1 Einführung

Dieser Beitrag fokussiert die häusliche Pflege in Deutschland. Diese wiederum ist auf das Engste eingebunden in unterschiedliche soziale Kontexte vor Ort. Der Blick auf die kommunale Ebene erlaubt dabei eine genauere und ganzheitlichere Betrachtung der damit verbundenen vielfältigen privaten, zivilgesellschaftlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen und politischen Zusammenhänge. Dem entspricht fachwissenschaftlich ein Verständnis von Pflegebedürftigkeit als mehr als nur die begriffliche Fassung einer gesundheitlichen Versorgungssituation, sondern als eine einzelfallbezogene, komplexe und multidimensionale Behandlungs-, Pflege- und Unterstützungslage, wie sie auch die große Reform des Pflegebedürftigkeitskonzepts durch das Pflegestärkungsgesetz I (2015) adressiert.Footnote 1 Damit können auch die unterschiedlichen sozialen Lebenslagebedingungen und Bedarfe bei Pflegebedürftigkeit im häuslichen Kontext besser berücksichtigt werden, so vor allem finanzielle und/oder konkrete materiell-räumliche wie wohnbezogene Lage, Wohnumgebungsbedingungen, die Erreichbarkeit und die Nähe von Unterstützungspersonen oder Helfer:innen oder auch regionale Kontexte, wie z. B. ländlicher vs. (groß-)städtischer Raum, als weitere, die konkrete Situation einer/s Pflegebedürftigen zusätzlich prägende Merkmale der konkreten Versorgungssituation.

2 Pflegepolitische Herausforderungen

Deutschland gilt – neben Japan – gleichsam als „Pionier“ im Älterwerden der Bevölkerung und in der Versorgung ihrer von Pflegebedürftigkeit betroffenen Bevölkerung. Dabei dominiert – wie in Japan – die häusliche Versorgung. Zugleich ist die Binnenstruktur der älteren Bevölkerung von zunehmender Hochaltrigkeit und damit zusammenhängende Singularisierung, also Alleinleben, bzw. dem Zusammenleben sehr alter Paare im Zwei-Personen-Haushalt, gekennzeichnet. Mehr-Generationenhaushalte sind zur seltenen Ausnahme geworden. In Deutschland gibt es in den großen Ballungsgebieten zudem eine steigende Zahl von älteren Menschen mit Migrationsgeschichte, die Japan aufgrund der de facto schon immer praktizierten kulturellen Abschottung so nicht kennt. In beiden Ländern gibt es aufgrund eines starken Trends zur Abwanderung der jüngeren Bevölkerung aus den ländlichen Regionen in die Ballungsgebiete eine starke Konzentration von Gemeinden mit hohem Altersdurchschnitt auf dem Land.

In Folge dieser demografischen Entwicklung ist es in beiden Ländern zu einem starken Anstieg alterstypischer Pflegebedürftigkeit gekommen. In Deutschland gab es nach der offiziellen Pflegestatistik Ende 2019 etwa 4,1 Mio. im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung (GPV) anerkannte Pflegebedürftige, darunter weit überwiegend (sehr) alte Menschen (Statistisches Bundesamt, 2020). Für die kommenden Jahre wird mit einem weiteren Anstieg gerechnet. Für 2021 werden bereits 4,6 Mio. Betroffene berichtet. Ebenso wie in Japan wird auch in Deutschland dieser Trend zunehmend durch demenzielle Erkrankungen überlagert. Auch erfolgt hierzulande in derzeit rund 80 % der Fälle die pflegerische Versorgung zumeist zu Hause, darunter in der Mehrzahl der Fälle durch engere Familienangehörige, zumeist Frauen (vgl. Pkt. 3.3). Noch nie in der Geschichte Deutschlands ist so viel und so oft privat gepflegt worden wie heute. Und dabei sind die nicht unter die SGB XI geltende Legaldefinition passenden, da lediglich als „hilfebedürftig“ einzustufenden Betroffenen noch nicht einmal eingerechnet (Bäcker et al., 2020, Bd. II).

3 Deutschland: Langzeitpflege als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“

Die 1994/1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführte (für alle Bürger:innen pflichtige) gesetzliche Pflegeversicherung (GPV; Sozialgesetzbuch (SGB) XI) postuliert die Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“. Sie ist allerdings weniger entsprechend der Anliegen und Bedürfnisse einer im demografischen und sozialen Wandel stark wachsenden Bevölkerungsgruppe und ihrer vielen, zumeist aus dem privaten-familialen Umfeld stammenden Helfer:innen aufgebaut, verortet sich also nicht primär „aufgabenbezogen“, sondern gilt als weitgehend „akteursorientiert“ (Jacobs, 2020: 125). Die pflegerische Versorgung der Bevölkerung wird im SGB XI als „gemeinsame Aufgabe von Ländern, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen“ definiert (§ 8 Abs. 1 SGB XI). Dies gilt als Ausdruck ihrer subsidiären Ausrichtung und ist vor dem Hintergrund des demografischen Wandels jeweils mit besonderen Verantwortungszuweisungen verbunden. Gemeinsames Ziel ist die „Gewährleistung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur“. Allerdings wird zunehmend bezweifelt, ob dafür auch die entsprechenden Kompetenzen und Instrumente sachgerecht verteilt worden sind. Dies betrifft insbesondere die Kommunen, deren konkrete Versorgungsverantwortung vielen als „unpräzise“ (vgl. Pkt. 3.2) gilt, obwohl den konkreten lokalen Rahmenbedingungen eine ganz entscheidende Rolle für Ausmaß, Angemessenheit und Qualität der Versorgung zukommt. Dies betrifft weiterhin auch die Rolle der Familien als “größtem Pflegedienst der Nation“ (vgl. Pkt. 3.3) sowie die zunehmend politisch eingeforderte Mitwirkung zivilbürgerschaftlicher Kräfte und Engagierter im konkreten Leistungsgeschehen (vgl. Pkt. 3.4).

