nägel geschenkt zu kriegen (127).

Bernd Rauschenbach hat für das Bibliothek Suhrkamp-Bändchen Traumflausn (2008) mit einigen Traumprotokollen Schmidts nachrecherchiert: Der Autor hat den Öreland-Traum am 29.12.1947 um 7 Uhr notiert, zweieinhalb Jahre vor dem Beginn der Arbeit an Brand’s Haide. Im Typoskript der Erzählung fehlt der Öreland-Traum, er ist als separates Manuskript der Druckvorlage beigelegt worden, auch in anderer Papierqualität; und Alice Schmidt notiert in ihrem Tagebuch, ihr Mann habe von einem Traum erzählt, den er vor Jahren geträumt habe und der „so rein paßt als ob er extra dafür erfunden wäre ‚So sehr paßt er, daß es mir geradezu peinlich ist‘“ (vgl. Rauschenbach 2008, S. 93 f.). Offenbar ist nun gerade der Traum, der unwahrscheinlichste der eingefügten Texte, tatsächlich ein authentischer ‚Fremd‘ text wie der von Suzanne de Robillard – von einem früheren Ich des Verfassers geträumt und in das fertige Typoskript nachträglich eingefügt.

Träume bei Schmidt sind ein großes Thema; es gibt auch noch ein Blatt Brand’s Haide, datiert auf den 31.3./1.4.1949, aus dem hervorgeht, dass der erste Einfall für die ganze Erzählung ein Traum gewesen ist, nun wieder ein anderer. Der Wirklichkeitsstatus all dieser Einfügungen ist in der erzählten Welt ganz unklar; es kommt aber noch besser: Wenn wir auf das allererste Entwurfs-Blatt zurückgehen, zeigt sich dort auch eine Figurenliste mit ein paar Merkwürdigkeiten (vgl. das Faksimile in Schmidt 2003, S. 26 f.). Außer den Flüchtlingen, dem Bäcker im Ort und dem Prediger Overbeck wird eine „Nymphe Cannae“ erwähnt, ein Waldgänger, „der hinein kann“, der Gärtner Auen, Wege, die sich im Wald verändern, wir sind im titelgebenden Waldstück Brand’s Haide angekommen. Es geht hier offenbar nicht mit rechten Dingen zu, „Der Elfenwald“ steht in der Überschrift, Kinder, die Steine hineinwerfen, werden geschreckt, ein Knecht gibt einem Ast die Hand (der sie im fertigen Werk nicht mehr loslässt, er schneidet sie ab und rennt mit dem blutenden Stummel durchs Dorf).

Brand’s Haide ist offenbar auch ein Elementargeist-Roman, ein Roman von Nichtmenschlichen, die in dem titelgebenden Waldstück leben. Prominent ist der Herr Auen, der auch mit Fouqué zu tun hat: Der Großvater seines ersten Hauslehrers trug diesen Namen. Gleich auf der ersten Seite zeigen sich Ungewöhnlichkeiten, die man zunächst überliest: Der Alte, den das Ich ständig trifft, scheint auf den zweiten Blick nicht recht menschlich, und wenn er beifällig dem Ich recht gibt und sagt: „Es hat viel zu viel auf der Welt: Menschen“ (117), klingt das ganz anders, als wenn man einen menschlichen Sprecher annimmt. Er kommt und verschwindet blitzartig; er leiht ‚Schmidt‘ Besen und Schaufel, die markant wieder abgeholt werden: der Protagonist soll sie an einen bestimmten Wacholder stellen: „Ich ging, langsam, mit queren Querulantenaugen […] Sah wieder zurück: klein lehnte es am zufriedenen Busch. Auf der Straße. […] Wieder den Kopf rum: – weg war es ! Da kann man fertig sein.“ (123) Der Erzähler bekennt hier sozusagen seine Begrenztheit gegenüber dem Alten, auch hier entspricht er keineswegs dem Klischee vom allwissenden, superioren Schmidt-Protagonisten. Der Alte verteilt Blätter im Waldstück, statt sie einzusammeln, er ist offenbar für die Natur an diesem Ort, für Brand’s Haide zuständig, ein Gärtner eben. Und er wünscht dem Protagonisten für die Kirchenbuch-Lektüre „viel S-paß noch für den Herrn Auen“ (142), eine Bemerkung, die sich der Erzähler nicht erklären kann, schließlich hatte er selbst den Namen noch gar nicht erwähnt.

