Nach 1989 waren die Erwartungen groß, die Schubladen ostdeutscher Schriftsteller seien mit all den Texten gefüllt, die sie in der DDR nicht veröffentlichen konnten, aber – Dissidenten, die sie sein sollten – geschrieben hatten. Daraus sprach vielleicht die Neugier auf eine ‚andere‘ Literatur (vgl. Arnold 1990), sicher aber ein gewisser Überdruss an der bundesdeutschen Gegenwartsliteratur, deren historische Erschöpfung in der Wohlstandsstagnation der 1980er Jahre einige KritikerInnen satt hatten (vgl. Radisch 1998), und die etwas romantische Vorstellung einer Literatur, die unabhängig von ihren Erscheinungsbedingungen einfach entsteht. Die Schubladen aber, in denen man in den 1990er Jahren kramte, erwiesen sich im Wesentlichen als leer.

Trotzdem gab und gibt es in Bezug auf die sogenannte DDR-Literatur Entdeckungen zu machen. Es sind Bücher, die zwar mit dem Segen der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel erschienen waren, die aber aufgrund fehlender Presse in der DDR und in der BRD – die ja auch einen Anerkennungsfaktor für Bücher aus der DDR darstellte – geringer Auflagenzahl oder anderweitig erschwerter Zugänglichkeit im Buchhandel, wenig Aufmerksamkeit erfuhren und die auch nach 1989 den Erwartungen an verbotene, dissidentische Bücher nicht entsprachen.

Zu diesen Büchern gehört die Erzählung Der siebente Brunnen von Fred Wander, die 1971 in der DDR und 1972 in der BRD erschienen war, aber aus unterschiedlichen Gründen hier wie dort ein Geheimtipp blieb. In der DDR wurde die Erzählung mehrfachFootnote 1 und teilweise prominent, u. a. von Christa Wolf (1972) und Irmtraud Morgner (1973) besprochen und ihr Autor mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet. Die Laudatio bei der Preisverleihung in der Berliner Akademie der Künste hielt Eduard Claudius.Footnote 2 Trotzdem erreichte sie, auch weil die Auflage mit 5000 Exemplaren klein gehalten wurde, kein größeres Publikum. In Alfred Wellms Roman Morisco heißt es:

Wir sprachen stundenlang über Jaschko [sic!] und seine Brüder, die mit den anderen Kindern in der Baracke eines Todeslagers lebten. […] Wie kommt es, sagte Anna, daß man über manche Bücher gar nichts hört, man nichts in den Zeitungen liest, während andere Bücher, die unglaubwürdig sind und uns gar nicht berühren, weil die Menschen in ihnen keine Wahrheit haben, gelobt werden und viele Rezensionen haben? (Wellm 1987, S. 111 f.)

Erst in den 1990er Jahren, im Kontext der steigenden Aufmerksamkeit für den Holocaust und die Literatur, die er hervorgebracht hatte, wird die publizistische Arbeit an Wander dichter. 2005 greift der Wallstein-Verlag mit der Neuauflage von Der siebente Brunnen als „Roman“ diese Entwicklung auf. Wanders Text wird nun in eine Reihe mit den Texten Levis, Kertész’ und Semprúns gestellt (vgl. Böttiger 2005; Deiss 2005; Meller 2005).

1 Ein unzuverlässiger Erzähler ohne unzuverlässige Erzählung

Die Marginalisierung der Erzählung Der siebente Brunnen in der DDR hing mit ihrem Gegenstand zusammen. Wander, der als Jude von den Nationalsozialisten verschleppt worden war, kehrte nach dem Ende seiner Gefangenschaft zunächst nach Wien zurück und übersiedelte 1958 in die DDR. In seinem Text erzählt er eine Deportationsgeschichte durch unterschiedliche nationalsozialistische Lager aus einer jüdischen Perspektive. Sie endet im Konzentrationslager Buchenwald, dem für die antifaschistische Legitimationserzählung der DDR zentrale Bedeutung zukam. Diese Bedeutung manifestierte sich 1958 in der Eröffnung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald und fand erzählerischen Ausdruck in Bruno Apitz’ im selben Jahr erschienenem Roman Nackt unter Wölfen, der in der DDR lange als historisch verbindliche Lagererzählung betrachtet wurde. Der Roman über die Rettung eines jüdischen Kindes und die Befreiung des Lagers durch kommunistische Häftlinge war praktisch im Moment seines Erscheinens zur hegemonialen Erzählung geronnen.Footnote 3

Dem Bild des Lagers, das Apitz’ Roman festschrieb, entsprach Wanders Darstellung nicht. Eine ganze Reihe von erzählerischen Entscheidungen Wanders können geradezu als Einwand gegen Apitz gelesen werden.Footnote 4 Apitz erzählt von politischen Häftlingen und siedelt die Handlung im sogenannten Großen Lager an, in dem sich die Haftbedingungen von denen des Kleinen Lagers stark unterschieden. Gerade in der Endphase des Lagers, von der beide Texte erzählen, waren hier vor allem jüdische Häftlinge, die aus den aufgelösten Lagern in Polen nach Deutschland deportiert worden waren, unter katastrophalen Umständen untergebracht.Footnote 5 Jüdische Häftlinge tauchen bei Apitz nur in der Gestalt des zu rettenden Kindes auf und als anonyme, morbide Arabeske am Rand des politischen Kampfes.Footnote 6 Die Erzählung endet mit der Rettung des Kindes und der triumphalen ‚Selbstbefreiung‘ des Lagers durch die Häftlinge unter Führung des Internationalen Lagerkomitees. Wander entwirft schon topographisch eine Gegenerzählung, indem er sie im Kleinen Lager und damit auch unter den jüdischen Gefangenen ansiedelt. Er erzählt vom Überleben mehrerer Kinder, was der Geschichte des Lagers besser entspricht,Footnote 7 die ihr Überleben eher sich selbst und ihrer Skrupellosigkeit verdanken als den Anstrengungen politischer Kollektive. Die Befreiung des Lagers registriert der Erzähler eher am Rand, ungläubig und im Zustand der Agonie, ohne sie genau einordnen zu können.