3.1 Bund und Länder als ordnungsgebende Instanzen

Sozialversicherungsprinzip und Umlageverfahren

Die GPV ist als fünfter Zweig der Sozialversicherung eingeführt, für die der Bund nach dem Grundgesetz die Gesetzgebungskompetenz hat. Davon hat er insofern Gebrauch gemacht, als er die unter dem Dach der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) angesiedelten gesetzlichen Pflegekassen zu Trägern der sozialen PflegeversicherungFootnote 2, die aktuell knapp 90 % der Bevölkerung erfasst, bestimmt und ihnen die Verantwortung für die Sicherstellung der eigentlichen pflegerischen Versorgung übertragen hat („Sicherstellungsauftrag“). Bis dahin war Pflegebedürftigkeit als Sozialhilfeleistung („Hilfe in besonderen Lebenslagen“) im primären Zuständigkeitsbereich der Kommunen. Diese waren als Hauptkostenträger aber zunehmend mit den demografisch stark wachsenden Kosten überfordert. Im Jahr der Einführung der Pflegeversicherung (1995) betrugen beispielsweise die kommunalen Sozialhilfeleistungen für „die Hilfe zur Pflege“ rund 18 Mrd. DM. Die Einführung der Pflegeversicherung war daher wesentlich auch mit dem Ziel der finanziellen Entlastung der Kommunen verknüpft. Sie gelten zusammen mit den Ländern und Einrichtungsträgern als wichtigste Protagonisten der Neuordnung der Kostenträgerschaft.

Die nach rund 25 Jahren intensiv geführten Debatten schlussendlich gefundene Sozialversicherungslösung entspricht dabei der in Deutschland vorherrschenden Bismarck`schen Tradition, die großen zentralen Risiken der Bevölkerung sozialversicherungsrechtlich abzusichern. Dies wird auch heute noch von den weitaus meisten als ein sozialpolitischer Erfolg gewertet. Denn es gelang – auf Basis eines breiten gesellschaftlichen Konsenses – eine substanzielle Ausdehnung des bestehenden und bewährten Sozialversicherungssystems auf die Absicherung eines zunehmend bedeutsamen (Alters-)Risikos. Organisatorisch wurde dabei eine enge Anbindung der SPV an die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) vorgenommen, aber nicht als deren Bestandteil, sondern „unter ihrem Dach“. Dabei gilt der Grundsatz: Die GPV folgt der GKV (Igl, 2018). Insofern ist auch die gesamte Bevölkerung einbezogen.

Wie die GKV finanziert sich auch die soziale GPV nach dem sozialversicherungsrechtlich typischen Umlageprinzip. Erhoben werden per Gesetz festgelegte , d. h. nicht regelmäßig dynamisierte, Beiträge vom Bruttoeinkommen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Seit Januar 2022 sind dies 3,05 % bzw. 3,4 % für Kinderlose ab 23 Jahre unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze der GKV. Dabei sind in der sozialen Pflegeversicherung alle krankenversicherungspflichtigen Personen Pflichtmitglieder. Kinder und Ehepartner:innen sind beitragsfrei mitversichert. Eine zusätzliche Steuerfinanzierung („Defizitdeckung“, wie in der GKV) gibt es nicht, wird aber zunehmend eingefordert.Footnote 3 Bei Leistungs-Gesamtausgaben von etwa 49 Mrd. EUR (2021) ergibt dies einen Anteil von Leistungsempfänger:innen zu Versicherten in der sozialen Pflegeversicherung von etwa 5,5 %.Footnote 4 Die Versichertengemeinschaft, die durch ihre Beiträge und zunehmend auch privaten Aufwendungen im konkreten Einzelfall weit überwiegend die Kosten der pflegerischen Versorgung trägt, die durch Leistungen der Pflegesicherung und weiterer, aus allgemeinen Steuermitteln finanzierte Zuwendungen für besondere pflegenahe Aufgaben lediglich teilweise abgemildert werden („Teilkaskoversicherung“), gilt als vielen als zunehmend überfordert. Infolgedessen gerät sie insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer wachsenden finanziellen Überforderung in das Blickfeld einer neuen Gerechtigkeitsdebatte in der bundesdeutschen Sozialpolitik (Bäcker et al., 2020, Bd. II).

