1 Grenzen der herkömmlichen Demenzbetreuung

In der „Behandlungsrichtlinie Demenz 2017“ der Japanischen Gesellschaft für Neurologie (Japan Society of Neurology) werden die Diagnosekriterien für Demenz (DSM-5)Footnote 1 wie folgt definiert: „In einer oder mehreren kognitiven Domänen (komplexe Aufmerksamkeit, exekutive Funktionen, Lernen und Gedächtnis, Sprache, perzeptuell-motorische Fähigkeiten, soziale Kognition) tritt im Vergleich zu einem früheren Leistungsniveau ein signifikanter Abfall der kognitiven Fähigkeiten auf, kognitive Defizite beeinträchtigen die Selbständigkeit bei den täglichen Aktivitäten und die Betroffenen benötigen Unterstützung bei komplexen instrumentellen Alltagsaktivitäten (IADL)“. In Japan stößt die Betreuung von Menschen mit Demenz allmählich an ihre Grenzen. Hauptsächlich ist dies auf den Personalmangel im Pflegebereich und einen Mangel an Betreuungseinrichtungen zurückzuführen.

1.1 Zunehmende Zahl an Demenzkranken und Pflegekräftemangel

Die Geburtenjahrgänge 1947 bis 1949 – die sogenannten Babyboomer – bilden eine zahlenmäßig starke Altersgruppe innerhalb der Bevölkerung Japans. 2025 werden alle Babyboomer 75 Jahre oder älter sein und damit in die Altersgruppe der Hochaltrigen aufrücken. In einer Studie des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt (im Folgenden: „MHLW“) wurde die Zahl der Menschen ab 65 Jahren mit Demenz auf 4,62 Mio. (Stand 2012) geschätzt, was einer Prävalenz von 15 % entspricht (MHLW, 2019). Im Jahr 2025 soll die Zahl der Demenzkranken unter der Bevölkerung ab 75 Jahren zwischen 6,75 und 7,3 Mio. liegen. Wenn der Alterungsprozess der Bevölkerung 2042 seinen Höhepunkt erreicht haben wird, werden etwa 39 Mio. Menschen in Japan 65 Jahre oder älter sein. Man geht davon aus, dass dann 20 % der über 65-Jährigen und 55 % der über 85-Jährigen dement sein werden, wobei der der Bevölkerungsanteil der Menschen ab 75 Jahren auch danach noch weiter ansteigen wird.

Für das Jahr 2025 erwartet das MHLW einen Mangel an Pflegekräften in der Größenordnung von etwa 340.000 Personen (MHLW, 2018). Am stärksten wird die Metropole Tokyo von dem Personalmangel betroffen sein – dort werden voraussichtlich knapp 35.000 Pflegekräfte fehlen. Schätzungen des Ministeriums für Wirtschaft, Handel und Industrie (METI) zum Pflegepersonalbedarf, basierend auf den jüngsten statistischen Daten, rechnen für das Jahr 2035 sogar mit einem Mangel von 690.000 Pflegekräften. Da infolge der bedenklich niedrigen Geburtenrate auch die erwerbsfähige Bevölkerung – der wichtigste „Träger der Pflege“ in Japan – drastisch zurückgeht, sind die Sorgen groß. Um den Personalmangel zu kompensieren, wurden diverse Maßnahmen ergriffen, u. a. die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte – insbesondere der Entgelte –, der Einsatz von Pflegerobotern und der Aufbau eines Umfelds für die Aufnahme von ausländischem Pflegepersonal. Man kann allerdings nicht behaupten, dass diese Maßnahmen den bestehenden Personalmangel in der Pflege grundlegend behoben hätten.

1.2 Mangelnde Ressourcen zur Betreuung von Menschen mit Demenz

In Japan gibt es diverse Betreuungseinrichtungen für ältere Menschen: private Altenheime mit Pflegeversorgung (im Folgenden „Altenheime“), Service-Wohnungen für Senioren (im Folgenden „Service-Wohnungen“), Altenpflegeheime, geriatrische Pflegeeinrichtungen, Care Houses (kostengünstige Seniorenheime), Group Homes (Heime mit Wohngruppen)Footnote 2. Als Service-Wohnungen werden Einrichtungen für ältere Menschen bezeichnet, die im Prinzip keine Pflege benötigen. Geriatrische Pflegeeinrichtungen richten sich an Patienten mit Reha-Bedarf. Sie zählen als  medizinische Einrichtung. Der Aufenthalt in diesen Einrichtungen ist zeitlich begrenzt, denn es wird davon ausgegangen, dass die Patient:innen früher oder später wieder in ihr Wohnumfeld zurückkehren werden. Folglich kommen für Menschen mit Demenz, die pflegebedürftig und in hohem Maße von medizinischer Versorgung abhängig sind, zum Wohnen de facto nur die o.g. Altenheime oder Altenpflegeheime infrage.

