Zusammenfassung
Bei Wechselbeanspruchung metallischer Werkstoffe setzt nach anfänglichen Ver- und/oder Entfestigungsprozessen, die das gesamte Probenvolumen erfassen (vgl. V59 und 63), Mikrorissbildung in oberflächennahen Kornbereichen ein. Die an der Probenoberfläche nachweisbaren Mikrorisse bilden sich bei homogenen Werkstoffen unter kleinen Beanspruchungsamplituden bevorzugt an Ermüdungsgleitbändern, unter großen Beanspruchungsamplituden bevorzugt an Korngrenzen und, falls vorhanden, an Zwillingsgrenzen (vgl. V63). An die Mikrorissbildung schließt sich kontinuierlich die Mikrorissausbreitung an. Sie erfolgt bei kleinen Amplituden zunächst in oder nahe von Ermüdungsgleitbändern parallel zu deren Oberflächen- und Tiefenausdehnung. Da die Ermüdungsgleitbänder die Oberflächenspuren günstig orientierter Gleitsysteme mit größten Schubspannungen sind, liegen die Risse bevorzugt in den Bändern, die unter 45° zur Zug-Druck-Beanspruchungsrichtung, also in Richtung größter kontinuumsmechanisch wirksamer Schubspannungen orientiert sind. Die anfängliche Mikrorissverlängerung wird Rissausbreitungsstadium I genannt. Dabei werden oberflächennahe Körner mit einer relativ kleinen Ausbreitungsgeschwindigkeit von einigen 10-8 mm/Lastwechsel (LW) durchlaufen. Gleichzeitig wächst die Breitenausdehnung des Mikrorisses seitlich weiter. Bei weiter zunehmender Lastspielzahl schwenkt meist einer der 45°-Mikrorisse in eine Ebene unter 90° zur angelegten Nennspannung ein und breitet sich nun (Rissausbreitungsstadium II) mit ständig wachsender Geschwindigkeit (von ≈ 10-6 mm/LW bis zu ≈ 10-2 mm/LW) als Makroriss aus. Bild 64-1 zeigt schematisch diese Verhältnisse. Man sieht, wie ein Stadium I-Riss in einer bestimmten Oberflächenentfernung abbiegt und dann als Stadium II-Riss näherungsweise senkrecht zur Probenachse weiterläuft. Wesentlich für den Übergang vom Stadium I zum Stadium II der Rissverlängerung ist das Verhältnis der Schubspannung im Ermüdungsgleitband zu der an der Rissspitze auftretenden kerbwirkungsbedingten Normalspannung. Ist letztere so groß geworden, dass im Rissspitzenbereich Mehrfachgleitung auftritt und ein größeres rissspitzennahes Volumen plastisch verformt wird, dann ändert sich die Rissausbreitung so, dass während der folgenden Belastungszyklen Rissöffnungen und -schließungen unter energetisch günstigster Rissuferbewegung möglich werden. Da sich bei homogenen Werkstoffen mit wachsender Amplitude die Rissbildung mehr und mehr zu den Korn- bzw. Zwillingsgrenzen verlagert, kommt bei der Rissausbreitung von Anfang an Stadium II zunehmend zur Geltung. Bei heterogenen Werkstoffen wird das Stadium I der Rissausbreitung nur in den oberflächennahen Körnern der verformungsfähigen Phase beobachtet. Ferner wird die Rissbildung durch Spannungskonzentrationen an Korn- und/oder Phasengrenzen sowie nahe von intermetallischen und/oder intermediären Verbindungen sowie Einschlüssen begünstigt. Zudem sind bei den in der technischen Praxis benutzten Werkstoffen und Werkstoffzuständen auch beim Fehlen makroskopischer Kerben die mikroskopischen Bearbeitungsmerkmale viel bestimmender für die Rissbildung und die anfängliche Rissausbreitung als submikroskopische Strukturdetails, so dass auch hier im Allgemeinen kein Stadium I der Rissausbreitung beobachtet wird. Allgemein gilt, dass der größte Teil der sich ausbildenden Ermüdungsbruchfläche eine im Rissausbreitungsstadium II geschaffene makroskopische Rissfläche ist. Alle folgenden Angaben beziehen sich auf Rissausbreitung im Stadium II.
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Weiterführende Literatur
Hertzberg, R.W.: Deformation and Fracture of Engineering Materials, 4th edition, Wiley, 1996
Schwalbe, K. H.: Bruchmechanik metallischer Merkstoffe, Hanser, München, 1980
Heckel, K.: Einführung in die technische Anwendung der Bruchmechanik, 3. Aufl., Hanser, München, 1991
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Macherauch, E., Zoch, HW. (2011). Ausbreitung von Ermüdungsrissen. In: Praktikum in Werkstoffkunde. Vieweg+Teubner. https://doi.org/10.1007/978-3-8348-9884-5_64
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