Bundesländer mit Infrastrukturverantwortung

Den 16 Bundesländern und Stadtstaaten obliegt die Infrastrukturverantwortung. Sie sind hauptzuständig für die Vorhaltung einer leistungsfähigen, zahlenmäßig ausreichenden und wirtschaftlichen pflegerischen Versorgungsstruktur. Erst sehr viel später wurde dieser Auftrag um Qualitätsanforderungen erweitert. Näheres wird durch Landesrecht bestimmt (Föderalismusprinzip). Die meisten Bundesländerländer haben zu diesem Zweck eigene, allerdings von Land zu Land unterschiedlich ausgestaltete Landespflegegesetze erlassen, die den Kommunen stark voneinander abweichende Kompetenzen zuweisen (vgl. Pkt. 3.2). Als sozialpolitisch besonders fortschrittlich gilt u. a. Nordrhein-Westfalen (siehe auch den Beitrag von Igl in diesem Band). Das SGB XI sieht vor, die Länder, die Pflegebedürftigen und die Pflegeeinrichtungen dabei durch die finanzielle Förderung der Investitionskosten als Subjekt- oder Objektförderung zu unterstützen (z. B. „Pflegewohngeld“ in NRW).

Pflegekassen mit Sicherstellungsauftrag

Der eigentliche Sicherstellungsauftrag (gemäß § 69 SGB XI) obliegt den Pflegekassen (siehe unten). Sie sind dadurch die Hauptakteure der eigentlichen Versorgungsverantwortung vor Ort. Ihnen obliegt die konkrete Gewährleistung „einer bedarfsgerechten und gleichmäßigen, dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse entsprechende pflegerische Versorgung der Versicherten“. Ende 2020 gab es rund 130 gesetzliche Pflegekassen. In dieser Funktion sind sie zugleich die Kostenträger der sozialen Pflegeversicherung, womit de facto die Hauptverantwortung für die Pflegepolitik im engeren SinneFootnote 5 an die Kostenträger abgegeben wurde. Dies war und ist auch heute noch steter Anlass für kritische Diskurse rund um das SGB XI. Im Kern gilt: „Ohne sie geht heute gar nichts“: Sie haben nicht nur die Versorgungsverantwortung und sind de facto allein zuständig für den Marktzugang, ihnen obliegt auch die strategische Planungshoheit.

In dieser Funktion müssen sie das Angebot und die Qualität an erforderlichen Diensten und Einrichtungen in den einzelnen Gebietskörperschaften garantieren (Igl, 2018). Hierfür schließen sie Versorgungsverträge mit den Anbietern von pflegerischen Diensten und Einrichtungen ab. Ende 2019 gab es insgesamt 14.688 zugelassene ambulante Pflegedienste mit 421.550 Beschäftigten, davon 117.124 Vollzeitbeschäftigte, und 15.380 Pflegeheime mit 796.489 Beschäftigten, davon 231.847 Vollzeitbeschäftigte (Statistisches Bundesamt, 2020) (Siehe auch den Beitrag von Theobald in diesem Band). Unter den zugelassenen Diensten und Einrichtungen dominieren traditionell die in Deutschland weit verbreiteten Wohlfahrtsverbände und kirchlichen Träger. In einer stark wachsenden Zahl sind aber auch private gewerbliche Träger auf dem Pflegemarkt vertreten. Sie sind zumeist als Betreiber größerer, häufig mit konzernartig organisierten Strukturen („Pflegeheimketten“) und/oder qualitativ höherwertiger Heime tätig. Demgegenüber sind die Kommunen als Dienstanbieter und Einrichtungsträger heute kaum noch vertreten. Ihr Marktanteil belief sich Ende 2019 bei den ambulanten Diensten auf 1,1 %, und bei den Pflegeheimen auf 3,9 % (Statistisches Bundesamt, 2020). Dies ist das Ergebnis einer mit der Einführung der Pflegeversicherung kontinuierlich stattgefundenen „Entkommunalisierung“ der Pflege, da sich mit der nunmehr vorrangigen Kostenträgerschaft der Pflegekassen die weitaus meisten Kommunen aus ihrer bisherigen primären Versorgungsverantwortung zurückgezogen haben (Rubin, 2020: 57). Dafür waren insbesondere Kostenentlastungsargumente ausschlaggebend (Rhee et al., 2015; Igl, 2015, 2018). Das SGB XI räumt aber dennoch den Kommunen die Möglichkeit eines direkten Engagements für die pflegerische Infrastruktur ein, die aber immer seltener genutzt wird (Pfundstein & Bemsch, 2020).

Sicherstellungsauftrag als „Funktionssperre für die Kommunen“

Im Sicherstellungsauftrag der Pflegekassen sehen viele eine allerdings – wegen ihres Rückzugs aus dem Pflegemarkt – zu großen Teilen selbst mitverantwortete „Funktionssperre“ für die Kommunen. Mit dem SGB XI wurde ihre Rolle faktisch auf die lokale Versorgungskoordination reduziert, die allerdings in der Fläche qualitativ wie quantitativ höchst unterschiedlich ausgeübt wird.