Aufgrund der hohen Kosten der Altenheime hoffen viele Demenzkranke und deren Angehörige auf einen Platz in einem Altenpflegeheim. Einem Untersuchungsbericht des MHLW über das Gesundheitswesen und die Förderung der Gesundheit älterer Menschen aus dem Jahr 2019 zufolge muss beim Einzug in ein Altenheim eine Vorauszahlung in Höhe von durchschnittlich 4,2 Mio. Yen geleistet werden, die zusätzlichen monatlichen Kosten belaufen sich auf durchschnittlich 280.000 Yen (MHLW, 2019). Tatsächlich dürften nur sehr wenige Menschen mit Demenz oder deren Familien in der Lage sein, diese Summen aufzubringen. Demgegenüber fällt bei den Altenpflegeheimen, die von Körperschaften der sozialen Wohlfahrt betrieben werden, keine einmalige Aufnahmegebühr an und die monatlichen Kosten liegen zwischen 60.000 und 150.000 Yen, womit der Zugang zu diesen Einrichtungen im Allgemeinen erschwinglicher ist als zu den Altenheimen.

Nach Angaben des MHLW haben sich 2019 etwa 292.000 Menschen um einen Platz in einem Altenpflegeheim beworben, stehen aber noch auf der Warteliste (MHLW, 2019). Allerdings beziehen sich diese Angaben auf Personen der Pflegestufe 3 oder höherFootnote 3. Bezieht man auch Personen der Pflegestufe 1 und 2 mit ein, erhöht sich die Zahl der Antragsteller sogar auf 340.000. Der Grund dafür, dass sich die Aufnahme in Altenpflegeheime schwierig gestaltet, ist die abnehmende Rentabilität der betreffenden Einrichtungen, bedingt durch sinkende Pflegevergütungen, rückläufige Zuschüsse sowie steigende Personalkosten. Dies hat dazu geführt, dass die Rendite von 12,0 % im Jahr 2010 auf 7,5 % im Jahr 2012 und weiter auf 2,5 % im Jahr 2014 absank. Auch wenn also die Nachfrage nach Plätzen in Altenpflegeheimen hoch ist, geht dies nicht mit einem Anstieg der Zahl der Einrichtungen einher, da der Betrieb einer solchen Einrichtung für die Betreiber angesichts der niedrigen Rendite unattraktiver wurde. Darüber hinaus ist es insbesondere in städtischen Gebieten schwierig, Pflegepersonal zu rekrutieren. Dies hat mitunter dazu geführt, dass selbst wenn neue Einrichtungen entstehen, nicht alle Zimmer besetzt werden können.

1.3 Grenzen der konventionellen Rehabilitation

Während also einerseits davon ausgegangen wird, dass die Zahl der Menschen mit Demenz weiter zunehmen wird, stößt auf der anderen Seite die konventionelle Demenzversorgung aufgrund des Mangels an Pflegepersonal und Pflegeressourcen (Einrichtungen) an ihre Grenzen. Weiter wird vermehrt darauf hingewiesen, dass „die herkömmliche Demenzversorgung in Form von Reha- und Freizeitangeboten (rehabilitation/recreation) das Fortschreiten der Demenz nicht aufgehalten hat“.

