Zusammenfassung
Alleinlebende sind definiert über das, was sie nicht haben — keinen Menschen, dem sie „zugehörig“ sind und der mit ihnen das Alltagsleben teilt; in dieser Sicht liegt die Gefahr einer Defizitperspektive. Befriedigende körperliche und seelische Beziehungen, vertrauter Gedankenaustausch, Zärtlichkeit und Sexualität, Geborgenheit und emotionale Sicherheit auch in kritischen Lebenssituationen (verkürzt gesagt: ein „Bedürfnis nach Nähe“), sind Wünsche, die jeder Mensch, unabhängig von seiner privaten Lebensform, mehr oder weniger ausgeprägt hat und die immer wieder in Widerspruch zu Bedürfnissen nach Autonomie und der Sorge für sich selbst geraten. Die Gratwanderung zwischen Nähewünschen und Eigenständigkeit, so unterschiedlich sie für Familienmenschen und Alleinlebende, ja, für jeden Einzelnen ausgeprägt sein mögen, ist eine Aufgabe, die sich nahezu allen stellt. Wir können in dieser Studie über Alleinlebende nicht vergleichen, wie gut oder unbefriedigend diese Balance den Befragten gelungen ist im Vergleich zu Menschen, die in einer stärkeren Bindung leben.
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Referenzen
Zu den Koch- und Ernährungsgewohnheiten von Alleinlebenden heißt es in der Berliner Morgenpost vom 20. Juli 1997: „Fertig- und Tiefkühlgerichte verzehrt die Hälfte der Alleinlebenden nie, die andere Hälfte weniger als einmal wöchentlich. Weibliche Singles im Alter zwischen 30 und 40 Jahren kaufen Öko-Produkte mehr als doppelt so häufig wie der Durchschnittsbürger!“ 56 Diese Frage war mit wenigen anderen Fragen zum sozialen Netz Bestanteil des standardisierten Kurzfragebogens, der allen Interviewten nach Beendigung des biographischen Interviews vorgelegt wurde.
Stolk, Wouters (1987) unterscheiden zwischen einem „partnerschaftlichem Beziehungsideal“, bei dem die Rechte und Pflichten tendenziell gleich verteilt sein sollen, und einem „Ideal des harmonischen Ungleichgewichtes“, bei dem der Frau die versorgende und dem Mann die führende und schützende Rolle zukommt.
Vgl. den Überblick von Rosemarie Nave-Herz (1988)
Vgl. stellvertretend Nave-Herz 1988 und Beck-Gernsheim 1992.
Giddens 1995, 143, sich auf Erikson beziehend
soziales Netz Beziehungen Der Begriff soziales Netz steht im Folgenden verkürzt für die sozialen Beziehungen, die nicht (überwiegend) sachlicher Natur sind, nicht für Leistungen des Wohlfahrtsstaates.
Die Herauslösung des Menschen aus traditionell gewachsenen Bindungen, Glaubenssystemen und Sozialbeziehungen lässt ein Vakuum entstehen, dass sich den Einzelnen als Frage nach dem Lebenssinn zeigt. Elmar Soehnges ist ein solch moderner Mensch, der auch im Verlauf des Interviews verschiedentlich die Sinnfrage anspricht. Auf diesem Hintergrund vermischt sich die Sehnsucht nach dem Liebespartner, der -partnerin mit dem „Suchen nach dem eigenen Selbst, bis auf den Grund. Dies wird durch die andere Person erreicht, im Dialog mit ihr, in der Begegnung, in der jeder Anerkennung im anderen sucht, im Akzeptieren, im Verständnis, in der Bestätigung und Befreiung dessen was war, und dessen was ist.“ (Al-beroni 1983, 132 und 67, zit. nach Beck-Gernsheim 1986, 150)
Anni Moosberger hatte nach Abschluss des Interviews das Bedürfnis, mir ausführlich zu erklären, dass sie deshalb immer wieder um konkrete Fragen gebeten habe, weil sie nie von sich erzähle. Entgegen meinen Erwartungen, dass Frauen leichter Persönliches von sich mitteilen als Männer, zeigten nur einige Frauen ein offenes Unbehagen, frei über sich zu erzählen. Es muss hier offen bleiben, ob dies auch Ausdruck der an anderer Stelle ausgeführten Beobachtung ist, dass geschlechtstypische Unterschiede bei Alleinlebenden weniger stark ausgeprägt sind.
kadermäßig Susanne Ebenholz hat innerhalb einer kadermäßig orientierten linken Gruppierung eine antiautoritäre Außenseiterrolle. Im Vergleich mit traditionellen Vereinen und ihren Satzungen gehörte, trotz einer straffen Organisation, die streitbare Diskussion um die Ziele und Strategien der Organisation zum Selbstverständnis der Gruppen.