Die Differenzen zwischen beiden Büchern zeigen sich auch auf der Ebene der narrativen Mittel, die sie wählen, und des Geltungsanspruchs, den sie damit erheben. Apitz lässt seinen Roman von einer nullfokalisierten, heterodiegetischen Instanz erzählen, die in den Kopf jedes Häftlings und jedes SS-Mannes und in jeden Winkel des Lagers zu blicken vermag. Er wählt also eine Erzählinstanz, die unzuverlässiges Erzählen sehr unwahrscheinlich macht. Zwar wird die Unzuverlässigkeit impersonaler ErzählinstanzenFootnote 8 wie diejenige in Apitz’ Roman heute nicht mehr kategorisch ausgeschlossen, aber es ist doch immerhin umstritten, ob diese Möglichkeit für derartige Instanzen überhaupt besteht (vgl. Ohme 2015, S. 131 f.).Footnote 9 Unsicheres Wissen gibt es bei Apitz eigentlich nur aufseiten der SS, während die Häftlinge, wenigstens die führenden des Internationalen Lagerkomitees, ebenso wie die Erzählinstanz über alle Vorgänge im und, sofern es den Vormarsch der alliierten Truppen betrifft, auch außerhalb des Lagers im Bilde sind. Die Identifikation des Lesers mit den Helden des Buches wird jenseits des Konsenses, der in Bezug auf bestimmte ethische Einstellungen bestehen mag, wesentlich dadurch vollzogen, dass der Leser und die kommunistischen Häftlinge Bescheid wissen, während die SS das nicht tut.

Um diesen Anspruch auf Objektivität aufrechtzuerhalten, nimmt Apitz sogar eklatante Widersprüche zu seiner Zeugenschaft in Kauf, die als Autorisierungsstrategie gleichwohl paratextuell mit geführt wird. An zwei Details lässt sich das auf eine besonders dramatische Weise beobachten. Um nämlich erstens auch die Darstellung des Bewusstseins der SS-Leute durch Zeugenschaft zu rechtfertigen, muss sich Apitz, der vormalige KZ-Häftling, mit den SS-Leuten seines Romans identifizieren: „Ich war auch der Reinebothe, ich war auch der Kluttig“ (zit. n. Sauter 1982, S. 148). Diese v. a. im kultur- und erinnerungspolitischen Kontext der DDR kuriose Aussage wird nur fabriziert, um – wie paradox auch immer – auf Zeugenschaft bestehen zu können. Natürlich erfüllt der Satz auch einen populären, wenngleich apokryph überlieferten Topos der realistischen Romanliteratur. Schon Flaubert wollte Madame Bovary gewesen sein.Footnote 10 Was Apitz allerdings zeigt, indem er Flauberts Satz aufnimmt, ist das Spannungsverhältnis von Zeugenschaft und realistischer Erzählung. Zweitens gehörte Apitz zu einer Gruppe von 47 Funktionshäftlingen des Lagers Buchenwald, die als besonders exponierte Zeugen in den letzten Tagen ermordet werden sollten. Weil die Häftlinge Kenntnis von diesem Plan hatten, konnten sich alle 47 verstecken und das Lager so überleben. Apitz selbst überlebte in einem Kanalschacht (vgl. Hantke 2018, S. 116). Die Geschichte dieses Verstecks nimmt er zwar in seinen Roman auf, ordnet sie aber dem stellvertretenden Lagerältesten Pröll zu, während seine Erzählstimme in keiner Weise von dieser Einschränkung seiner Zeugenschaft, die ja notwendig mit seinem Versteck einhergeht, und v. a. die in der Folge umstrittene Darstellung der Befreiung des Lagers betroffen hätte, berührt wird.

Wanders Erzählung hingegen arbeitet mit einer ganz anderen Erzählinstanz. Sie stellt sich sowohl grammatisch als auch epistemologisch auf den Standpunkt des Zeugen. Sie sagt von Anfang an „Ich“, wenngleich dieses Ich anonym bleibt. Der Ich-Erzähler kann nicht mit Wander identifiziert werden.Footnote 11 Wander selbst hat gelegentlich Anstoß an der ‚Verwechslung‘ des „Autor[s] mit dem Erzähler“Footnote 12 genommen. Zwar teilt er mit seinem Erzähler die Stationen der Deportation: Drancy, Perpignan, Beuthen, Hirschberg, Buchenwald, Crawinkel. Die Anonymität des Ich-Erzählers macht die Identifikation mit Wander möglich. Und die Gattungsbezeichnung Erzählung lässt im Gegensatz zum ‚Roman‘ die Möglichkeit der faktualen Erzählung wenigstens in einem gewissen Umfang offen. Indes ist es textlogisch so, dass durch die Anonymisierung des Ich-Erzählers der ‚autobiographische Pakt‘ (Lejeune) mit dem Leser nur unvollständig geschlossen wird, da sich autobiographische Texte durch die Identität des Autors, des Erzählers und des Protagonisten der Erzählung auszeichnen. Wenigstens die Identität von Autor und Erzähler aber wird offengelassen, indem der Name des Erzählers nicht genannt wird. Es kann sich um den Autor handeln, muss es aber nicht. Durch die (potenzielle) Nicht-Identität von Autor und Erzähler verschafft sich der Text auch den Spielraum der Fiktion. Das Ich, das in der Konvention des autobiographischen Textes auf ein bestimmtes reales Subjekt verweist, geht dann also potenziell über die Erfahrungen dieses Subjekts hinaus und kündigt damit den Anspruch streng faktualen Erzählens auf.