Der Alte unterstützt den Erzähler, er weiß schon, als Lore und Schmidt zusammengehen, dass sie ihn im Oktober verlassen wird; seine ‚Kunstwerke‘ sind vorbildlich, „meisterhaft, meisterhaft“, kommentiert der Erzähler ein Ahornblatt aus dem Karren, das er gegen das Licht hält: „Und welche Verschwendung ! Der muß es dicke haben !“ (117) Unter der Ägide des Alten wird der Protagonist tatsächlich vom Flüchtling und Fouqué-Biographen zum Poeten, zum Orpheus. Der Alte kennt Fouqué und Undine, den historischen Autor wie die erfundene Figur – nicht als Text, sondern beide als Personen! Schließlich ist Undine auch ein Elementargeist, und die kennen sich eben untereinander – „die Undine kennt jeder von uns erementaschen hier“ (118). Der Hörfehler des Protagonisten erklärt sich auf diese Weise: jeder von ‚uns Elementarischen hier‘. Es gibt neben dem Alten noch eine Reihe von Neben-Geistern, zum Teil sehr kurz erwähnt, einen Wetter-Geist und andere. Der Alte weiß von dem Herrn Auen, weil auch der ein Elementargeist und Gärtner ist – er scheint selbst dieser Großvater von Fouqués Hauslehrer zu sein.

Johann Wilhelm Auen ist also, Brand’s Haide und der Figur Schmidt zufolge, ein Elementargeist; das führt aber nun dazu, dass der Autor Schmidt in seiner Biographie Fouqué und einige seiner Zeitgenossen (1958) – einem faktualen, nicht fiktionalen Text! – in der Auen natürlich vorkommt, dessen Lebensdaten nicht nennt: Ein Elementargeist hat schließlich keine.

6 Unzuverlässigkeit als Weltanschauung

Ist das nun unzuverlässiges Erzählen? Ein Autor, der unentwegt darauf hinarbeitet, Wirklichkeitsebenen zu verwischen, der offen lässt, ob seine Figur Schmidt halluziniert oder ob es tatsächlich eine andere phantastische Welt neben der unseren gibt, der in dieser Weise Anomalien inszeniert? Der nicht mitkriegt, dass seine Freundin und Geliebte, während sie mit ihm zusammenlebt, für sich selbst eine ganz andere Zukunft betreibt und dann auch wirklich organisiert, in der er nicht vorkommt? Der permanent das Kooperationsprinzip verletzt – und auch freilich andernorts zugibt, dass „ver = schlüsseln […] um 500 %, und fast unanständig, leichter“ sei „als das Wieder = Entschlüsseln !“ (Schmidt 1991, S. 55).