Die Demenzversorgung bezieht einerseits diverse Fachtherapien ein, wie Realitätsorientierung (ROT), Musiktherapie, Dōsa-Therapie (Bewegungsbehandlung), Gartentherapie oder Reminiszenztherapie, um das Fortschreiten der Demenz zu verzögern. Andererseits wird im Rahmen der Rehabilitation auch die sogenannte „Asobilitation“ eingesetzt. Es handelt sich hierbei um eine japanische Wortschöpfung aus den Wörtern „asobi“ (Spiel) und „Rehabilitation“; gemeint ist damit die Integration von Spiel(en) in die Rehabilitation. Typische Beispiele sind Handspiele, bei denen die Hände im Rhythmus der Musik abwechselnd geöffnet und geschlossen werden oder bei denen die rechte und die linke Hand jeweils unterschiedliche Bewegungen ausführen – eine Hand wird gespreizt, die andere zur Faust geballt usw. Es werden auch Origami gefaltet, mit otedama-Stoffsäckchen jongliert, Bilder ausgemalt und diverse andere Spiele gemacht. Bei den meisten dieser Asobilitation-Angebote handelt es sich um Spiele, bei denen Mitarbeiter:innen oder Helfer:innen der Einrichtung als Spielleiter:innen die Demenzkranken anleiten (Abb. 1), oder es sind Spiele, die ein Mensch mit Demenz alleine spielen kann.

Abb. 1
figure 1

Unidirektionale Handspiele in Pflegeeinrichtungen (oben) ohne Rückkopplung seitens des Demenzkranken (unten)

Vor dem Hintergrund des oben geschilderten Mangels an Pflegepersonal und an Pflegeressourcen (Einrichtungen) mag die Eins-zu-Viele-Kommunikation zu einem gewissen Grad unvermeidlich sein. Da auch die Tages- bzw. Wochenzeitpläne mehr oder weniger festgelegt sind, führt dies zwangsläufig zu einer Einheitsbetreuung. Allerdings ist eine auf den einzelnen Demenzkranken individuell abgestimmte Betreuung wünschenswert, um das Fortschreiten der Demenz aufzuhalten und den Zustand zumindest nach und nach etwas zu verbessern. Wenn ein fester Zeitplan dazu führt, dass ein Demenzkranker weniger Gelegenheiten hat, eigenständig zu denken und zu handeln, kann dies den Demenzzustand verschlimmern. Mit diesem Dilemma ist auch das Pflegepersonal in Altenpflegeheimen mit ganzheitlicher Pflege konfrontiert.

2 Für vernetzte Versorgungsstrukturen

2.1 Grundüberlegung

Im Folgenden wird auf die „vernetzte Versorgungsstruktur“ (meshugata kôzô kea) als die künftig erforderliche Form der Demenzversorgung eingegangen. Entwickelt wurde dieses Modell aus der Evaluierung fortschrittlicher Ansätze diverser Organisationen in der Demenzversorgung (Unternehmen, Gemeinschaften, Körperschaften der sozialen Wohlfahrt bzw. medizinische Einrichtungen).

Abb. 2
figure 2

Vernetzte Versorgungsstruktur

Anstelle der bisherigen einseitigen Betreuung in Form von „Hilfe geben und erhalten“ bezeichnet eine „vernetzte Versorgungsstruktur“ eine Betreuung, bei der alle Beteiligten eine Rolle übernehmen, man sich gegenseitig unterstützt und miteinander kommuniziert. Konkret können z. B. auch Menschen mit Demenz, solange sie nicht unter funktionellen Beeinträchtigungen der Gliedmaßen leiden, Menschen mit Behinderungen beim Essen unterstützen, und Personen mit kognitiven Einschränkungen können Köch:innen zur Hand gehen, sofern sie in der Lage sind, bestimmte vorgegebene Abläufe zu erlernen. Bisher wurden Menschen mit Demenz oder Behinderungen von Verwaltungsbehörden und „gesunden“ Menschen wie ehrenamtlichen Helfer:innen häufig einseitig in die Rolle der Hilfeempfänger:innen gedrängt. Dies gilt im Übrigen auch für ausländische Mitbürger:innen oder behinderte Menschen. Angesichts des demographischen Wandels und einer zunehmenden Diversität in der Gesellschaft stößt die oben beschriebene, einseitig ausgerichtete Unterstützung an ihre Grenzen. Ein geeigneter Ansatz, um dem Arbeitskräftemangel und der Ressourcenknappheit zu begegnen, wäre nach Auffassung der Verfasserin ein Gesellschaftsmodell, alle Gruppen, auch Demenzkranke und Behinderte, unabhängig von Nationalität, religiöser Überzeugung oder sexueller Orientierung Aufgaben übernehmen, wechselseitig kommunizieren und sich gegenseitig unterstützen (Abb. 2). Die Schlüssel zu einer vernetzen Versorgungsstruktur liegen in den Bereichen „Kommunikation und Gemeinschaft“ sowie „Rollen und Aufgaben“. Im Folgenden werden einige Praxisbeispiele für vernetzte Versorgungsstrukturen vorgestellt.