Weil Ich-Erzähler den subjektiven Beschränkungen des Wissens und der Wahrnehmung unterliegen, stehen sie natürlich fast zwangsläufig im Verdacht der Unzuverlässigkeit (vgl. Nünning 1998, S. 9; Ohme 2015, S. 130), wenngleich die bloße Tatsache subjektiver Beschränktheit noch keinen unzuverlässigen Erzähler macht. Als unzuverlässig können solche Erzähler nur dann betrachtet werden, wenn der Text den Leser begründet daran zweifeln lässt, dass der Erzähler seinen Gegenstand im Rahmen der in der erzählten Welt gültigen epistemischen und ethischen Regeln wiedergibt. Zweifel an der Zuverlässigkeit des Erzählers können durch logische Widersprüche, falsche oder unvollständige Informationen des Erzählers und/oder durch die Charakterisierung des Erzählers hervorgerufen werden. Bei Wander ist Letzteres der Fall. Sein anonymer Ich-Erzähler charakterisiert sich gleich im ersten Kapitel selbst, indem er dem Leser einen anderen Erzähler – Mendel Teichmann – vorstellt. Teichmann ist kein Schriftsteller, sondern ein Erzähler, der die Erzählung als Form der sozialen, mündlichen Unterhaltung beherrscht und der mit dieser Fähigkeit offensichtlich großes Ansehen unter seinen Mithäftlingen genießt. Von diesem Teichmann möchte der Erzähler das Erzählen lernen. Tatsächlich weist ihn Teichmann in diese Kunst ein. Er erzählt ihm die Geschichte eines jungen Mannes, der seinerseits von ihm – Teichmann – das Erzählen habe lernen wollen und sein erzählerisches Unvermögen damit begründet, dass er noch nichts erlebt habe. Er wohne schließlich sein Leben lang in demselben, schäbigen Haus. Just aus diesem Hinweis entwickelt Mendel Teichmann auf den folgenden Seiten eine Erzählung über das Haus, in der er detailliert und ausgesprochen plastisch auf dessen Bewohner und deren Verhältnis zueinander eingeht. Dass er selbst das Haus nie gesehen hat, spielt dabei überhaupt keine Rolle:

Was ist nun mit dem Haus, sage ich verwirrt und bemüht, das Schweigen zu brechen. Das alles haben Sie dort gesehen, in jenem Haus, in dem dieses Bürschlein wohnte? Mendel schaute mich erschrocken an: also Du hast nichts verstanden. Ich rede und rede und du verstehst mich nicht. Ich war nicht draußen, wo er wirklich wohnte. Ist es denn so wichtig, dieses Haus, jenes Haus … (Wander 1971, S. 13)Footnote 13

Die Passage hat im Text ganz unterschiedliche, auch dramaturgische Funktionen, da ihre fast spielerische Harmlosigkeit die außerordentlich brutale und empathieintensive folgende Passage um den Tod Jossls, eines jungen polnischen Juden, scharf konturiert. Eine ihrer Funktionen besteht darin, den Erzähler zu charakterisieren, sowohl den Erzähler Mendel Teichmann, als auch den anonymen Ich-Erzähler, der nach Mendels Tod an dessen Stelle treten wird.Footnote 14 Es handelt sich scheinbar um einen Erzähler, dem nicht recht zu trauen ist, weil er die Frage, ob seine Erzählung der Wahrheit entspricht oder nicht, für unwichtig hält. Er erfüllt also ein wichtiges Merkmal dessen, was man als unzuverlässigen Erzähler bezeichnet.

Typologisch handelt es sich um einen offen unzuverlässigen Erzähler (vgl. Köppe und Kindt 2014, S. 245–250),Footnote 15 also weder um einen Erzähler, der aufgrund seiner intellektuellen Beschränktheit als Wahnsinniger, Säufer oder Kind seine Unzuverlässigkeit gar nicht offenzulegen vermag, noch um einen Erzähler, der seine Unzuverlässigkeit intentional nicht offenlegt, weil er den Adressaten seiner Rede täuschen will. Natürlich enthält der Text tatsächlich Erfindungen. Die partielle Fiktivität Mendel Teichmanns – und die Funktionalität der Figur im Text hätte auch kaum etwas anderes vermuten lassen – hat Wander selbst eingeräumt.Footnote 16 Allerdings stellt sich die Frage nach der Unzuverlässigkeit normalerweise ohnehin nur hinsichtlich der textimmanenten Darstellung von Wirklichkeit und nicht hinsichtlich dessen, was textextern der Fall gewesen sein mag oder nicht. Deshalb irritiert am Bekenntnis des Erzählers, dass wir in seinem Text kaum Spuren mimetischer UnzuverlässigkeitFootnote 17 finden, die darauf hinweisen könnten, dass sich die ‚Wirklichkeit‘ gegen ihre Erzählung bemerkbar machte. Der Text bietet also keine alternative Wirklichkeit zu jener an, die uns vom Erzähler erzählt wird. Der Erzähler markiert seine Unzuverlässigkeit, ohne uns textimmanent Anlass zu der Vermutung zu geben, dass er tatsächlich unzuverlässig erzählt. Da, wo er die Lizenz zur Erfindung tatsächlich in Anspruch nimmt, wie im Fall der Hinrichtung Tadeusz Molls, wird das im Text noch einmal ausdrücklich vermerkt. Was Tadeusz Moll in der letzten Nacht vor seiner Hinrichtung durch den Kopf geht und worüber er mit den anderen Verurteilten gesprochen hat, kann der Erzähler nicht wissen, und von denen, die bei ihm sind, kann er es, da sie mit Moll sterben, auch nicht erfahren. Auf die Frage nach seinen Gedanken gibt es also nur eine „fiktive Antwort“ (119).

Warum aber stellt der Erzähler sein gesamtes Erzählen unter den Vorbehalt der Unzuverlässigkeit, wenn er dann gar nicht unzuverlässig erzählt und die Erfindung da, wo sie aus epistemologischen Gründen ohnehin unvermeidbar ist, eigens ausweist? Es scheint in der Sache der Holocaust-Literatur zu liegen, dass sich diese Frage nicht allein mit Blick auf den Erzähler beantworten lässt. Während sich die Frage der Unzuverlässigkeit normalerweise nur in Bezug auf die fiktive Welt und das Verhältnis des Erzählers zu ihr stellt, ist diese Literatur eine, die ihrem Gegenstand gegenüber immer in gewisser Weise rechtfertigungsbedürftig bleibt und von der Mehrzahl der Leser auch so gelesen wird (vgl. Langer 1995, S. 75–88). In der Regel schließen Leser selbst dann, wenn ein Text über den Holocaust als Erzählung oder als Roman ausgewiesen wird, also Gattungsbezeichnungen führt, die als Fiktionssignal gelesen werden können, nur einen eingeschränkten Fiktionsvertrag oder einen Fiktionsvertrag unter Vorbehalt. Wir wissen, dass der Autor weiß, dass er nicht vollständig von einem gewissen Rechtfertigungsdruck gegenüber der historischen Wirklichkeit des Ereignisses entbunden ist. Das gilt umso mehr, als viele dieser Autoren wie Imre Kertész, H. G. Adler oder Elie Wiesel auch als Zeugen auftreten und sich ihre Autorimago insofern von derjenigen anderer Autoren unterscheidet (wenngleich man sich heute natürlich Gedanken darüber machen könnte, inwiefern das Paradigma der Zeugenschaft Autorschaft prinzipiell verändert hat). Es gehört also zu den spezifischen Rezeptionsregeln der Holocaust-Literatur, dass das Urteil über die Zuverlässigkeit des Erzählers textexternes Wissen einbeziehen kann. In Bezug auf dieses Wissen mag es durchaus einen Widerspruch zwischen Erzählung und Wirklichkeit geben, der dem Autor als Erzähler zur Last gelegt werden könnte und der deshalb durch die Selbstanzeige der Fiktion abgefedert werden muss.

