Zusammenfassung
Wenige von Husserl geprägte Begriffe haben ebenso allgemeine Beachtung gefunden und ebenso grosse Erwartungen geweckt wie der Begriff des “Noema”. Das Noema wurde als Husserls ursprünglichster Beitrag zu einer Ergänzung von Brentanos Lehre von der Intentionalität des Bewusstseins gewertet, als Bestätigung und zugleich phänomenologische Fundierung von Freges Semantik, als Eingangstor zu einer Lehre von den Phänomenen diesseits der Scheidung zwischen Subjekt und Objekt. Wenige von Husserl geprägte Begriffe sind aber ebenso kontrovers aufgenommen worden wie Husserls Begriff des “Noema”. Das Noema wurde zugleich als idealer Sinn und als Erscheinung verstanden, als “was ich in der Hand halte” und als Inhalt der Hand im Sinne der “Knochen,... Muskeln, aus denen sie besteht”1 und schliesslich verständlicherweise auch als ein widersinniger Zwitterbegriff2. Es schieden sich immer wieder von neuem die Lager der Gegner des Noemabegriffs (von Adorno über Sartre3 bis zu Tugendhat) und der Befürworter des Noemabegriffs. Aber auch letztere sind zerstritten, wie die polemischen Diskussionen zwischen Gurwitsch und Føllesdal4 sowie zwischen Sokolowski und Føllesdal-Mohanty5 oder Smith-Mclntyre6 zur Genüge gezeigt haben.
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Noten
G. Frege, “Der Gedanke. Eine logische Untersuchung”: Logische Untersuchungen, herausgegeben und eingeleitet von G. Patzig, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1966, S. 49, Anm.
Vgl. Th. W. Adorno, Die Transzendenz des Dinglichen und Noematischen in Husserls Phänomenologie: Gesammelte Schriften I, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1973, S. 376
Th. W. Adorno, Zur Metakritik der Erkenntnistheorie: Gesammelte Schriften V, Suhrkamp, Frankfurt a.M., 1971, S. 119f.
Vgl. auch E. Tugendhat, “Phänomenologie und Sprachanalyse”: Hermeneutik und Dialektik, II, hrsg. von R. Bubner et al, J.C.B. Mohr, Tübingen, 1970, S. 8.
Vgl. J.-P. Sartre, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Gallimard, Paris, 1943, S. 16ff., 28, 41f., 152f.
Vgl. dazu insbes. H. Dreyfus, “The Perceptual Noema: Gurwitsch’s Crucial Contribution”: Life-World and Consciousness. Essays for Aron Gurwitsch, ed. by L.E. Embree, Northwestern University Press, Evanston, 1972, S. 135–170.
R. Sokolowski, “Intentional Analysis and the Noema”: Dialectica, 38 (1984), S. 113–129.
R. Sokolowski, “Husserl and Frege”: The Journal of Philosophy, LXXXIV/10 (Oct. 1987), S. 521–528 sowie R. Mclntyre, “Husserl and Frege”: A.a.O., S. 528–535.
Vgl. Anm.6.
E. Husserl, Einleitung in die Logik und Erkenntnistheorie. Vorlesungen 1906/07, Husserliana XXIV, hrsg. von U. Melle, M. Nijhoff, Dordrecht-Boston-Lancaster, 1984.
E. Husserl, Vorlesungen über Bedeutungslehre. Sommersemester 1908, Husserliana XXVI, hrsg. von U. Panzer, M. Nijhoff, Dordrecht-Boston-Lancaster, 1987.
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch. Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserliana III/1, neu hrsg. von K. Schuhmann, M. Nijhoff, Den Haag, 1976. (Wir zitieren stets den Text der 1. Aufl. und verweisen auf die ursprüngliche, in der Husserliana-Ausgabe am Rande vermerkte Seitenzählung.)
E. Husserl, Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, Husserliana II, hrsg. von W. Biemel, M. Nijhoff, Den Haag, 19732.
Hu XXVI, Beilage IV, S. 148 (1909). Vgl. auch E. Husserl, Analysen zur passiven Synthesis. Aus Vorlesungs- und Forschungsmanuskripten 1918–1926, Husserliana XI, hrsg. von M. Fleischer, M. Nijhoff, Den Haag, 1966, S. 334f. (wohl 1918).
Während Husserl den Terminus “noetische Logik” bzw. “Noetik” mindestens (jedoch mit wechselndem Bedeutungsgehalt) seit den Logischen Untersuchungen gebraucht (vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Erster Band. Prolegomena zur reinen Logik, Husserliana XVIII, hrsg. von E. Holenstein, M. Nijhoff, Den Haag, 1975, S. 239f.), findet sich der Terminus “Noema” meines Wissens zum ersten Mal im sogenannten “Bleistiftmanuskript” der Ideen I, und zwar in einem vom Herausgeber, K. Schuhmann, auf “Oktober 1912” datierten Text (vgl. Hua III/2, S. 567).
E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Husserliana VI, hrsg von W. Biemel, M. Nijhoff, Den Haag, 1962, S. 245.
Vgl. das Verzeichnis möglicher Quellen bei R. Bernet, “Endlichkeit und Unendlichkeit in Husserls Phänomenologie der Wahrnehmung”: Tijdschrift voor Filosofie, 40 (1978), S. 264, Anm.
Vgl. Hua XVIII, § 67; vgl. auch E. Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft, Husserliana XVII, hrsg. von P. Janssen, M. Nijhoff, Den Haag, 1974, § 13.
Vgl. I. Logische Untersuchung, §31 (E. Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, Husserliana XIX/1, hrsg. von U. Panzer, M. Nijhoff, The Hague-Boston-Lancaster, 1984, S. 105f).
Vgl. R. Bernet, I. Kern, E. Marbach, Edmund Husserl, Darstellung seines Denkens, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1989, S. 159ff.
Vgl. R. Sokolowski (1987), S. 525.
Vgl. z.B. Ideen I, § 129, S. 267: “Als Inhalt fassen wir den ‘Sinn’, von dem wir sagen, dass sich in ihm oder durch ihn das Bewusstsein auf ein Gegenständliches als das ‘seine’ bezieht. Sozusagen als Titel und Ziel unserer Erörterungen nehmen wir den Satz: ‘Jedes Noema hat einen ‘Inhalt’, nämlich seinen ‘Sinn’ und bezieht sich durch ihn auf ‘seinen’ Gegenstand.”
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Bernet, R. (1990). Husserls Begriff des Noema. In: Ijsseling, S. (eds) Husserl-Ausgabe und Husserl-Forschung. Phaenomenologica, vol 115. Springer, Dordrecht. https://doi.org/10.1007/978-94-009-2427-7_5
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