2.2 Praxis der vernetzen Versorgungsstruktur

Demenz und Kommunikation und Gemeinschaft

Wichtige Aspekte in der Demenzversorgung sind Kommunikation und Gemeinschaft. Jeder von uns gehört – lange vor einer Demenzerkrankung – einer Gemeinschaft an. Das ist zunächst die Gemeinschaft der Familie. Dort wachsen wir auf und kommunizieren mit unseren Eltern, Geschwistern oder Großeltern. Später werden wir Mitglied einer Gemeinschaft an der Schule und an der Universität. Nach Abschluss der Ausbildung werden wir Teil einer Gemeinschaft am Arbeitsplatz. Oft bauen wir auch Beziehungen zu weiteren Gemeinschaften auf – Gemeinschaften von Menschen mit denselben Hobbys oder die lokale Gemeinschaft. Leben und Kommunikation bzw. Gemeinschaft sind also untrennbar miteinander verbunden.

Auch in der Demenzbetreuung werden Kommunikation und Gemeinschaft große Bedeutung beigemessen. Betreuungsansätze, die nicht nur aus einem einseitigen Ansprechen bestehen, sondern darauf abzielen, bestimmte Handlungsketten auszulösen, wie das Zuhören und das dadurch angeregte Nachdenken über die nächsten Sätze, gelten als wirksam, um das Fortschreiten der Demenz aufzuhalten. Aus diesem Grunde wird unter Federführung des MHLW dazu aufgerufen, „Menschen mit Demenz verstärkt mit in die Kommunikation einzubeziehen“.

– Beispiel 1: Vom MHLW geförderte Demenz-Cafés –

Sog. „Demenz-Cafés“ bieten Menschen mit Demenz und ihren Familien die Möglichkeit, mit Menschen der lokalen Gemeinschaft oder Expert:innen in einen Informationsaustausch zu treten. Die Treffen finden z. B. ein- oder zweimal im Monat in öffentlichen Einrichtungen, Pflegeeinrichtungen oder Gemeindehäusern statt, mitunter auch in Cafés oder Gaststätten. Das Besondere an den Demenz-Cafés ist, dass sich auch Nicht-Betroffene an der Kommunikation beteiligen können. Die Veranstaltungen laufen nicht im Stil eines Frontalvortrags ab, sondern dienen dem Zweck, zusammenzukommen und miteinander zu sprechen. Menschen mit Demenz kommen miteinander ins Gespräch und Angehörige tauschen sich mit Angehörigen anderer Demenzkranker aus. Es soll sogar Fälle geben, in denen Pflegekräfte aus dem Bereich der Demenzpflege von Menschen mit Demenz aufgemuntert wurden. Das MHLW hat es sich zum Ziel gesetzt, bis Ende des Geschäftsjahres 2020 (31.März 2021) landesweit in allen Kommunen Japans Demenz-Cafés zu etablieren (MHLW, 2017).

An diesem Beispiel zeigt sich, wie die vernetzte Betreuung in der Praxis umgesetzt werden kann. Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen streben keine einseitige Betreuung durch Pflegekräfte an. Es sind durchaus auch Konstellationen denkbar, in denen sich die Demenzkranken und/oder ihre Angehörigen um Pflegekräfte oder Menschen in der lokalen Gesellschaft kümmern. Aus einer solchen Gemeinschaft heraus entsteht eine vernetzte Versorgungsstruktur.

– Beispiel 2: Partizipativer Sport –

Es gibt auch Beispiele für Kommunikation im Rahmen sportlicher Aktivitäten. Sportliche Betätigung dient nicht nur dem Aufbau der Muskelkraft oder der Vorbeugung von Stürzen, sondern löst aktive Motivation aus: so wollen die Betreffenden z. B. „besser als Herr oder Frau X sein“ oder überlegen sich „wie kann ich besser werden?“ oder werden dazu angeregt „es unbedingt selbst einmal auszuprobieren“. Darüber hinaus wird der Kommunikation im Rahmen sportlicher Aktivitäten eine vorbeugende Wirkung gegen kognitiven Funktionsabfall zugeschrieben. Sport fördert die Kommunikation über die Generationen hinweg, von Kleinkindern und Jugendlichen bis hin zu Erwachsenen, und es gibt durchaus auch Beispiele, in denen junge Menschen dabei etwas von den älteren Menschen lernen.