Das gilt umso mehr, als Wanders Text noch in einer Zeit der Zeugenkonkurrenz entsteht. D. h., es gibt nicht nur Leser mit einem sekundären Wissen über die Lager, sondern auch solche, die glaubwürdig behaupten können, ein primäres Wissen zu haben. Das ist eine Rezeptionssituation, die sich heute stark verändert hat, da es unter den Lesern kaum noch Zeugen gibt. Für Wander aber galt sie in der DDR umso mehr, als sein Text unter dem Druck der antifaschistischen Erinnerungshegemonie stand, der sich auf die Wahrnehmung, ja selbst auf die Publikation der Bücher in bedeutendem Maß auswirkte. So war es etwa in den 1950er Jahren ehemaligen kommunistischen Buchenwaldhäftlingen möglich, die Erinnerungen des Juden Rolf Weinstock derart zu diskreditieren, dass das schon gedruckte Buch vom Verlag wieder zurückgezogen wurde. Der Angriff auf das Buch galt der Darstellung des antifaschistischen Buchenwald-Gedenkens, der Befreiung des Lagers und der Bedeutung des illegalen Lagerwiderstands und er wurde durch einen ausgesprochen perfiden Angriff auf die Person des Autors lanciert: „Daß einer als ‚Mülltonnenadler‘ sich betätigte, läßt ihn als Autor eines Buchs über Konzentrationslager nicht besonders geeignet erscheinen“, schrieb Stefan Heymann (1945), der bereits in Buchenwald zum Parteiaktiv der KPD gehörte und später als SED-Funktionär, Botschafter der DDR in Ungarn bzw. Polen und Professor eine starke Sprecherposition innehatte.Footnote 18 Anders gesagt: Die spezifische Situation, in die Weinstock als Jude geriet, der gerade in der Endphase des Lagers Buchenwald sehr viel schlechteren Versorgungsbedingungen unterlag als Angehörige anderer Häftlingsgruppen,Footnote 19 machte ihn als Autor unzuverlässig. Weinstock selbst hat auf diesen Angriff reagiert und nicht nur die gegen ihn erhobenen Vorwürfe der verzerrten Darstellung des Lagers bestritten, sondern auch deutlich gemacht, dass die Sprecherposition des vormaligen Funktionshäftlings Heymann (vgl. Niethammer 1994, S. 503 f.), ihrerseits Beschränkungen unterliegt: „Ich gehörte nicht zu jenen, die das Glück hatten, von den Schreibstuben und sonnigen Stellen aus sich vor Kälte und Hunger zu schützen.“Footnote 20 Heymann, so der Vorwurf, gehörte zu den ‚Privilegierten‘ des Lagers. Sein Urteil ist nicht einfach dem Lager geschuldet wie es ‚wirklich‘ war, sondern den relativen ‚Privilegien‘, die er in ihm genoss.

Die Angriffe auf Wander werden etwas respektvoller vorgetragen, funktionieren strukturell aber ähnlich als Angriff auf die Zuverlässigkeit des Autor-Erzählers. Eine Gruppe ehemaliger politischer Buchenwald-Häftlinge kritisiert, dass Wander die Lizenz zur Fiktion überstrapaziert habe, wobei sie wiederum an der Darstellung der Endphase des Lagers Anstoß nehmen. Weil der Lagerwiderstand die Kontrolle über das Lager gehabt habe, sei es zu chaotischen Zuständen, wie sie Wander schildere, nicht gekommen:

Es scheint offensichtlich, daß Du erst in den letzten Tagen in einem Massentransport ins Lager kamst. Und es ist zu vermuten, daß die erwähnte Fleckfiebererkrankung Erlebnisse der verschiedenen Konzentrationslager in Deinem Gedächtnis durcheinander gebracht hat.Footnote 21

Also eine klassische Indikation für unzuverlässiges Erzählen: geistige Beschränkung durch Krankheit. Wanders kurze Antwort auf diesen Brief reagiert auf die systematische Verknüpfung von operativer Hoheit im Lager und epistemischer Hoheit im Rückblick auf das Lager, die von seinen Kritikern hergestellt wurde. Und indem er die eine bestreitet, untergräbt er auch die andere:

Wovon reden wir eigentlich? Von einer Wohlfahrtseinrichtung der illegalen KPD oder von einem Konzentrationslager […]? […] Wer könnte behaupten, es habe keine von der illegalen Parteiorganisation kontrollierte [sic] Ereignisse gegeben, das ist doch absurd!Footnote 22

Wander stellt den epistemischen Anspruch des organisierten kommunistischen Erinnerungskollektivs infrage, indem er daran zweifelt, dass der Lagerwiderstand in den letzten Tagen des Lagers Herr der Lage gewesen sei.