Dabei muss allerdings angemerkt werden, dass existentielle Lebensprobleme in der Untersuchungsgruppe weitgehend nicht vorhanden waren. Kei-ne(r) der Alleinlebenden berichtete von gesundheidichen Einschränkungen, die finanzielle Unterstützungsleistungen oder personelle Hilfeleistungen erfordert hätten. Und nur einer befand sich in einer finanziell bedrückenden Lebenslage; er war dauerarbeitslos und lebte von Sozialhilfe; dennoch war auch für ihn seine materielle Lebenssituation gegenüber seiner Abschottung von anderen Menschen zweitrangig.
Einen unfreiwilligen Verlust traditioneller Strukturen haben zum Beispiel viele Alleinlebende aus den neuen Bundesländern erlebt, deren Arbeitskollektive und Clubs aus Zeiten der DDR auseinander brachen. Diese Alleinlebenden — es waren unter den von uns befragten in den NBL vorwiegend arbeitslos gewordene Frauen mittleren Alters — erwiesen sich als besonders gefährdet zu vereinsamen. Von ihren persönlichen Voraussetzungen gleichen sie den Alleinlebenden mit traditionellen Netzwerken, die ihnen aber durch aufgezwungene Umbrüche verloren gegangen sind.
Wohlrab-Sahr (1995) zeigt am Beispiel von Zeitarbeiterinnen komplexe Berufsstrategien auf, die im landläufigen Verständnis als Misserfolg bezeichnet werden müssen, sich auf der Folie biographischer Aufgaben — in diesen Fällen der Bewältigung biographischer Unsicherheit — aber sehr wohl als Erfolg interpretieren lassen.
Wohlrab-Sahr macht darauf aufmerksam, dass beruflicher Erfolg im landläufigen Verständnis eng gekoppelt sei an „eine(r) kulturell etablierte(n) und bereichsspezifisch ausgeformte(n) Zeitordnung inklusive der damit verbundenen regulativen Normen wie Verbindlichkeit, Zielstrebigkeit, Beharrlichkeit etc.“ (dies. 1995, 234).
Das skizzierte Muster beruflicher Biographien trifft vor allem auf westdeutsche jüngere allein lebende Frauen unserer Untersuchung (Geburtsjahrgänge 1953 – 1962) zu. Fünf der zehn interviewten Alleinlebenden dieser Gruppe haben ihre berufliche Sicherheit aufgegeben, teilweise aufwendige Weiterbildungen gemacht und große finanzielle Einbußen und gelegentliche Phasen der Arbeitslosigkeit hingenommen, um sich in ihrer Arbeit verwirklichen zu können. Erlebnisbetonte und kreative Berufe (Tourismusbranche, Graphik/Design, Schriftstellerei, Schauspiel, freiberufliche Arbeit im alternativen Gesundheitsbereich) sind typisch für diese Frauen. Zwei weitere Frauen dieser Gruppe haben im Kunst- bzw. Tourismusbereich eine gesicherte berufliche Position erreicht.
Susanne Ebenholz ist die einzige von mir interviewte Alleinlebende, die eine eigenständige Erwerbsbiographie als Voraussetzung für ihr Alleinleben anspricht.
Dass sie nach ihrer Einschätzung etwa das Dreifache bekommt, ist mit Sicherheit eine Fehleinschätzung, zumal sie im „Kurzfragebogen“ ein Nettoeinkommen zwischen 3000 und 4000 Mark ankreuzt.
Tölke (1996) setzt sich auf der Basis einer eigenen repräsentativen Untersuchung kritisch mit dieser Annahme auseinander.
Mütter tragen heute angesichts der Instabilität von Ehen, auch wenn sie verheiratet sind, ein höheres Risiko, in eine materielle Notsituation zu kommen, als allein lebende kinderlose Frauen — eine bemerkenswerte historische Umkehrung von Lebensrisiken.