Im Kern spiegelt sich in dieser seither gesplitteten Verantwortungszuweisung die Dominanz des Sozialversicherungsprinzips wider, das für die Absicherung der „großen“ sozialen Risiken zuständig ist wie Krankheit, Alter oder Arbeitslosigkeit. Für die gesundheitliche und pflegerische Versorgung in Deutschland gilt somit der Grundsatz: Sozialversicherungsrecht hat den Vorrang vor dem Kommunalverfassungsrecht (Burgi, 2013). Allerdings gibt es in Deutschland – zuletzt mit dem Pflegestärkungsgesetz III (2016/2018) (Pfundstein & Bemsch, 2020) – immer häufiger Bemühungen, die Rolle der Kommunen in der pflegerischen Versorgungsverantwortung vor Ort zu revitalisieren (vgl. Pkt. 3.2).

3.2 Pflege in den Kommunen und die kommunale Pflegeverantwortung

Im Gegensatz zu den Bundes- und Länderzuständigkeiten sind die Zuständigkeiten der Kommunen im Pflegeversicherungsrecht nur „unpräzise“ (Pfundstein & Bemsch, 2020) geregelt. Dem widerspricht auf der Nachfrageseite der lebensweltliche Erfahrungskontext. Kommunen sind zuerst und in besonderer Weise von demografischen Megatrends wie kollektives Altern der Bevölkerung und damit zusammenhängenden pflegerischen Versorgungserfordernissen betroffen (Naegele, 2010). Von ihnen erwarten – empirischen Studien zufolge – insbesondere ältere Menschen zuerst und zuvorderst Hilfe und Unterstützung in sozialen Anliegen (Generali Zukunftsfonds & Institut für Demoskopie Allensbach, 2013).

Kommunen als Orte sozialer Daseinsfürsorge

Die Kommunen sind als „Orte der (sozialen) Daseinsvorsorge“ in erster Linie zuständig, wenn es um die Gestaltung von Lebenslagen und –verhältnissen (Preller, 1962) sowie daraus resultierender sozialpolitischer Handlungsbedarfe geht. „Den Gemeinden muß das Recht gewährleistet sein, alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln.“ (Grundgesetz Art. 28 Abs. 2, S. 1) (Prinzip der Allzuständigkeit). Was alles zur sozialen DaseinsvorsorgeFootnote 6 der Kommunen zählt, ist nicht vorgegeben und gilt als Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen (Deutscher Bundestag, 2016). Folgt man neueren Rechtsauffassungen (z. B. Burgi, 2013) und der im Sozialstaatsprinzip verankerten verfassungsrechtlichen Vorgabe der „Gleichheit der Lebensverhältnisse“ (Bäcker et al., 2020 Bd. I), dann zählt im demografischen Wandel die gesundheitliche und pflegerische Versorgung der Bevölkerung mit dazu. Dies hat auch 2016 die vom Deutschen Bundestag eingesetzte 7. Bundesaltenberichtskommission betont, als sie eine „vorrangige kommunale Mitverantwortung für den Aufbau und die Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ postuliert hat (Deutscher Bundestag, 2016) (Siehe auch Punkt 4.). Dem entspricht, dass die Kommunen neben Familie, Freundeskreis und Nachbarschaft das nächst größere gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Umfeld bzw. den nächst größeren Bezugsrahmen zur Bewältigung der in den verschiedenen Lebensphasen auftretenden sozialen Risiken und Herausforderungen definieren. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass es auch innerhalb Deutschlands eine nicht unerhebliche Vielfalt unter den Gemeinden gibt und nicht jede Kommune a priori dafür finanziell und fachlich-qualifikatorisch in der Lage ist. Und dass auch alle Kommunen wirklich eine konkrete Mitverantwortung wollen, wird von vielen Fachleuten bezweifelt. Dennoch reklamieren deutsche Kommunen und ihre Verbände (z. B. Deutscher Städtetag, 2015) übereinstimmend, sie seien aufgrund ihrer besonderen Nähe zu den Betroffenen und ihren Familien und ihrer daher detaillierteren „Sicht der Dinge“ an der Durchführung des den Pflegekassen gesetzlich zugewiesenen Sicherstellungsauftrags stärker zu beteiligen.