Dabei macht die Rezeptionssituation solcher Texte in der DDR vielleicht nur deutlich, was für Texte über den Holocaust auch über die DDR hinaus gilt: Es ist eine inzwischen einigermaßen verbreitete fiktionstheoretische Annahme, dass die Unterscheidung zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen immer nur als konventionalisierte „soziale Praxis“ verstanden werden kann (Köppe 2014, S. 35), die sich weder notwendig und ausschließlich aus den Eigenschaften des Textes noch aus dem ontologischen Status der von ihm erzählten Ereignisse ergibt. Schlechter erforscht ist, wie sich eine solche Praxis eigentlich ausbildet, wohl auch deshalb, weil man bei ihrer Beschreibung meint, „von bestimmten Schlüssen vom Text auf Sachverhalte in der Wirklichkeit absehen“ zu können (Köppe 2014, S. 35). Offenbar ist es nicht einfach so, dass die Praxis des Unterscheidens einmal etabliert und dann immer wieder angewandt wird, vielmehr hängt sie auch von bestimmten Themen und medialen Veränderungen ab, die die Notwendigkeiten und die Möglichkeiten der Unterscheidung herausfordern. In der Geschichte der sogenannten Holocaust-Literatur fällt auf, dass an ihrem Anfang eben mehrheitlich faktuale Texte stehen und die großen Fiktionen des Holocaust zumeist erst später entstehen. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich die Praxis des Unterscheidens zwischen fiktionalem und faktualem Erzählen in Bezug auf den Holocaust erst ausbilden muss und nicht einfach so, wie sie in Bezug auf andere Genres bereits existiert, angewandt werden kann. Insofern reagiert Wanders Text auf eine Situation, in der sich der institutionelle Rahmen der Unterscheidung – unter sehr speziellen ideologischen Bedingungen – noch nicht ausgebildet hat.Footnote 23

Dass Wander also mit der Figur Mendel Teichmanns ein Bekenntnis zum unzuverlässigen Erzählen ablegt, obwohl sein Erzähler dann gar nicht unzuverlässig erzählt, hängt wohl auch damit zusammen, dass er mit einem Leser rechnen muss, der von einer Holocaust-Erzählung faktische Wahrheit erwartet und es deshalb für angemessen hält, den Text mit historischer Wahrheit abzugleichen. Daraus resultiert der Verdacht potenzieller Unzuverlässigkeit, der indes textimmanent nicht sichtbar gemacht werden muss, weil sie sich ohnehin nur aus textexternen Wirklichkeitsannahmen ergibt.

2 Die Epistemologie des Holocaust

Darüber hinaus gibt es aber durchaus textimmanente Gründe für die Selbstanzeige der Unzuverlässigkeit, Gründe also, die sich zunächst aus dem Verhältnis des Erzählers zu den von ihm erzählten Ereignissen ergeben, ohne dass dazu in irgendeiner Weise auf den Autor Bezug genommen werden müsste. Die Antwort auf die Frage, warum sich ein Erzähler als unzuverlässig markiert, der dann gar nicht unzuverlässig erzählt, fällt da etwas anders aus. Textimmanent scheint es mir zwei Antworten auf sie zu geben. Die eine könnte man als Epistemologie des Holocaust, die andere als Ethik des Erzählens vom Holocaust bezeichnen. Der Gegenstand der Erzählung – die Holocaust-Erfahrung des Erzählers und der mit ihm Deportierten – unterliegt einigen epistemischen Besonderheiten. Die, die gestorben sind, können nicht erzählen. Dieser Umstand ist von der philosophischen Holocaust-Essayistik Jean-Francoise Lyotards (1989, S. 17 f.) und Giorgio Agambens (2003, S. 30) nicht nur festgestellt, sondern in teilweise problematischer Weise zur philosophischen Paradoxie der Holocaust-Zeugenschaft ausgebaut und überhöht worden.Footnote 24 Richtig aber ist, dass eben bestimmte Aspekte der Lagererfahrung nicht oder nur unzuverlässig bezeugt werden können. Durch die hohe Sterblichkeit, die Vielsprachigkeit in den Lagern und die sich häufig ändernde Zusammensetzung der Häftlingsgruppen, durch die Unterschiede zwischen verschiedenen Lagerteilen und deren Trennung voneinander und die relative Abgeschiedenheit der Lager von der sie umgebenden Wirklichkeit, befinden sich die Zeugen oft in einer Situation, in der sie die einzige Quelle des Zeugnisses sind und sich ihre Rede nicht mehr überprüfen lässt. Erzähllogisch befinden sie sich in der Situation eines Odysseus’ oder eines Ismaels, des Ich-Erzählers in Herman Melvilles Moby Dick, die beide die einzigen Überlebenden einer ansonsten zeugenlosen Katastrophe sind. Primo Levi, für dessen Bericht Ist das ein Mensch? die Odyssee auf unterschiedlichen Ebenen bedeutsam ist, erzählt immer wieder von solchen zeugenlosen Ereignissen: „Ich habe Schlome nie wiedergesehen“ (Levi 1961, S. 31); und so bleibt der seltene Moment der überwältigenden Sympathie mit einem Mithäftling ohne Bestätigung. Von Wanders Tadeusz Moll erfährt man etwa, dass er – bevor er schließlich im Lager Crawinkel hingerichtet wird – in Auschwitz im sogenannten Sonderkommando eingesetzt war, das die Vergasung der Juden vorbereitete und die Leichen anschließend verbrannte. Gerade diese Häftlinge wurden, wohl auch deshalb, weil sie den gesamten Vernichtungsvorgang bezeugen konnten, und aufgrund geplanter oder wirklicher Rebellion gegen die SS, selbst zum allergrößten Teil ermordet (vgl. Piper 1999, S. 213–224; Greif und Levin 2015, S. 34). Der Erzähler begegnet deshalb der im Kontext des Holocaust unwahrscheinlichen Geschichte von der Rettung Molls durch zwei andere Arbeiter aus dem Sonderkommando mit einem gewissen Unglauben. Weil aber Zeugen fehlen, gibt es gar keinen Ansatzpunkt für die Bestätigung oder Widerlegung der Geschichte Molls:

Wer waren die beiden Männer, Bekannte aus Łódź?

Keine Ahnung.

Kamen sie mit auf Transport?

Hab sie nicht gesehen. Glaub’, sie sind alle tot. (101)

Die Rettung Molls hat keine Zeugen und das Zeugnis kann auch nicht durch das schwächere Argument der Wahrscheinlichkeit bezeugt werden. Sie ist „im Grunde unerklärlich.“ (111).