Die Verfasserin hat im Rahmen einer Studie untersucht, wie sich die psychische Stabilität von Menschen mit Demenz vor und nach sportlicher Aktivität – in diesem Fall „SNAG-Golf“- verändert (Fujita et al., 2019)Footnote 4. SNAG-Golf ist eine vereinfachte Version des Golfsports; anstatt ins Loch zu rollen, haftet der Ball dabei an einer Zielscheibe. Da diese Golf-Version auch mühelos von Menschen mit Demenz gespielt werden kann, kommt sie nicht selten auch als Freizeitaktivität in Innenräumen der Pflegeeinrichtungen zum Einsatz. Bei dieser sportlichen Aktivität wird der psychotherapeutische Aspekt der Reminiszenztherapie einbezogen und anhand eines psychologischen Tests, dem sog. „Baum-Test“Footnote 5, vor und nach dem Sport untersucht, inwieweit der Sport eine Wirkung hat.

Es konnte gezeigt werden, dass Motivation und Selbstbestätigung nach dem Sport höher waren und auch die Anzahl der aktiven Kommunikationshandlungen – von sich aus andere ansprechen – zugenommen hatte. Das lässt darauf schließen, dass das Fortschreiten der Demenz durch Sport verlangsamt werden kann. Überraschend war, dass es auch Situationen gab, in denen Menschen mit Demenz anderen Demenzkranken die Regeln erklärten und sie in das Putten einwiesenFootnote 6. Dies ist ein Beispiel für die oben erläuterte vernetzte Betreuung und ein Vorzeigemodell dafür, wie Menschen mit Demenz, die bisher ausschließlich Empfänger von Betreuung waren, sich gegenseitig umeinander kümmern, indem sie miteinander in eine Kommunikation treten, was eine hemmende Wirkung auf das Fortschreiten der Demenz hat.

Demenzfreundliche Kommunen

Das MHLW fördert derzeit bis 2025 den Aufbau von „Systemen zur Bereitstellung von lokalen integrierten Unterstützungs- und Serviceleistungen (lokales integriertes Versorgungssystem)“, die darauf abzielen, die Würde älterer Menschen zu erhalten und ihr selbständiges Leben zu unterstützen. Diese Versorgungssysteme sollen ältere Menschen in die Lage versetzen, so lange wie möglich in ihrer vertrauten lokalen Umgebung zu leben und bis zum Lebensende ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Diese integrierten lokalen Versorgungssysteme, die Demenzkranke und ihre Angehörigen mit einbeziehen, können als demenzfreundliche Kommunen bezeichnet werden.

Laut der britischen Alzheimer`s Society zeichnet sich eine demenzfreundliche Kommune dadurch aus, dass „Menschen mit Demenz motiviert sind, Selbstvertrauen haben und spüren, dass sie einen Beitrag zu sinnvollen Aktivitäten leisten und daran teilhaben können“ (Alzheimer’s Society, 2013). „Um das Ziel einer lokalen Gemeinschaft oder Gesellschaft zu verwirklichen, in der Menschen auch mit einer Demenzerkrankung als Mitglieder der lokalen Gemeinschaft an der Gesellschaft teilhaben und ein Alltagsleben führen können, muss vor allem die Gesellschaft sich ändern – sei es im Hinblick auf Vorurteile gegenüber Demenzkranken, das physische Umfeld oder die zwischenmenschlichen Kontakte.“ (Tokuda, 2018). Da die Zahl der Demenzkranken bisher sehr begrenzt war, wurden die Probleme kaum wahrgenommen. Angesichts der starken Zunahme ist es jedoch nicht länger möglich, die Probleme ausschließlich den Demenzkranken und ihren Angehörigen zu überlassen. So entstand die Idee der Gründung von lokalen Gemeinschaften mit dem Ziel, sich um die Demenzkranken und ihre Angehörigen gemeinsam zu kümmern. In der Praxis spricht man von demenzfreundlichen Kommunen, und es sind diese Kommunen, die die tragende Säule der oben erläuterten vernetzten Versorgungsstruktur bilden.

