Zusammenfassung
Die 89-jährige Frau M. kommt mit wütendem Gesicht aus ihrem Zimmer. Als sie mich entdeckt pflanzt sie sich drohend vor mir auf, zeigt anklagend mit dem Finger auf mich und schreit laut mit schriller Stimme: „Sie haben mir die Handtasche gestohlen! Wenn Sie da sind, fehlt mir jedes Mal etwas! Stehen Sie nicht so da und schauen Sie nicht so blöd! Ich habe Sie genau beobachtet. Sie sind eine Diebin! Ich werde die Polizei rufen!“ Ich bin erschrocken, entsetzt, getroffen, gekränkt. Noch gestern habe ich mit Frau M. ein nettes Gespräch geführt. Sie ist eine der wenigen „vernünftigen“, einigermaßen orientierten Patientinnen. Sie weiß wie sie heißt, wie alt sie ist, dass sie im Pflegeheim ist. Sie kann lesen und schreiben, sich gut ausdrücken und versteht alles, was man ihr sagt. Wie kommt sie plötzlich auf diese Idee? Was habe ich ihr getan? Warum beschuldigt sie gerade mich? Ich versuche mich zu verteidigen, ihr zu erklären, dass ich ihre persönlichen Sachen nie anrühre. Ich möchte sie beruhigen. Jeder kann einmal etwas verlegen. Ich biete ihr an die Tasche zu suchen. Begütigend lege ich die Hand auf ihren Arm. Frau M. zuckt wie von der Tarantel gestochen zurück und schreit empört: „Rühren Sie mich nicht an! Sie sind eine schlechte Frau!“ Je mehr ich mich bemühe, desto aufgeregter und lauter wird Frau M. Ich bin ratlos, fühle mich hilflos, wütend, verletzt. Ich erkläre ihr, dass sie sich irrt, beteuere verzweifelt meine Unschuld. Frau M. zeigt weiter anklagend auf mich und schreit immer lauter: „Diebin, Diebin!“ Ein Besucher dreht sich um und starrt mich an. Ich spüre, wie ich rot werde. Tränen brennen in meinen Augen. Von dem Lärm aufgeschreckt eilen 2 Kolleginnen zu Hilfe und befreien mich endlich aus der immer unerträglicher werdenden Situation.
Siehst Du den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehen
Matthias Claudius (Abendlied, 3. Strophe)
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Literatur
Die Bibel: Das alte Testament, Genesis 11
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Feil N (1999) Validation. Ein neuer Weg zum Verständnis alter Menschen. Ernst Reinhardt Verlag, München
Feil N (2000) Validation in Anwendung und Beispielen — Der Umgang mit verwirrten, alten Menschen, 2. Aufl., Ernst Reinhard Verlag, München
Moeschl P (1999) Das Sterben der anderen — ein liberales Paradoxon? Humanismus, Demokratie und Sterbehilfe. Wien
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Kojer, M., Gutenthaler, U., Schmidl, M. (2003). Validation nach Naomi Feil. In: Gatterer, G. (eds) Multiprofessionelle Altenbetreuung. Springer, Vienna. https://doi.org/10.1007/978-3-7091-3790-1_19
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