Zusammenfassung
Am Beispiel des digitalen Mahnmals in der Keupstrasse in Köln-Mühlheim, das an den Nagelbombenanschlag durch den NSU 2004 erinnern soll, wird der Frage nachgegangen, welche Bedeutung solidarischen Medienpraktiken für ein hegemonietheoretisches Verständnis von Medienbildung zukommt. Hierzu wird das Mahnmal in machttopologischer Hinsicht beleuchtet (Thompson 2018), die „visionäre Erinnerungskultur“ (Sternfeld 2011) des Mahnmals herausgearbeitet und das Mahnmal als Raum „kontrapunktischer Solidarität“ (Castro Varela 2019) gefasst. Abschließend wird mit Bezug auf den Diskurs der Commons und digitaler Solidarität (Stalder 2016) ein Medienbildungsbegriff entworfen, der auch hegemonie- und differenztheoretisch grundiert ist.
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Notes
- 1.
Zu den Schwierigkeiten des Baus kann auf der Seite von „herkesin meydani/Keupstraße ist überall!“ alles nachgelesen werden. https://mahnmal-keupstrasse.de/.
- 2.
https://mahnmal-keupstrasse.de/ zugegriffen am 26.8.2019.
- 3.
Diese Analogie hinkt, d. h. sie läuft Gefahr, die Anderen der dritten Welt mit den innereuropäischen Anderen gleichzusetzen.
- 4.
Gentrifizierung meint die Aufwertung eines Stadtteils durch dessen Sanierung oder Umbau mit der Folge, dass die dort ansässige Bevölkerung durch wohlhabendere Bevölkerungsschichten verdrängt wird.
- 5.
Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz – ASOG Berlin, online: https://www.berlin.de/imperia/md/content/seninn/abteilungiii/vorschriften/081103_asog.pdf.
„Gefährliche Orte“ sind definiert als Orte, an denen Straftaten von erheblicher Bedeutung verabredet, vorbereitet oder begangen werden (bspw. bandenmäßig organisierte Kriminalität und Drogenhandel), sich Personen treffen die gegen aufenthaltsrechtliche Strafvorschriften verstoßen, sich gesuchte Straftäter_innen verbergen oder an denen Personen der Sexarbeit nachgehen (vgl. § 21/Abs. 2 ASOG). Die Polizei darf an „gefährlichen Orten“ ohne Verdacht auf eine konkrete Gefahr die Identität von Personen feststellen, sie und ihre Sachen durchsuchen (§ 21, 34, 35 ASOG). vgl. auch Autor_innenkollektiv der Berliner Kampagne Ban! Racial Profiling (2018).
- 6.
Rassifizierung (Rassialisierung oder Rassisierung) beschreibt sowohl einen Prozess, in dem rassistisches Wissen erzeugt wird, als auch die Struktur dieses rassistischen Wissens. Im Einzelnen umfassen Prozess und Struktur die Kategorisierung, Stereotypisierung und implizite Hierarchisierung von Menschen.
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Als Gentrifizierung bezeichnet man die ökonomische Verdrängung von Menschen aus armutsgeprägten Milieus aus Stadtvierteln durch zuziehende reichere Schichten.
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Dostluk Sinemasi heißt zu Deutsch: „Kino der Freundschaft“ und ist ein „loser Zusammenschluss aus verschiedenen Leuten aus Köln, die sich auf unterschiedliche Weise mit Rassismus auseinandersetzen, gerne in der Keupstraße abhängen und in der Initiative Keupstraße ist Überall aktiv sind“ (ebd., S. 10).
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Wie der Fall „Walter Lübcke“ zeigt, sollte sie Recht behalten.
- 10.
Der Fahrer des Krankenwagen antwortete, so A., dass er bereits Feierabend habe und nicht wegen dieser Sache hergekommen sei und dass er bizarrer Weise einfach weiterfuhr, ohne sich weiter um die Verletzten zu kümmern.
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Die weiteren drei Ansätze digitaler Solidarität bilden nach Stalder „Versammlung“, „Schwarm“ und „schwaches Netzwerk“ (vgl. ebd.)