Kommunen in der Praxis der pflegerischen Versorgung

Schon immer waren die Kommunen in vielfacher Hinsicht in die praktische pflegerische Versorgung jenseits der ihnen im SGB XI zugewiesenen lokalen Koordinationsfunktion aktiv eingebunden: so z. B. als Gewährleistungsträger und damit letztverantwortlich bei Versorgungsengpässen und Sonderbedarfen (z. B. für die Pflege von Migrant:innen) und zudem als Sozialhilfeträger zuständig für die „Hilfe zur Pflege“ nach §§ 61 ff. SGB XII („Restkostenfinanzierer“). Als örtliche Träger der allerdings zumeist als „freiwillige Leistung“ geltenden Altenhilfe gemäß § 71 SGB XII sind sie Anbieter diverser Maßnahmen im „vorpflegerischen“ (präventiven) Bedarfsbereich bzw. für pflegerische Aufgaben, die nicht durch die Pflegeversicherung aufgrund ihres begrenzten Aufgabespektrum vorgehalten werden. Dazu gehören beispielsweise Hilfen zur Weiterführung des Haushalts, Alten- und Wohnberatung und Wohnraumanpassung, soziale Kontakterhaltung oder sonstige Unterstützungs- und Begleitdienste. Zunehmend sind sie auch im Bereich der Pflegeberatung engagiert, obwohl dies eigentlich im Zuständigkeitsbereich der Pflegekassen liegt; hier seit 2017 auch explizit im Pflegestärkungsgesetz III benannt (Pfundstein & Bemsch, 2020; Pohlmann, 2020), etwa das Recht, im Rahmen der Gesetze eigene Pflegestützpunkte einzurichten. Die einzelfallbezogene häufige gemeinsame Zuständigkeit von Pflegeversicherung, örtlicher Altenhilfe und in vielen Fällen auch der Behindertenhilfe gemäß SGB IX verweist in besonderer Weise auf die Notwendigkeit, vor dem Hintergrund der komplexer gewordenen pflegerischen Bedarfslagen vor allem älterer Menschen und eines seit 2015 geltenden breiteren Verständnisses von Pflegebedürftigkeit die Aufgaben der Kommunen in der eigentlichen Pflegeversorgungsverantwortung zu präzisieren und dadurch zu stärken. Dazu stellt der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge in einem im November 2020 publizierten Positionspapier fest: „Nationale und internationale Vergleiche und erfolgreiche Modellprojekte belegen, dass die Kommunen eine zentrale Rolle spielen können, wenn es um eine bedarfsgerechte, wohnortnahe und präferenzorientierte Versorgungslandschaft geht – unter Stärkung wohlfahrtspluralistischerFootnote 7 Pflegesettings und –arrangements“ (Deutscher Verein, 2020: 20).

Zur Stärkung der Rolle der Kommunen in der örtlichen Pflegeversorgungsverantwortung

Der Deutsche Verein für öffentliche und private FürsorgeFootnote 8 hat sich 2020 (S. 20f.) wie folgt dazu geäußert: Dem tatsächlichen Leistungspotenzial der Kommunen in der praktischen Pflegeverantwortung vor Ort stünden „nur geringe Kompetenzen und Ressourcen“ gegenüber. Sie sollten „zur Gewährleistung einer bedarfsgerechten, innovativen und sozialraumorientierten Infrastrukturentwicklung im Bereich der (Langzeit-)Pflege stärker in Planung, Steuerung, Beratung und Entscheidung eingebunden werden“. Dazu empfiehlt er u. a. „eine verpflichtende Berücksichtigung der kommunalen Pflegeplanung bei der Zulassung von Einrichtungen der Pflege",  wie bereits in einigen Bundesländern wie NRW und Rheinland-Pfalz eingeführt (Naegele, 2018; Rubin, 2020). Diese sei in eine „kommunale Gesamtstrategie zu integrieren“, in die auch die „kommunale Altenhilfe nach § 71 SGB XII … unter Beteiligung der Zivilgesellschaft einzubeziehen“ sei. Die Pflegekassen sollen „gemeinsam mit den Kommunen aufeinander abgestimmte oder integrierte Beratungsstrukturen schaffen und unterhalten“ oder – falls dies nicht gewährleistet würde, „den Kommunen diese Aufgabe zuweisen, verbunden mit einer Refinanzierungspflicht“. Schließlich müsse auf „kommunaler Ebene die verbindliche Implementierung von effizienten, sektorenübergreifenden Care- und Case-Managementstrukturen auf der Basis fachlich anerkannter Standards erfolgen“ (Klie, 2020a).

Es bleibt abzuwarten, ob die auch für die nächste Legislaturperiode angekündigte weitere SGB-XI Reform zu einer flächendeckend wirksamen Stärkung der Rolle der Kommunen im Rahmen des SGB X I beitragen wird. Es gilt gerade hier immer noch die folgende Einschätzung zum SGB XI von 1993: „Nach der Reform ist vor der Reform“ (Igl & Naegele, 1993).

3.3 Familie als „größter Pflegedienst der Nation“

In Deutschland gilt die Familie als kleinste Einheit der Gesellschaft und ist verfassungsrechtlich geschützt. Gemäß Subsidiaritätsprinzip und Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) sind die Eltern und Kinder zur gegenseitigen Hilfe im Not- und Bedarfsfall verpflichtetFootnote 9, allerdings bei staatlicher Vorleistungsverpflichung (Familiensubsidiarität). Dies gilt in besonderer Weise für den Fall der (Langzeit-)Pflege. Es entspricht dabei der hierzulande auch heute noch – vor allem in den unteren Sozialmilieus vorherrschenden – pflegekulturellen Orientierung zur Übernahme der häuslichen Pflege durch Angehörige, auch wenn diese zunehmend an organisierte professionelle Unterstützung geknüpft ist: Ende 2019 wurden rund 80 % der Pflegebedürftigen gemäß SGB XI zu Hause versorgt (Statistisches Bundesamt, 2020). Diese Präferenz für die häusliche Pflege hat insbesondere mit der Neufassung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs noch zugenommen. Etwa 60 % der zu Hause Versorgten waren Frauen, rund ein Drittel war 85 Jahre und älter.