Welche Maßnahmen hat nun die Verwaltung in Japan angesichts der rapide ansteigenden Zahl älterer Menschen bei einer gleichzeitig schrumpfenden Bevölkerung ergriffen? Und wie stellt sich die Situation der demenzfreundlichen Kommunen in Japan derzeit dar? Hierzu sollen im Folgenden zwei zukunftsweisende Initiativen aus den Städten Fujinomiya in der Präfektur Shizuoka und Machida in der Präfektur Tokyo vorgestellt werden, die seit längerem an der Umsetzung einer demenzfreundlichen Gemeinschaft in Japan arbeiten.

– Beispiel 3: Demenzfreundliche Kommune –

Fujinomiya ist eine Stadt mit 130.000 Einwohnern in der Präfektur Shizuoka und legt seit 2008 bei der Stadtgestaltung den Fokus auf Menschen mit Demenz. Jedes Jahr werden hier die „D-Series“ veranstaltet, ein landesweites Softballturnier für Menschen mit Demenz. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch im Organisationsteam immer Demenzkranke beteiligt sind. Auch der Ansatz bei Vortragsveranstaltungen zum Thema Demenz ist außergewöhnlich: In der Regel halten bei solchen Veranstaltungen Ärzt:innen oder andere Spezialist:innen Vorträge für Angehörige, die Familienmitglieder mit Demenz unterstützen. In Fujinomiya treten jedoch zuweilen auch demente Personen als Redner:innen auf. Die Veranstaltungen richten sich sowohl an Personen in der Demenzbetreuung als auch an ein allgemeines Publikum und bieten Demenzkranken die Gelegenheit, selbst zu Wort zu kommen. Auf diese Weise fördert Fujinomiya das Konzept einer Stadtgestaltung, bei der Menschen mit Demenz, die sie unterstützenden Angehörigen, aber auch Menschen ohne Demenz miteinander über sie gemeinsam betreffende Themen sprechen. Auch Demenzkranke empfinden Freude dabei, wenn sie einen Beitrag zur lokalen Gemeinschaft leisten und für andere Menschen nützlich sein können. In der konkreten Umsetzung sieht das dann so aus, dass auch Menschen mit Demenz aus der Sicht als Betroffene Ideen und Vorschläge einbringen, die dann im Kreis von Menschen mit und ohne Demenz gemeinsam besprochen werden. Bei diesem Format wird Demenz nicht gleichgesetzt wird mit einseitigem Empfangen von Hilfe, sondern es haben Menschen mit Demenz eine Aufgabe in der Gemeinschaft und unterstützen somit andere, sowohl demente als auch nicht-demente Menschen.

– Beispiel 4: Demenzfreundliche Kommune –

Die Stadt Machida hat 430.000 Einwohner und ist eine sogenannte Schlafstadt im Westen der Metropole Tokyo. Der Anteil der älteren Bürger ist dort stetig angestiegen. Für 2025 wird mit einem Altenquotienten von 25,5 % (etwa 110.000 Personen) gerechnet. Die Zahlen veranschaulichen, dass Machida auch im Vergleich zu anderen Regionen in Japan hinsichtlich der Alterung der Bevölkerung vor ganz besonderen Herausforderungen steht. Seit 2015 bemüht man sich verstärkt, bei der Stadtgestaltung und im Rahmen kommunalpolitischer Maßnahmen und Initiativen die Meinungen und Wünsche von Menschen mit Demenz einzubeziehen.

Bei einem Tagespflegedienst in Machida beginnen beispielsweise die morgendlichen Meetings damit, dass jeder einzelne Gast – einschließlich der Demenzkranken – gefragt wird, was er/sie an dem Tag gerne tun möchte. Auch unter Demenzkranken gibt es durchaus Unterschiede hinsichtlich der körperlichen Verfassung und ihrer sonstigen Fähigkeiten. Bei dem genannten Tagespflegedienst wird großen Wert darauf gelegt, dass die dementen Personen selbst überlegen, was sie heute machen können und was sie tun wollen. Darüber hinaus verrichten die Demenzkranken, die die Tagespflegestätte nutzen, Tätigkeiten für lokale Unternehmen. Sie waschen z. B. im Auftrag lokaler Autovermieter und Autohändler Fahrzeuge oder schälen für einen Gemüsegroßhändler Zwiebeln für dessen Gewerbekunden – all dies gegen Entgelt. Die Demenzkranken arbeiten also und erhalten dafür eine Vergütung. Wie im Fall der Stadt Fujinomiya werden die Demenzkranken in Machida nicht nur einseitig betreut, sondern nehmen eine gesellschaftliche Aufgabe wahr. Eine solche demenzfreundliche Gemeinschaft verlangsamt nicht nur das Fortschreiten der Demenz, sondern kann zweifelsohne auch dazu beitragen, den Arbeitskräftemangel in der Demenzversorgung abzubauen.