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Dieser kann vom praxeologischen Bildungsbegriff, den Heidrun Allert und Michael Asmussen (2017) in Anlehnung an Stalder entwerfen, abgegrenzt werden. Allert und Asmussen, die mit Stalder betonen, dass die in den Verästelungen der Praxis und in der Verschränkung mit technischen Medien entstehenden „Formen der Gemeinschaftlichkeit […] die eigentlichen Subjekte sind, die Kultur […] hervorbringen“ (vgl. ebd., S. 50), heben die, wie sie sie nennen, kollektivierenden Dimensionen im Subjektivierungsgeschehen hervor. Diese „kollektiven Formen“ werden allerdings lediglich in Hinsicht auf die Verschränkung von „Mensch und Ding“ als Relationalität und ko-konstruktives Verhältnis in Praktiken reflektiert (vgl. ebd., S. 47). Dass in dieser praktischen Hervorbringung von Kultur rassistische, sexistische, klassistische und ableistische Differenzmuster ebenso wirkmächtig agieren wie technische Verfahren, ist aber in ihrer praxeologischen und subjektivationstheoretischen Medienbildungsperspektive nur randständig ins Auge zu fassen.
Das digitale Mahnmal kann zwar mit Allert und Asmussen in seiner augmentierten Räumlichkeit als ein technologisch-soziales Arrangement erkannt werden, in dem „poetische Spielzüge“ als situationsgebundene Transaktionen, die Spielsituation selbst wandeln (vgl. Richter und Allert 2017, S. 248). Dass dies aber nur insofern geschieht, insofern die Praxis der Opfer-Täter Umkehr unterbrochen bzw. transformiert wird, ist nur bedingt in den Blick zu bekommen, weil die Praktiken analytisch nicht auf die bestehenden hegemonialen Verhältnisse bezogen werden können. Ohne einen hegemonietheoretischen Bezugsrahmen, der in der transaktionalen Bildungsperspektive von Allert und Asmussen (2017) weitgehend eine Leerstelle bildet, kann die Kritik des Mahnmals an den rassistischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen und die migrantische Selbstermächtigung gar nicht als solche erkannt werden. In gewisser Weise wird so der Umgang mit Algorithmen von Allert und Asmussen als alleiniges „epochaltypisches Schlüsselproblem“ behandelt (vgl. Allert/Asmussen, S. 30) und damit „Schlüsselprobleme“ wie z. B. Migration (vgl. Mecheril 2019), das neokoloniale Geschlechterregime (Gutiérrez Rodríguez 2010) oder das „Anthropozän“ (Wulf 2019) außen vor gelassen. „Bildung als gestaltende Auseinandersetzung mit Unbestimmtheit“ und als „produktives Andershandeln“, wie es von Allert und Asmussen vorgeschlagen wird, lässt offen, inwiefern auf rassistische Othering-Strukturen oder auch neokoloniale Geschlechterarrangements pädagogisch Bezug zu nehmen ist. Für die medienpädagogische Praxis gewendet zielt ihr Bildungsverständnis vor allem auf Praktiken einer kritischen Distanzierung oder produktiven Verunsicherung, in der die praktische Verwicklung in gesellschaftliche Hegemonien systematisch ausgespart bleibt und rassismuskritische Subjektivationsprozesse, die das Mahnmal zu ermöglichen sucht, als Bildungsgeschehen nicht in den Blick kommen können.
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Eine Ausnahme ist im angloamerikanischen Raum in der Konzeption von social media literarcy bei Shakuntala Banaji (2015) zu finden. Im deutschsprachigen Raum ist Maximilian Waldmann im Zusammenhang von Fake News der Frage nach einem macht- und herrschaftskritischen Verständnis von Medienbildung nachgegangen (2019). Eine ideologie- und herrschaftskritische Medienpädagogik, wie sie die Cultural Studies über viele Jahre verfolgt haben (vgl. Winter 2006), scheint weitgehend verschüttet und muss insofern erst wieder aufgegriffen und in den Diskurs eingeführt werden.
Literatur
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Aktaş, U. (2020). Das digitale Mahnmal in der Keupstraße als Raum der Solidarität. In: Holze, J., Verständig, D., Biermann, R. (eds) Medienbildung zwischen Subjektivität und Kollektivität. Medienbildung und Gesellschaft, vol 45. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-31248-0_9
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