Unzuverlässig vielleicht in einem anderen Sinn als dem mimetischen, den die Pilotstudie von Matthias Aumüller angeboten hat: im Sinn einer weltanschaulichen Position, die bei Schmidt aber gleichzeitig eine poetische Position ist. Natürlich kann man sagen, alle diese ‚phantastischen‘ Stellen seien so codiert, dass sie eine naturwissenschaftliche Lesart hergeben: der gute ‚Schmidt‘ spinnt, er hat zu viel Fouqué gelesen und sieht überall Elementargeister, die es natürlich nicht gibt, wie wir wissen. – Das wäre mir eine zu studienrätliche Auflösung, eine Zeitblomsche, wenn man so will. Für mich stecken hier zwei Möglichkeiten: – Zum einen: Brand’s Haide erzählt subjektiv und ad personam eine Schriftstellerwerdung, eine Initiationsgeschichte, die gerade durch die Mythologie- und Elementargeister-Schicht auch wieder geöffnet wird. Ein bisschen tongue in cheek verweist diese Schicht auch auf die romantisch-epigonalen Juvenilia Arno Schmidts. Wir steigen durch die Zeiten bis zurück zum Mythos und zu Märchen, Fouqué ist vor allem als Erzähler des Kunstmärchens Undine und des Märchenromans Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein präsent, von der Antike bis heute. Wir können auch unsre eigenen (Mangel-) Erfahrungen einhängen: In Brand’s Haide werden zwar die der Nachkriegszeit vergegenwärtigt; aber eben auch Kindheitserfahrungen, Einschränkungen anderer Art – irgendeine Art von Mangel hatte vermutlich in Kindheitszeiten Jeder, Jede trägt ihre Einschränkungen mit sich herum, wir alle brauchen den Hall- und Reflexionsraum der Kunst, Musik, Literatur, um diese Defizite auszugleichen. Die Unzuverlässigkeit, das Löchrige, Offene des Textes (auch durch die Fremd-Einspielungen) zeigt uns, wie uns die Künste retten könnten. Das ist eine recht optimistische Lesart, um nicht zu sagen eine rosenroth-kitschige, so ist aber der Schluss des Textes keineswegs instrumentiert. Das Kunst-Machen-Müssen, nachdem die große Liebe abgereist und die willige, sekretärinnenhafte Freundin solidarisch zurückgeblieben ist, bedeutet für diesen Protagonisten äußerstenfalls den zweitbesten Lebensentwurf.

Zum anderen, die etwas düsterere Auffassung: Erzeugt Unzuverlässigkeit nicht auch eine äußerst skeptische Sicht auf Wirklichkeit und auf unsere Möglichkeiten, sie aufzufassen, einen „epistemologische[n] Skeptizismus“ (Bläß 2005, S. 196)? Die erste Person Singular als „Mittel […], etwas durch den Text zu zeigen, was der, der im Text ‚Ich‘ sagt, selbst nicht sieht“? (Reemtsma 2006, S. 179) Schmidt erzählt so, als seien alle Zeiten und Welten gleich unmittelbar vorhanden, die politische, geschichtliche Welt wie die der Geister, die historische wie die gegenwärtige, die Fouqués so wie seine eigene, die poetische wie die wirkliche. Der veritable (mindestens:) doppelte Boden, der hier konsequent eingezogen ist, wird noch verstärkt durch Anspielungen auf den Mythos: Nach dem Sündenfall (der Aufnahme einer sexuellen Beziehung?Footnote 6) wird ‚Schmidt‘ zu Orpheus, Lore zu Eurydike, deshalb muss der dritte Teil fortlaufend Untergründe, Hohlwelten, Höllen benennen, und deshalb wird das Paar auch scheitern. Orpheus bleibt im Mythos bekanntlich allein, ein singender Kopf am Ende. Damit radikalisiert Schmidt, was Fouqué mit seinem Nixenmärchen Undine erreicht hat, der hier eben gar kein Kitschromantiker ist: „Das Vertraute wird fremd, das Fremde und Befremdliche erweist sich als allgegenwärtig.“ Fouqués Erzählung, so Monika Schmitz-Emans, tue „harmloser, als sie ist. Genau gelesen, erzählt sie von der Erschütterung des menschlichen Bewußtseins durch die Gegenwart und die Macht einer gänzlich fremden Welt, in der Mächte bestimmen, die der Mensch nicht einmal durchschaut, geschweige denn beherrscht“ (Schmitz-Emans 1997, S. 197). Ein paar Jahre später, im Roman Das Steinerne Herz (1956), hat Schmidt seinen Protagonisten sagen lassen: „Ich fasse nicht genug ! Gemüt zu klein: ne Gemeinheit des Herstellers !“ (Schmidt 1986, S. 27). Schmidts permanent unzuverlässiges und metaleptisches Erzählen, das sich sogar ins Sachbuch, in die Biographie Fouqués hinüberzieht, könnte sich genau so lesen lassen: als Vorführung der menschlichen kognitiven Beschränktheit, unserer unzuverlässigen Möglichkeiten der Wahrnehmung, aus der wir nicht herauskommen.