Praxisbeispiele für die Übertragung von Aufgaben an Menschen mit Demenz

Erstaunlich viele Menschen betrachten Demenzkranke ausschließlich als Empfänger von Unterstützung. Überträgt man jedoch Demenzkranken gewisse Aufgaben, entwickeln sie ein Verantwortungsbewusstsein, was unter Umständen das Fortschreiten der Demenz verzögern kann. Auch in Pflegeeinrichtungen wie Altenpflegeheimen mit ganzheitlicher Pflege wird vermehrt Ergotherapie eingesetzt. So werden die Demenzkranken u. a. mit Aufgaben wie Gießen der Pflanzen und Bäume, Tischdecken und Servieren oder Reinigen betraut. Im Folgenden werden zwei Beispiele für vernetzte Versorgungsstrukturen vorgestellt, bei denen Menschen mit Demenz Aufgaben zugewiesen wurden.

– Beispiel 5: Betreuung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Demenz „Share Kanazawa“ –

Share Kanazawa ist eine neue Siedlung in der Präfektur Ishikawa mit einer Fläche von ca. 360.000 m2. Auf dem Gelände befinden sich Service-Wohnungen für Senior:innen, ambulante Pflegeeinrichtungen, stationäre Einrichtungen für Kinder mit geistiger Behinderung und andere Sozialeinrichtungen, aber auch Studentenwohnungen mit Ateliers für Studierende der Kunsthochschule, Geschäfte, Bäder mit natürlichen heißen Quellen, Restaurants, Live-Music Clubs und andere Vergnügungseinrichtungen, Gemüsegärten oder Kochschulen. Ferner wurden eine Reinigung, ein Allwetterplatz, ein Hundeauslauf und ein Alpaka-Hof als Begegnungsstätten für die Anwohner:innen aus der Umgebung geschaffen. Bemerkenswert ist das zugrunde liegende Konzept: Es wird eine Siedlung angestrebt, in der ältere Menschen, Jugendliche, Kinder und Menschen mit und ohne Behinderungen in einem bunten Miteinander gemeinsam leben können.

In der Siedlung arbeiten Menschen mit Behinderungen in Läden oder helfen in der Restaurantküche beispielsweise beim Gemüsewaschen. Menschen mit Demenz arbeiten in der Landwirtschaft oder gehen Menschen mit Behinderungen beim Essen zur Hand. Es kommt auch vor, dass Studierende älteren Menschen beim Baden helfen. Share Kanazawa ist ein Modellprojekt für die von der japanischen Regierung geförderte „japanische Version des amerikanischen CCRC-Konzepts“. CCRC (Continuing Care Retirement Community) steht für eine „Gemeinschaft, in der auch ältere Menschen ihr Leben lang aktiv sein können“ (Matsuda, 2015). Das Besondere an Share Kanazawa ist jedoch, dass es sich hierbei um eine Gemeinschaft handelt, in der nicht nur ältere Menschen, sondern auch Menschen mit Demenz oder Behinderungen, Ausländer:innen sowie Kinder und Eltern in der Kindererziehungsphase leben. In diesem Sinne verkörpert Share Kanazawa die Idealform der von der Verfasserin favorisierten vernetzten Versorgungsstruktur: einen Zustand, in dem Menschen mit Demenz und/oder Behinderungen, die bisher ausschließlich auf die Rolle der Pflegeempfänger reduziert waren, an der Gemeinschaft teilhaben, in dem sie eine Aufgabe wahrnehmen. Das Gefühl, jemandem zu nutzen, verlangsamt nicht nur das Fortschreiten der Demenz, sondern kann wie gesagt auch dazu beitragen, den Mangel an Pflegeressourcen zu überwinden.

