Zusammenfassung
Seit mehr als einem Jahrzehend schwebte am musicalischen Horizonte ein Gespenst. Es war eine Sphinx, die den deutschen Bühnen-Vorständen die Lösung eines gewaltigen Räthsels aufgegeben hatte. Karlsruhe sandte ihm seine ersten Kämpen entgegen; allein schon der Anblick dieses wunderlichen Ungeheuers wirkte so lähmend auf die kampfgeübte Schar, dass ein Rückzug vor der Schlacht als rathsam erschien. Bald darauf wagte den Kampf die deutsche Kaiserstadt, wetzte fast sechs Monate ihre Waffen, allein vergebens. Dem Ungethüm war auf keine Weise beizukommen, so dass schliesslich die Lösung des Räthsels für eine Unmöglichkeit erklärt und erkannt wurde. Endlich, nachdem die Munificenz eines jugendlichen und kunstsinnigen Monarchen sich bewogen fühlte, ihr Interesse der Lösung dieses Räthsels nicht nur zuzuwenden, sondern dasselbe auch dadurch zu bethätigen, dass sie den Kampfplatz in den Kunsttempel der Isarstadt verlegte, erst dann trat ein Wendepunkt ein. Der Tag der Entscheidung war gekommen, Gäste hatten sich von nah und fern eingefunden, die Stunde des Kampfes rückte heran, und nochmals bäumt sich das Gespenst mit der ganzen Titanenkraft seiner Erscheinung, lässt seinen vernichtenden Blick über die wackeren Kämpfer schweifen, als gälte es, dieselben von jedem ferneren Versuche abzuschrecken. Doch die tapferen Streiter hatten sich bereits an diesen Anblick gewöhnt und rüsteten sich todesmuthig zum letzten, entscheidenden Schlage. Und siehe da: das Schreckbild liegt nun besiegt zu den Füssen seiner Sieger; das Unmögliche ist zur Möglichkeit geworden, die Sphinx hat ihr Geheimniss verloren, „Tristan und Isolde“ ist zur Aufführung gekommen! – So gross nun die Erwartungen und die damit verbundene, fast fieberhafte Spannung, mit der man diesem Ereignisse [221] entgegensah, gewesen, so gerechtfertigt muss es auch erscheinen, dem Aufleuchten eines solchen kunstgeschichtlichen Momentes mit jener Aufmerksamkeit zu begegnen, wie sie zunächst das Interesse der Kunst, in zweiter Linie aber das Wesen der Oper als Kunstgattung erfordern. – Was bei Handhabung der Gesetze die Jury, das soll eine auf den Grundpfeilern der Aesthetik beruhende Kritik einem Kunstwerke gegenüber sein; keine befangene noch parteiliche Anschauung darf den Kunstrichter leiten, und wie in jener nur das Recht, so soll in dieser stets die Kunst als Endzweck ins Auge gefasst werden.
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von Roth, D., Roesler, U. (2020). Nr. 155 | J.[Johann] J.[Joseph] Abert, „Tristan und Isolde von Richard Wagner“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 13 (1865), Nr. 28 (15. Juli), S. 220–223.. In: von Roth, D., Roesler, U. (eds) Die Neudeutsche Schule – Phänomen und Geschichte. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-04923-0_155
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-476-04923-0_155
Publisher Name: J.B. Metzler, Stuttgart
Print ISBN: 978-3-476-04922-3
Online ISBN: 978-3-476-04923-0
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)