Dominanz der informellen Pflege in der häuslichen Versorgung

In der häuslichen Pflege dominiert die informelle Pflege zumeist durch engste Angehörige, darunter meist (Ehe-)Frauen, Töchter oder Schwiegertöchter. Nachbar:innen, Freund:innen oder Bekannte sind demgegenüber nur selten beteiligt (vgl. Pkt. 3.4). Die lange Zeit sehr seltene Pflege durch Männer scheint sich zumindest im Rentenalter allmählich auszuweiten, wenn auch gegenüber den Frauen auf einem deutlich niedrigen Niveau und mit anderen Schwerpunkten, im Wesentlichen im Management und in der Organisation. Direkte Männerpflege ist aber zumeist (Ehe-)Partnerinnenpflege. Häusliche Pflege wird zumeist zuerst vom Partner bzw. der Partnerin übernommen. Mit zunehmendem Alter des/r Pflegebedürftigen fühlen sich dann mehr und mehr die Kinder, meistens die Töchter, im Sinne einer lebenslangen Solidarität zuständig. Die Pflege durch Schwiegertöchter und –söhne ist demgegenüber deutlich seltener verbreitet. In der Mehrheit der Fälle lebt die Hauptpflegeperson in einem gemeinsamen Haushalt mit dem/r Pflegebedürftigen, dies gilt für Fälle mit hohen Pflegegraden fast ausschließlich. Angehörige der niedrigeren Bildungsgruppen und/oder Einkommensschichten sind in der aktiven Angehörigenpflege überrepräsentiert; u. a. auch, weil sie sich professionelle Unterstützung seltener finanziell leisten können und/oder das Pflegegeld für die Aufstockung eines zu niedrigen Haushaltseinkommens benötigt wird. Mit einem Durchschnittsalter von etwa 60 Jahren sind mehrheitlich selbst bereits ältere Frauen für oft noch ältere Angehörige tätig (Nowossadeck et al., 2016). Aufgrund der steigenden Erwerbsquote auch in den Altersgruppen ab 45–50 gewinnt das „neue“ Vereinbarkeitsproblem von Pflege und Beruf eine bis dahin ungeahnte Dynamik und hat sich zu einem der drängendsten sozialen Probleme in der ambulanten Altenpflege entwickelt, das zunehmend auch die Akteure in der Arbeitswelt beschäftigt (siehe dazu auch den Beitrag von Reichert in diesem Band).

Belastungsrelevante Grenzen der häuslichen Pflege

Die häusliche Pflege vor allem älterer Menschen ist heute mit immer anspruchsvolleren Voraussetzungen konfrontiert, die wesentlich mit dem demografischen und sozialen Wandel zusammenhängen. Neben dem Rückgang des familiären Pflegepotenzials aufgrund der niedrigen Geburtenraten, wachsender Kinderlosigkeit Älterer, der Zunahme von Ein-Personenhaushalten älterer Menschen und Instabilität von Ehen und Partnerschaften schränkt vor allem die steigende Frauenerwerbsarbeit die familiären Unterstützungs- und Pflegebereitschaftspotenziale ein. Hinzu kommt, dass infolge der gestiegenen beruflichen und räumlichen Mobilität die Wohnorte von Familienmitgliedern weit auseinanderliegen können.

Die empirisch in vielen Studien belegte Bandbreite der physischen wie psychischen Belastungen einer dauerhaften häuslichen Pflege (z. B. Jacobs et. al. (Hrsg.) 2015, 2016, 2017) zeigt die hohen Anforderungen, denen sich familiäre Pflegebereitschaft heute stellen muss, und dass diese immer stärker an effektive und nachhaltige materielle, professionelle wie zivilbürgerschaftliche Unterstützung gebunden ist, die vor allem von Angehörigen aus den mittleren und oberen Einkommens- und Bildungsschichten eingefordert wird. Der Pflegeaufwand steigt dabei erwartungsgemäß mit dem Pflegegrad. Der durchschnittlich für die tägliche Pflege erbrachte Zeitaufwand der Hauptpflegeperson entspricht dem eines Vollzeit-Arbeitstags. „Sich in die eigene Pflegebedürftigkeit hinein zu pflegen“, ist eine weit verbreitete Kurzbeschreibung der Belastungsdimensionen bei selbst bereits älteren und alten Hauptpflegepersonen. Andererseits kann häusliche Pflege auch mit positiven Konsequenzen verbunden sein. Viele Beziehungen wandeln sich auch zum Guten. Belege dafür sind das Gefühl, gebraucht zu werden, oder die Erkenntnis, neue Fähigkeiten erworben zu haben. Auch die aus einer starken lebenslangen emotionalen Zuwendung resultierende moralische Verpflichtung, die Mutter oder den Vater in dieser Situation nicht allein lassen zu wollen, ist ein wichtiges familiäres Pflegemotiv.