Solche Hinweise auf das lagerspezifische Nicht-Wissen des Erzählers finden sich mehrfach in Wanders Text. Scheinbar beiläufig wird nach einer Nacht im Waggon festgestellt: „Es starben an diesem Morgen Bertrand Lederer aus Charleroi und Abram Larbaud aus Montpellier, es starb Efraim Bunzel aus Prag und Samuel Wechberger aus Lodz, wer noch in den Waggons vor und hinter uns starb an diesem Morgen erfuhren wir nicht.“ (52) Zentral aber, gerade in der impliziten Kommentierung des Apitz-Romans, ist der Schluss der Erzählung von Wander. Denn geradezu ostentativ weist der Erzähler darauf hin, dass eines der Kernereignisse der Erzählung von Buchenwald in der DDR – die Selbstbefreiung des Lagers durch politische Häftlinge – nicht im Horizont seiner Zeugenschaft liegt: „Im oberen Lager hörte man Schüsse. Sie erzählten sich, die Politischen kämpften mit Waffen, die sie jahrelang vergraben hatten, gegen die SS. Häftlinge mit Handgranaten und Gewehren?“ (139).

Das prinzipielle Bekenntnis des Erzählers zu seiner Unzuverlässigkeit resultiert also in gewisser Weise aus einem bestimmten, durch die Wirklichkeit des Lagersystems und der Deportationen erst erzeugten Nicht-Wissen. „L’horreur y est obscurité, manque absolu de repère“, schreibt Robert Antelme (2007 [1957], S. 11) über Gandersheim, ein Außenlager Buchenwalds, in dem er zwischen 1944 und 1945 inhaftiert war. Fiktive Elemente stellen eine Reaktion auf dieses Nicht-Wissen dar. Man hat es in Wanders Erzählung also mit einem ganz bestimmten unzuverlässigen Erzähler zu tun: Während sich die Feststellung der Unzuverlässigkeit in der Regel auf Erzähler bezieht, die entweder aufgrund ihrer subjektiven Beschränktheit oder aufgrund subjektiver Täuschungsabsichten, in jedem Fall aber aus subjektiven Gründen unzuverlässig erzählen, leitet dieser Erzähler seine Unzuverlässigkeit aus einer spezifischen Epistemologie ab, die aus der Situation resultiert, in der er sich befand und über die er jetzt erzählt. Er gibt seine Unzuverlässigkeit nicht nur zu erkennen, er verweist auch darauf, dass seine Unzuverlässigkeit in der Sache selbst ihren unhintergehbaren Grund hat. Es handelt sich also um einen aufrichtigen, epistemologisch reflektierten und insofern zuverlässigen unzuverlässigen Erzähler, dessen Unzuverlässigkeit zwar auf einen subjektiven Zustand des Nicht-Wissens verweist, der aber aus den Umständen resultiert, von denen er erzählt.

Dass diese Geste der Aufrichtigkeit ihrerseits korrumpiert werden kann, zeigt der Fall Bruno Doesseckers, der als Binjamin Wilkomirski gefälschte Holocaust-Erinnerungen verfasste und sie unter anderem mit der Geste aufrichtiger Unzuverlässigkeit beglaubigte: „Meine frühesten Erinnerungen gleichen einem Trümmerhaufen“ (Wilkomirski 1995, S. 7). Im Grunde ist das ein besonders dramatischer Fall der Einsicht, dass auch offen unzuverlässiges Erzählen mit einer Täuschungsabsicht einhergehen kann (Lang 2018).Footnote 25

3 Die Ethik des unzuverlässigen Erzählens

Während sich die dem Text immanente, aber über den Text hinaus plausible Epistemologie des holocaustspezifischen Nicht-Wissens eher auf die mimetischen Aspekte der Unzuverlässigkeit bezieht, bezieht sich der zweite Grund der Unzuverlässigkeitsannonce eher auf deren axiologische Aspekte.Footnote 26 Denn zunächst könnte man es ja als ethisches Skandalon empfinden, dass mit einer gewissen Frivolität die Erzählung vom Holocaust als erzählerischer Zusammenhang eingeführt wird, in dem nicht nur aus epistemologischen Gründen über den Wirklichkeitsgehalt des Erzählten keine endgültige Aussage getroffen wird, sondern in dem der Erzähler diese Unentscheidbarkeit sogar noch gut heißt. Was also in Bezug auf Mendel Teichmanns Erzählung über ein Haus in seiner Indifferenz ethisch unproblematisch ist, wird in Bezug auf den Gegenstand, den der Ich-Erzähler hat, sehr wohl zum Problem. Tatsächlich besteht bis heute begründeter Zweifel daran, ob der Holocaust zum Gegenstand von Fiktionen werden könne und solle (vgl. Young 1988, S. 175 f.).Footnote 27 Und dieser Zweifel betrifft auch die Rezeption der Erzählung von Wander.Footnote 28 Man kann nicht ohne Weiteres behaupten, dass der Text axiologisch unzuverlässig ist, wohl aber, dass seine Entscheidung, Fiktives in seiner Erzählung vom Holocaust zuzulassen, axiologische Fragen aufwirft.

Wanders Text zeichnet sich dadurch aus, dass er kontinuierlich – nicht nur im Eingangskapitel – das Erzählen selbst zum Gegenstand macht,Footnote 29 und etwa einen großen Teil der Mithäftlinge als Erzähler auftreten lässt. Erzählen ist in gewisser Weise der Gegenstand des Buches und zwar ebenso das Erzählen vom Holocaust wie das Erzählen im Holocaust. De Groot erzählt vom Leben in Amsterdam (19 ff.), Tschukran von Tours (21 f.), Meir Bernstein von seiner Familie und vom Tod seiner Tochter (44), Feinberg von den Menschen in der Rue des Rosiers in Paris (91 ff.). Bernsteins Erzählungen gleichen denen Teichmanns. Er „erzählt mit kunstvollen Ausschmückungen, beinahe so gut wie Mendel Teichmann“ (46), und aus dem Erzähler selbst ‚spricht Mendel‘, wie es einmal heißt. Die Erzähler sind Filiationen des einen Erzählers Mendel.