– Beispiel 6: Ein von dementen Menschen betriebenes Restaurant –

Im Restaurant des Vereins „Restaurant of Mistaken Orders“ setzt sich die gesamte Bedienung, die in der Gaststube Bestellungen aufnimmt und die Speisen serviert, aus Menschen mit Demenz zusammenFootnote 7. Daher kommt es durchaus auch vor, dass Bestellungen falsch aufgenommen bzw. weitergeben werden oder man das Essen eines anderen Gastes serviert bekommt. Aber wie der Name des Restaurants – Restaurant of Mistaken Orders – schon besagt, ist den Gästen bereits im Vorfeld bewusst, dass die Wahrscheinlichkeit von Fehlern bei der Bestellung hoch ist, daher gibt es auch so gut wie nie Beschwerden. Das Restaurant of Mistaken Orders veranstaltet zeitlich befristete Events, u. a. auch in einem Restaurant im Gebäude des MHLW. Die Initiative hat im In- und Ausland viel Beachtung gefunden, da sie zeigt, wie Menschen mit Demenz selbstbestimmt und mit viel Lebensfreude arbeiten, wenn ihnen eine Rolle zugewiesen wird. Dies ist ein Paradebeispiel für die Steigerung des Selbstbewusstseins durch Übertragung von Aufgaben an Demenzpatienten und ebenso wie „Share Kanazawa“ ein Vorzeigemodell für eine vernetzte Versorgungsstruktur.

3 Zur Demenzversorgung der Zukunft

In der bisherigen Praxis in Japan wurde das Thema dieses Beitrags zumeist aus der Perspektive heraus betrachtet, wie die Betroffenen von ihrem Umfeld unterstützt werden können. Dabei wurden demente Menschen meist in der Rolle der Empfänger:innen von Hilfe bzw. Pflege wahrgenommen, die von Nicht-Dementen erbracht wird (Laien oder Professionellen). Die Vorstellung, dass auch Demenzkranke andere Menschen unterstützen können, existierte bisher dagegen kaum. Wie die behandelten Praxisbeispiele gezeigt haben, kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und in der Übernahme von Aufgaben nicht nur das Fortschreiten der Demenz verzögert, sondern auch dazu beitragen kann, den Ressourcenmangel in der Pflege zu überwinden. In Abgrenzung zur herkömmlichen Betreuung bezeichnet die Verfasserin diese Konzepte als „vernetzte Versorgungsstrukturen“. Sie ist davon überzeugt, dass jeder Mensch – unabhängig davon, ob er an Demenz leidet oder nicht – den Wunsch hat, „einen Beitrag zur lokalen Gemeinschaft und Gesellschaft zu leisten“ und „anderen nützlich zu sein“. Eine Gesellschaft, in der Unterstützung keine Einbahnstraße ist, sondern in der eine wechselseitige Kommunikation, ein wechselseitiges Geben und Nehmen, zustande kommt – bietet für Japan angesichts des fortschreitenden demographischen Wandels ein ideales Leitbild für die Zukunft.

Auch die japanische Regierung hat inzwischen begonnen, den Aufbau vernetzter Demenz-Versorgungsstrukturen mit den Schwerpunkten „Kommunikation/Gemeinschaft“ und „Rolle/Aufgaben“ ernsthaft in Angriff zu nehmen: Mit dem „New Orange Plan (Umfassende Strategie zur Förderung von Maßnahmen gegen Demenz)“, den das MHLW seit 2015 vorantreibt, wird eine entsprechende Transformation der Gesellschaft angestrebt (MHLW, 2017) Im Sinne einer lokal integrierten Versorgung sollen sich künftig nicht nur die Angehörigen um Familienmitglieder mit Demenz kümmern, sondern alle Anwohner:innen der lokalen Gemeinschaft gegenseitig unterstützen. Im Rahmen des „New Orange Plans“ werden derzeit Maßnahmen zur Förderung von Demenz-Helfer:innen (dementia supporter) und Demenz-Cafés vorangetrieben. Damit soll eine offene und wechselseitige Kommunikation der beteiligten Akteure gefördert werden, mit dem Ziel, ausgehend von den über Demenz-Helfer:innen und Demenz-Cafés zustande kommenden Verbindungen lokale Gemeinschaften zu verwirklichen, in denen Menschen mit Demenz aktiv teilhaben können. Nur wenn dafür gesorgt wird, dass jeder einzelne Demenzkranke eine Aufgabe erhält, damit er/sie zur Gesellschaft beitragen kann, lässt sich der künftige Personal- und Ressourcenmangel im Bereich der Demenzpflege beheben. Eine wichtige, dabei zu lösende Herausforderung wird darin bestehen, zu klären, wie Menschen mit Demenz eine ihrer individuellen Situation angemessene Rolle übertragen werden kann, und wer diese Aufgabe der Rollenzuteilung übernehmen soll.