Professionelle Unterstützungspotenziale und „24-h Pflege“

Die kontinuierliche Zunahme der häuslichen Pflege hat trotz aller Probleme mehrere Ursachen, unter denen – neben Kapazitätsmängeln in der stationären Pflege – die ambulanten und teilstationären Unterstützungsleistungen der GPV dominieren. Durch die Zahlung von Pflegegeld, das je nach Pflegegrad gestaffelt ist und vorrangig vor professioneller Pflegeunterstützung gezahlt wird, wird ein unmittelbarer, finanzieller Anreiz für die Aufnahme der häuslichen Pflege ausgeübt (Dominanz des Geldleistungsprinzips). Weitere Anreize der GPV sind neben gezielten Beratungsleistungen (siehe den Beitrag von Igl in diesem Band) die zusätzliche Bereitstellung von ambulanten Pflegediensten, die bedarfsweise Finanzierung einer häuslichen Verhinderungspflege im Urlaubs- und im Falle der Krankheitsvertretung sowie die Möglichkeit, u. U. Einrichtungen der teilstationären Pflege (Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege) in Anspruch nehmen zu können. Auch Mittel für eventuell erforderliche bauliche Umrüstungsmaßnahmen in den Wohnungen sowie zur Anschaffung digitaler Unterrstützung stehen zur Verfügung. Mit diesem Gesamtpaket stellt das SGB XI gezielt auf eine Stärkung der häuslichen Pflege ab. Auch werden für nicht erwerbsmäßig tätige Pflegepersonen Renten- und andere Sozialversicherungsbeiträge gezahlt, also ggf. auch für pflegende Töchter/Schwiegertöchter.

Allerdings erhält trotz deutlich ausgeweiteter Pflegeberatungsangebote derzeit nur rund jeder dritte Pflegehaushalt eine ergänzende Hilfe durch einen der zugelassenen Pflegedienste. Dessen ungeachtet steigt die Nachfrage laufend, was als Indiz für wachsende Überlastung der privaten Pflegepersonen insbesondere im Falle gleichzeitiger Berufstätigkeit gilt. Es ist wegen der vorherrschenden pflegekulturellen Orientierung vor allem die Generation der jüngeren Hauptpflegepersonen, die professionelle Unterstützung nachfragen, weniger dagegen die Generation der pflegenden (Ehe-)Partner:innen.

Ein in jüngster Zeit zunehmend bedeutsam gewordenes „alternatives“ Pflegearrangement zielt auf die private Beschäftigung von im Pflegehaushalt lebenden Hilfskräften (sog. „Live-in-Arrangements“) mit angestrebter Versorgungssicherheit „rund um die Uhr“ („24 h Pflege“) (Klie, 2020b) (siehe auch den Beitrag von Kricheldorff in diesem Band). Die Pflegeversicherung bezahlt aber nur den entsprechenden Anspruch auf das Pflegegeld. Erfolgt eine reguläre Beschäftigung – hier wird der private Haushalt gleichsam zum Arbeitgeber –, fallen jedoch deutlich höhere Kosten an, die sich nur noch finanziell gut ausgestattete Familien leisten können. Zudem sind sozial- und arbeitsrechtliche Regelungen zu beachten wie Mindestlohn, Arbeitszeitgesetz, Entgeltfortzahlung, Urlaubsansprüche usw. Deshalb besteht ein hoher Anreiz, Betreuungskräfte illegal zu beschäftigen in Schwarzarbeit oder in Form von Scheinselbstständigkeit. Aufgrund der damit u. U. verbundenen strafrechtlichen und finanziellen Risiken gewinnt als Alternative die legale Beschäftigung von Kräften aus dem EU-Ausland im Rahmen des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes zunehmend an Bedeutung. In beiden Fällen handelt es sich dabei weit überwiegend um Frauen aus Osteuropa, vor allem aus Polen. Schätzungen für 2017 gingen dabei von mindestens 300.000 bis 400.000 Personen bei nicht genau bekannten Anteilen von legal und/oder illegal Beschäftigten aus, und mindestens jeder zwölfte Pflegehaushalt soll demnach davon Gebrauch machen. Diese Form der Care-Migration ist auch nicht nur auf Deutschland begrenzt, sondern hat bereits europaweit grenzüberschreitende Wanderungsbewegungen in Gang gesetzt, z. B. in der Vergangenheit häufig aus der Ukraine nach Polen, vor allem um dort die Lücken der in Deutschland beschäftigten polnischen Betreuungskräfte zu füllen, und ist insbesondere in südeuropäischen Staaten mit gering ausgebauter professioneller Pflegeinfrastruktur verbreitet, z. B. in Italien und Spanien.