Niemand der 13 von mir interviewten Alleinlebenden hat bei wichtigen Weichenstellungen dem Beruf eine Priorität gegenüber einer Partnerschaft eingeräumt. eigenen Keine der Lebenserzählungen lässt eine Weichenstellung gegen eine Partnerschaft bzw. Familiengründung erkennen, um eine bessere Einkommenssituation zu erreichen oder einen erreichten Lebensstandard zu erhalten. Kinderwunsch aus materiellen Gründen aufgeschoben;Niemand der 13 von mir interviewten Alleinlebenden hat bei wichtigen Weichenstellungen dem Beruf eine Priorität gegenüber einer Partnerschaft eingeräumt. In keinem Fall wurde zugunsten des Berufs entschieden, als eine ausbildungs- oder berufsbedingte Mobilität einer Partnerschaft oder Familiengründung entgegengestanden hat. Umgekehrt ist Gisela Amdorf, deren Ehe geschieden wurde, ihrem Mann bei seinen ausbildungsbedingten Wohnortwechseln gefolgt um den Preis, dass sie auf die Anerkennung ihres Aufbaustudiums verzichtet hat, wie auch Inge Pechler aus gleichem Anlass berufliche Nachteile in Kauf genommen hat. Ebensowenig war die Länge der eigenen Ausbildung für ein Hinausschieben einer Familiengründung, die später nicht mehr verwirklicht wurde, verantwortlich. Keine der Lebenserzählungen lässt eine Weichenstellung gegen eine Partnerschaft bzw. Familiengründung erkennen, um eine bessere Einkommenssituation zu erreichen oder einen erreichten Lebensstandard zu erhalten. Es haben wohl einige der geschiedenen Alleinlebenden in ihrer zurückliegenden Ehe ihren Kinderwunsch aus materiellen Gründen aufgeschoben; dann scheiterte die Beziehung, bevor die — für junge Paare typischen — Bedürfnisse, wie Beenden einer Ausbildung, grundlegende Anschaffungen oder Reisen, erfüllt waren. Gemessen an repräsentativen Untersuchungen weist das kleine Sample eine recht gute Verteilung der Bildungsabschlüsse auf.
zur von Auf der Basis repräsentativer Daten über Alleinlebende zwischen 35 und 54 Jahren kommt Weidacher zu folgender Einschätzung: „Das Ergebnis aus dem Vergleich durchschnittlicher Einkommenswerte nach Bildungsstatus und Berufsposition unterstützt — wenn auch mit allen nötigen Vorbehalten — die These, dass es ein Phänomen „Ledige Karrierefrauen“ geben könnte, wobei hier nur Aussagen zur Einkommenssituation, zu Bildungsstatus und Berufposition zur Debatte stehen, nicht aber Gründe dafür, weshalb dieser Personenkreis (noch) ledig ist.“ (ders. 1995, 310) Für die Bezeichnung „Karrierefrauen“ sind schon deshalb Vorbehalte angebracht, weil Weidacher die prozentuale Verteilung von Einkommen über 2 000 Mark bei ledigen Männern und Frauen vergleicht. In der gegenüber familiengebundenen Menschen umgekehrten Einkommensdifferenz zwischen ledigen Frauen und Männern spiegelt sich aber die Freiheit allein lebender Frauen zur Erwerbsarbeit und allein lebender Männer von Erwerbsarbeit.
Von den von mir interviewten Alleinlebenden zeigt nur Inge Pechler überdurchschnittliches Interesse und Freude an ihrem Beruf und zugleich wenige außerberufliche Interessen, verbunden mit einer unbefriedigenden sozialen Einbindung. Diese Konstellation erklärt sich meines Erachtens aus ihrer Überfixierung auf den angestrebten Ehestatus. Erst, seit sie auf Partnersuche ist, verbringt sie ihre Freizeit in einem organisierten Single-Club oder pflegt das Wochenendhaus ihres Freundes (dem sie im Blick auf eine gemeinsame Zukunft nicht traut).
Sie wurden ebenfalls im Rahmen des Forschungsprojektes interviewt vgl. Kapitel 2), finden aber in dieser Arbeit nur gelegentlich als Kontrastgruppe Erwähnung.
Geschiedene mit einem ernsthaften Wunsch nach einer Ehe (und Familie) heiraten in der Regel wieder nach weniger als fünf Jahren und hatten deshalb nur eine geringe Chance, in die Untersuchungsgruppe zu kommen.