Es sind diese unüberprüfbaren Erzählungen in einer unüberprüfbaren Erzählung, die in besonderer Weise dem Verdacht der Unzuverlässigkeit ausgesetzt sind. Ihre Überprüfbarkeit wird nicht nur dem Leser, sondern auch dem Erzähler selbst entzogen. Sie handeln von einer Wirklichkeit, die der Erzähler nicht kennt und die durch niemanden sonst bezeugt wird. Insofern unterliegen auch sie jenem Beglaubigungsdefizit, das von der spezifischen epistemischen Situation des Lagers hervorgebracht wird. Vor allem zeigt sich an ihnen aber eine normative Aufladung des Erzählens als solchem, der gegenüber der historische Wahrheitsanspruch des Erzählens in den Hintergrund tritt. So zeichnet sich Wanders Text erstens dadurch aus, dass er nicht nur von Juden erzählt, sondern das Erzählen selbst jüdisch konnotiert. Alle Juden im Text sind Erzähler, während die politischen Häftlinge dezidiert keine Erzähler sind und sich eher in politischen Reden oder in Liedern artikulieren. Von einem französischen Resistant heißt es: „Seine Wortkaskaden waren nicht Poesie wie die Rede von Mendel Teichmann, sie waren die Revolution“ (80). Aus der Perspektive der Politischen stellt das Erzählen teilweise einfach eine Form jüdischer Resignation dar, während es aus der Perspektive der Juden eine Reaktion auf die Erfahrung der Diaspora ist. Meir Bernstein erzählt wie Mendel Teichmann „und andere, die seit Jahrhunderten verfolgt sind und daher im Wort leben“ (46).

Mit der Figur Mendel Teichmanns, der im Text auch als „Zaddik“ (12, 30) bezeichnet wird, stellt Wander seinen Text in die Tradition chassidischen Erzählens.Footnote 30 Chassidische Erzählungen sind ursprünglich mündliche Erzählungen, die von den Zaddiks, den jüdischen Weisen, handeln. Ihnen wird eine gemeinschaftsstiftende Kraft zugeschrieben. In der Regel geben sie eine Episode aus dem Leben oder einen Ausspruch des Zaddiks in kurzen, oft legendenhaften Formen wieder und vermitteln anschaulich die Lehre des Zaddiks. Allerdings unterscheidet sich der Zaddik Mendel Teichmann von denen, die man etwa in Martin Bubers zweibändiger Sammlung Die Erzählungen der Chassidim kennenlernt. Zwar teilt er mit ihnen die Bedeutung, die er für die Gemeinschaft der Juden (im Lager) hat, allerdings besteht seine Weisheit fast ausschließlich darin, dass er selbst ein Erzähler ist und dass das Exemplarische seiner Lebensführung in seiner Fähigkeit des Erzählens besteht. Das Erzählen ist nicht nur das Medium, in dem die Weisheit Teichmanns mitgeteilt wird, das Erzählen selbst ist die Weisheit Teichmanns.Footnote 31 Dass schließlich der Ich-Erzähler sich für unsterblich halten kann, ist kein Ausdruck seiner Hybris, sondern die Apotheose des Erzählens selbst, die aus ihm spricht: „Die Welt nicht mehr heil. Aber ICH werde ewig leben. Ich werde glücklich sein. Werde trunken sein von Liebesgenuß“ (114). Die Glaubwürdigkeit der Apotheose besteht darin, dass sie sich mit einem spezifischen Defizit des Erzählens vom Holocaust verbindet. Alle diese Erzählungen seien schließlich, meint Ruth Klüger, euphemistisch und ‚märchenhaft‘, weil sie notwendig von Überlebenden stammen, die gegen alle Wahrscheinlichkeit überlebt hätten.Footnote 32 Wanders Ich-Erzähler begegnet dem mit seiner Anonymität. Er ist ohne Namen und ohne Geschichte, die über seine Lagergeschichte hinausginge. Er erzählt, aber nicht von sich. Die Anlage des Erzählers kann als Reaktion auf dieses Problem gelesen werden. Denn das Überleben des Erzählers wird logisch zwar vorausgesetzt, aber nicht zum Gegenstand der Erzählung gemacht. Gegenstand der Erzählung sind die, die nicht überlebt haben, und die Geschichten, die sie erzählten. Insofern macht sich der Erzähler zum bloßen Medium anderer Erzähler.Footnote 33 Als solches Medium transzendiert er die konkreten Erzählungen einzelner Häftlinge, aber auch die eigene konkrete Geschichte und verwandelt sich in ein anonymes, kollektives Subjekt, das durch kein einzelnes Individuum mehr ausgefüllt wird. Die Anonymisierung des Erzählers, die aus der Spannung zwischen der Sprecherposition (Überlebender) und seinem Gegenstand (den Toten) resultiert, wird so zur Bedingung der Möglichkeit seiner Apotheose. Sie erteilt ihm zugleich die Lizenz zur Fiktion. Denn, wie gesagt, die Anonymität eröffnet den Spielraum der Differenz zwischen Autor und Erzähler, und dass tatsächlich der Erzähler ein anderer sein möchte als sein Autor, zeigt seine Apotheose. Wäre mit dem Satz „ICH werde ewig leben“ nur der Autor oder sein Erzähler gemeint, wäre er falsch.

Dabei tut es erst einmal nichts zur Sache, dass Wanders Reanimation chassidischen Erzählens im Grunde eine Spielart einer romantischen Mythologie des Erzählens ist, die besagt, dass zeitlich und normativ mündliches Erzählen dem schriftlichen vorzuziehen sei: „Die Erzählkunst ist älter als die Literatur. […] Im Konzentrationslager gab es keine Bücher, dort konnte sich die Kunst des Erzählens notgedrungen wieder kristallisieren. Und das habe ich in der ersten Geschichte meines Buchs mitgeteilt“ (Trampe 1971, S. 7). Fast wird hier eine Sehnsucht nach Ursprünglichkeit unter den Bedingungen des Lagers eingelöst.

Und schließlich wird die Qualität der Erzählungen intradiegetisch auch gar nicht anhand ihrer historischen Wahrheit, sondern anhand ihrer Wirkung beurteilt. Mendel Teichmann findet ein „erlösendes Wort“ (14), dessen Erlösungscharakter nicht daraus resultiert, dass die Erzählung wahr ist, sondern daraus, dass sie die Verschleppten für einen Moment aus der Wirklichkeit des Lagers befreit.

Das Wort hatte magische Kräfte, es zauberte eine reichgedeckte Sabbattafel herbei, die Lieblichkeit eines jüdischen Mädchens, Duft von süßem Palästinawein und Rosinenkuchen. Das Wort, kaum daß es erklang, machte die Männer erbleichen, es verwandelte sie, kehrte ihre Blicke nach innen, ließ sie Tränen vergießen und lachen, geißelte sie, erstickte sie, ließ sie ächzen und sogar schwitzen. (8)

Der Vergangenheitsbezug, durch den sich fast alle intradiegetischen Erzählungen auszeichnen, hat dabei im Wesentlichen die Funktion, die Personalität wieder herzustellen, die ihnen durch das Lager genommen wurde.

