Zusammenfassung
Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie wurde, nach heutigem Kenntnisstand, aufgrund verbandsinterner ideologischer und machtpolitischer Differenzen und den gescheiterten Versuchen, die im Nationalsozialismus entstehenden Möglichkeiten zu nutzen und die Soziologie den neuen Verhältnissen anzupassen, von ihrem 1933 auf Vorschlag des Vorstands installierten „Führer“ Hans Freyer 1934 stillgelegt. Ihre Aktivitäten wurden weitgehend eingestellt und der Verband so vor seiner Kompromittierung bewahrt. Dies allerdings nicht, wie lange angenommen wurde, vor nationalsozialistischen Einflüssen, sondern vor der Übernahme durch den jungen „Karrieristen“ Reinhard Höhn und seines radikal(er)en Umfeldes.
Notes
- 1.
Vgl. dazu den Beitrag von Uwe Dörk „Die frühe Deutsche Gesellschaft für Soziologie: Zum organisatorischen, epistemischen und sozialen Profil einer Fachgesellschaft“ in diesem Band.
- 2.
Auch Hans-Georg Soeffner konstatiert mit Blick auf die Soziologie in der Zwischenkriegszeit, dass bisweilen das Bemühen um politische Enthaltsamkeit „in ihren Effekten alles andere als unpolitisch ist“ (Soeffner 2008, S. 11).
- 3.
Zur Konstruktion der Pseudowissenschaft vgl. Rupnow et al. (2008).
- 4.
„Die Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Soziologie als Organisationsgeschichte – Von den sozialwissenschaftlichen Diskursnetzwerken der Gründerjahre bis 1989“, vgl. Homepage des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen, www.kwi-nrw.de/home/projekt-98.html, zugegriffen am 08.11.2016.
- 5.
Zum retrospektiven Umgang seitens der Fachgesellschaft mit der NS-Vergangenheit des Fachs, der DGS und den beteiligten Personen vgl. Borggräfe und Schnitzler (2014, S. 458–474).
- 6.
Sämtliche verwendeten Archivmaterialien entstammen den digitalisierten Dateien im Sozialwissenschaftlichen Archiv Konstanz (SAK). Ich danke Henning Borggräfe sehr herzlich für die Bereitstellung seines im Rahmen der Projektarbeit am KWI erstellten, die Quellen strukturierenden Findbuchs und seiner Materialien. Die Quellenangaben der zitierten Findmittel sind dem Findbuch entnommen. Der vorliegende Text basiert im Wesentlichen auf der Zusammenarbeit im Rahmen unserer gemeinsamen Publikation von 2014.
- 7.
Carsten Klingemann zitiert aus der Dokumentation der Berliner Mitgliederversammlung Max Hildebert Boehm, der auf den Vorschlag Werner Sombarts, die DGS als exklusive Gelehrtenvereinigung „hinter verschlossenen Türen“ zu retten, mit den Worten antwortet: „Dann werden wir die Türen mit den Beinen eintreten.“ (Klingemann 1996a, S. 23)
- 8.
In der Literatur herrscht Uneinigkeit über die exakte Zusammensetzung der Anwesenden. Silke van Dyk und Alexandra Schauer haben nach der Auswertung der Quellen für zwölf Personen die Anwesenheit verifizieren können. Hinsichtlich Max Hildebert Boehms und Erich Rothackers sind die Angaben widersprüchlich (van Dyk und Schauer 2015, S. 64 f.).
- 9.
Dem entsprechend wird nach dem siebten Soziologentag 1930 in Berlin die Reihe mit dem achten Soziologentag 1946 in Frankfurt am Main weitergeführt.
- 10.
Das Verhältnis war durchaus nicht immer kollegial, vgl. Honigsheim 1959, S. 10.
- 11.
Interessant an dem „Drittes Rundschreiben in Sachen der Forschung und des Studiums der Soziologie“, welches die Ergebnisse des Treffens dokumentiert, ist, dass in einer der archivierten maschinenschriftlichen Fassungen im Satz „Der bisherige Vorstand wurde abgesetzt und die Leitung der Gesellschaft einem Kollegen mit Totalvollmachten übertragen“ handschriftlich sowohl der anschließende Nebensatz „der sie völlig stilllegte“ als auch das Wort „Kollegen“ durchgestrichen wurde. Auf der Höhe des gestrichenen „Kollegen“ ist am Rand der Seite handschriftlich „Parteimitglied“ vermerkt (B 320/30_DE-SAK-B1-3735, Bl. 45). Es geht aus der Akte leider nicht hervor, wer diese Korrekturen vornahm.
- 12.
Zur Nachkriegsgeschichte der westdeutschen Soziologie anhand der Organisationsgeschichte der DGS siehe den Beitrag von Henning Borggräfe „Die Ausdifferenzierung der westdeutschen Soziologie nach 1945 im Spiegel der Untergruppen, Fachausschüsse und Sektionen der DGS“ in diesem Band.
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Schnitzler, S. (2016). Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie zur Zeit des Nationalsozialismus. In: Moebius, S., Ploder, A. (eds) Handbuch Geschichte der deutschsprachigen Soziologie. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-07998-7_8-1
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