Auf diesen Zusammenhang gehen u.a. Giddens (1992) und Beck-Gerns-heim (1986) ausführlich ein — Giddens im Kontext der „reinen Beziehung“ (wie er moderne Paarbeziehungen nennt, die nicht durch materielle Notwendigkeiten und institutionelle Absicherungen zusammengehalten werden) und Beck-Gernsheim, indem sie nach Gründen für die Instabilität von Paarbeziehungen in modernen Gesellschaften fragt, Beziehungen, die, da von materiellen Zwängen einigermaßen endastet, auf personenbezogener Stabilität gründen.
„Das Bedürfnis nach geteilter Innerlichkeit, wie es im Ideal der Ehe und Zweisamkeit ausgesprochen wird, ist kein Urbedürfnis wächst. Es wächst mit den Verlusten, die die Individualisierung als Kehrseite ihrer Möglichkeiten beschert. (Beck 1986:175)
Ich verweise hier auf die von Monika Wohlrab-Sahr (1993) entwickelte Kategorie „Dezentrierung“ zum Umgang mit biographischer Unsicherheit: „Diese Gestalt zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf keinem determinierenden Lebenszentrum aufruht, sondern auf einem verzweigten Geflecht von Stütz- und Orientierungspunkten.“ (316) An späterer Stelle werde ich zu zeigen versuchen, dass „dezentrierte“ Beziehungen, bei denen die fundamentalen Bedürfnisse, die in unserer Kultur in eheliche Beziehungen hineingetragen werden, auf verschiedenartige Beziehungen — sexuelle aber auch nichtsexuelle — verteilt werden, nicht die besonders instabile Variante moderner Ehen sind, sondern qualitativ anders sind als jene.
Die Haltungen und Kompetenzen, durch die sich die Gewinner unter den Alleinlebenden im Vergleich zu den Verlierern auszeichnen, entsprechen denen, die Cas Wouters (1982, 1986) im Informalisierungskonzept fasst, das auf der Zivilisationstheorie von Norbert Elias basiert; sie gehören auch zur postkonventionellen Ich-Identität (im Gegensatz zu konventioneller Iden-titätsformation) nach Habermas (1994). postkonventionellen Ich-Identität konventioneller Iden-titätsformation)
Zu solchen biographischen Konstellationen gehören beispielsweise Elmar Soehnges und Wolfgang Radspielers Übersiedlung aus der DDR in die BRD, die in beiden Fällen auf dem Hintergrund besonderer familialer Konstellationen mit sehr hohen Anpassungsleistungen verbunden waren, oder der familiale Milieuwechsel, den der neue Lebensgefährte der Mutter ins Leben von Susanne Ebenholz gebracht hat (der leibliche Vater ein Bildungsbürger, der Stiefvater ein einfacher Vollzugsbeamter). Solche positive Verarbeitung von Differenzerfahrungen ist sicherlich nur möglich, wenn die Begleitumstände ein notwendiges Mindestmaß an emotionaler Unterstützung nicht versagen.
Mit der Frage, ob Alleinlebende hoch individualisiert leben, befassen sich u.a. folgende Veröffentlichungen: Bachmann (1992), Beck (1997), die der These, Alleinlebende seien besonders hoch individualisiert, zustimmen. Hradil (1995); Imhof (1994); Kern (1998), die darauf verweisen, dass Individualisierung geschlechtsspezifisch unterschiedlich zum Tragen kommt, allein lebende Männer schlechter für den Individualisierungsschub gerüstet sind als allein lebende Frauen; Kolland (1997); Rosenmayr (1997); Scho-fer, Bender, Utz (1991); in einer Kontroverse mit den letzt genannten Autoren setzt sich Burkart (1993) kritisch mit der Unscharfe der Begrifflich-keiten in der Individualisierungsdiskussion auseinander und widerspricht zentralen Aussagen anhand einer Analyse aggregierter Daten zur Elternschaft in den USA. Im Übrigen entspricht der Vielfalt der Argumentationsstränge wie der Schlussfolgerungen eine geringe Übereinstimmung der verwendeten Begrifrlichkeit; beides ist an der mangelnden Ergiebigkeit dieser beliebten Diskussion beteiligt.
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Stich, J. (2002). Muster individualisierter Lebensführung — Voraussetzungen und Kompetenzen. In: Alleinleben — Chance oder Defizit. DJI-Reihe, vol 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09241-4_5
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