Er sucht die verschollenen Spuren von Schönheit in seinem Leben, sucht plötzlich einen Kumpel, der zuhören kann, und wenn er ihn gefunden hat, berauscht er sich an Vergangenem, breitet vor dem anderen Gemälde aus. Weil er es hinausschreien muß: Ich bin ein Mensch! Ich wurde geachtet! (17)

Es ist angesichts dieser enormen ethischen Aufladung des Erzählens keine Kleinigkeit, dass der Wallstein-Verlag den Text, der ursprünglich und, wie man sah, aus guten poetologischen Gründen als „Erzählung“ erschienen war, als „Roman“ wieder veröffentlicht und so mit dem verlegerischen Paratext gegen die Poetik des Textes arbeitet.Footnote 34

4 Unzuverlässiger Erzähler vs. Trauma

Ich möchte mit einem kleinen Plädoyer für den unzuverlässigen Erzähler, der ja zuletzt stark in die Kritik geraten ist,Footnote 35 schließen. In gewisser Weise gehört Unzuverlässigkeit zu den Kernproblemen der literaturwissenschaftlichen Forschung zur Holocaust-Literatur; freilich nicht unter dem Begriff der Unzuverlässigkeit oder der (un)reliability, sondern unter dem des Traumas. Mit diesem seit 30 Jahren in der Forschung zur Holocaust-Literatur grassierenden BegriffFootnote 36 ist die Unzuverlässigkeit des Erzählens in gewisser Weise generalisiert worden. Denn er beschreibt nicht nur metaphorisch die anhaltende Beschädigung der Opfer nationalsozialistischer Gewalt, er macht auch sehr grundsätzliche Aussagen über ihre Erzählung davon. So zeichnet sich die Erzählung des/der Traumatisierten nach Lawrence Langer (2000, S. 58) durch die „gänzliche Unfähigkeit [aus], diese Momente in irgendeiner chronologischen Ordnung zu rekonstruieren“.Footnote 37 Auf der Ebene der Erfahrung hat diese Diskontinuität der Erzählung eine Entsprechung etwa in den sogenannten „Flashbacks“, die „auf Kosten willentlicher Erinnerung oder sogar der Kontinuität von bewußtem Denken“ gehen (Caruth 2000, S. 93). Glaubt man Slavoj Žižek, der sich der Trauma-Thetik angeschlossen hat, dann müssten wir dem zuverlässigen Erzähler einer Holocaust-Erzählung sogar in besonderer Weise misstrauen:

Wäre das Opfer in der Lage, mit klaren Worten von seiner schmerzhaften und demütigenden Erfahrung zu berichten, eine stringente Darstellung in allen Einzelheiten zu liefern, dann würde genau das unser Mißtrauen erwecken. Der Zeuge, der zu einer klaren Schilderung seiner Erlebnisse im Lager fähig wäre, würde sich damit selbst disqualifizieren. (Žižek 2006, S. 145)

Die Unzuverlässigkeit des Erzählers fällt hier mit der Traumatisierung seines Autors zusammen. Unterschiedliche Formen der Unangemessenheit einer Erzählung können mit diesem Begriff deshalb nicht mehr beschrieben werden. Das ist nicht nur deshalb bedenklich, weil es der literaturwissenschaftlichen Analyse die Genauigkeit nimmt. Die Entdifferenzierung ist vielmehr ethisch heikel. Während man es zwar in beiden Fällen – der Erzählung des Traumatisierten und der unzuverlässigen Erzählung – mit Erzählungen zu tun hat, die auf irgendeine Art unangemessen sind, resultiert das in dem einen Fall aus der ‚Unmündigkeit‘ ihres Autors, der nicht anders kann, als deformiert zu erzählen, und in dem anderen Fall aus der Souveränität eines Autors, die es ihm erlaubt, eine bestimmte Erzählinstanz zu entwerfen und sich damit bestenfalls mimetisch zu – aus welchem Grund auch immer – beschränkten Erzählern zu verhalten (vgl. Pabst 2020).

Mit dem Begriff des Traumas geht aber auch die Möglichkeit verloren, die unterschiedlichen Motivationen und Formen zu beschreiben, mit denen Autoren Erzähler konzipieren, die nicht einfach erzählen, was der Fall ist. Das kann erstens mit betrügerischen Absichten geschehen, wie im Fall Wilkomirskis, der die Beschränkung seines Textes zwar aufdeckt, diese Beschränkung dem Leser aber als Zeichen der Authentizität ans Herz legt. Das wird möglich, weil er die Differenz zwischen Autor und Erzähler, die ja auch in diesem Text am Werk ist, verwischt. Und das Konzept des Traumas leistet dabei Vorschub.Footnote 38 Das kann zweitens mit ideologischen Motiven geschehen wie im Fall von Bruno Apitz, der eine impersonale Erzählinstanz entwirft, bei der der Verdacht der Unangemessenheit der Darstellung gar keinen textimmanenten Ansatzpunkt findet. Und das kann drittens aus einer Reflexion auf die Beschränkungen resultieren, denen die Erzählung des Holocaust unterliegt, wie im Fall von Kertész Roman eines Schicksallosen oder eben bei Wander. Weil er dabei die Differenz zwischen dem Autor Wander und dem anonymen, ewigen Ich-Erzähler macht, vermeidet er, dass sein Text einfach als Wiedergabe oder als authentischer Effekt seiner Erlebnisse gelesen wird. Der Begriff, mit dem Literaturwissenschaft diese Differenz zu bezeichnen vermag, ist der des unzuverlässigen Erzählers.

Schließlich verstellt der Traumabegriff zugunsten eines vermeintlich authentischen Zugangs zum Ereignis des Holocaust dessen Beschreibung. Die Beschränkungen der Erzählung Wanders resultieren nicht einfach aus der Beschädigung des Autors, sondern aus der epistemischen Lücke und der ethischen Paradoxie, die das Ereignis des Holocaust hervorgebracht hat. Der unzuverlässige Erzähler in Wanders Text macht die Auseinandersetzung damit eigentlich erst möglich.