Stärkung der häuslichen Pflege

Da die häusliche Pflege zunehmend an ihre Belastungs- und Kapazitätsgrenzen zu stoßen scheint, vor allem bei gleichzeitig ausgeübter Erwerbstätigkeit, richten sich Reformüberlegungen primär auf die professionelle Versorgungsoptimierung in der häuslichen Pflege. Aufgrund der wachsenden Komplexität von Bedarfslagen wird insbesondere für mehr Flexibilisierung des Leistungspaktes des SGB XI, effizientere Pflegeberatung und Herstellung von Versorgungskontinuität durch Case-Management plädiert (Rothgang & Müller, 2018; Deutscher Verein, 2020). Engpässe bestehen dabei aber insbesondere im zusätzlich benötigten Fachpersonal (siehe den Beitrag von Theobald in diesem Band). Verbesserungen erhofft man sich auch von einem vermehrten Einsatz von Digitalisierung in der Pflege (siehe auch die Beiträge von Kricheldorff und Müller in diesem Band). „Alternative“ Optionen beziehen sich auf den verstärkten Einsatz von ehrenamtlichen Helfer:innen, auf innovative Pflegearrangements rund um das Konzept der Wohngemeinschaftspflege (vgl. Pkt. 3.4) sowie insgesamt auf die erhofften Potenziale lokaler „sorgender Gemeinschaften“ mit mehreren beteiligten Gruppen von Akteuren (vgl. Pkt. 4.). Mit anderen Worten: Die gesamtgesellschaftliche Aufgabe Pflege soll auf „breitere Schultern“ verteilt werden (Die Bundesregierung, 2019). Da all diese Optionen zugleich den vermehrten Einsatz der Kommunen u. a. hinsichtlich Initiierung, Implementierung und Kontinuitätssicherung voraussetzen, wird auch von der Nachfrageseite her der Ruf nach Ausweitung der Kompetenzen der Kommunen in der praktischen Pflegeverantwortungsübernahme lauter. Dabei wird zunehmend häufiger ein analog zum Jugendhilferecht ausgerichtetes Altenhilfestrukturgesetz eingefordert (z. B. Pohlmann, 2020; siehe auch den Beitrag von Müntefering in diesem Band). Offen ist dabei das Problem der Finanzierung bei bestehender struktureller kommunaler Finanzschwäche vielerorts.

3.4 Freiwilliges Engagement (Älterer) in der häuslichen Versorgung

Freiwilliges Engagement (FE) gilt in Deutschland als eine zentrale Dimension sozialer Teilhabe und gesellschaftlicher Mitwirkung und damit insgesamt als wertvolle Säule einer demokratisch verfassten Gesellschaft. So versteht z. B. der fünfte Altenbericht der Bundesregierung das freiwillige Engagement im Alter über Mitverantwortung hinaus auch als Aufforderung zur selbstverantwortlichen Altersgestaltung. In der sozialen Teilhabe liege demnach eine individuelle Dimension bezogen auf das persönliche Wohlbefinden und die präventive Vermeidung von Hilfebedürftigkeit, ebenso wie eine gestaltende Funktion, bezogen auf die alternde Gesellschaft selbst (BMFSFJ, 2012) (vgl. auch den Beitrag von Müntefering in diesem Band). FE wird üblicherweise mit den folgenden fünf Kriterien beschrieben: freiwillig, nicht auf materiellen Gewinn gerichtet, gemeinwohlorientiert, öffentlich bzw. im öffentlichen Raum stattfindend und gemeinschaftliche/kooperative Ausübung, d. h. mit anderen zusammen. In diesem Kapitel geht es um das FE Älterer als besonderes Leistungspotenzial in der häuslichen Altenpflege.

Empirie und Praxis des freiwilligen Engagements älterer Menschen

In Deutschland werden zunehmend neue Versorgungsarrangements unter Einbeziehung des zivilbürgerschaftlichen Engagements gefordert und auch seit 2013 im Rahmen des SGB XI (§ 45c) gefördert. Aufgrund der beiden besonderen „Ressourcen“ Älterer, nämlich Erfahrung und freie Zeit, rücken dabei zunehmend auch die diesbezüglich möglichen Potenziale für eine kollektiv alternde Gesellschaft in das Blickfeld der pflegerischen Gesamtversorgung. Dem entspricht, dass sich auch insgesamt immer mehr ältere Menschen auch faktisch freiwillig engagieren, wenngleich sehr selten in der Pflege von Nicht-Angehörigen (siehe weiter unten). Ihre FE-Quote (55 + ) wird regelmäßig im Deutschen Freiwilligensurvey mit erhoben. Sie ist seit Beginn der Messung im Jahre 1999 kontinuierlich gestiegen, von damals knapp 30 % auf etwa 40 % im Jahr 2014, dem letzten ausgewerteten Messzeitpunkt. Damit liegt sie nur leicht unter dem Durchschnittswert für die Gesamtbevölkerung. Allerdings geht das freiwillige Engagement naturgemäß mit dem Alter zurück, von etwa 45 % (55 bis 64 Jahre) auf 26 % nach dem 75. Lebensjahr. Gute Gesundheit ist eine wichtige Voraussetzung für FE im Alter. Dies gilt auch für das Bildungsniveau und die finanzielle Lage. So steigt freiwilliges Engagement mit dem Bildungsgrad, dem beruflichen Status und dem Einkommen. Auffällig ist weiterhin eine höhere Beteiligung der Männer (BMFSFJ, 2017).

Ältere engagieren sich am häufigsten in Vereinen oder Verbänden, z. B. Kirchen und Wohlfahrtsverbänden, Frauen besonders stark im sozialen Bereich. Dabei richtet sich das Engagement in vielen Fällen auch auf die wechselseitige praktische Hilfe und Solidarität in sozialen Notsituationen und gilt dann am häufigsten Menschen der eigenen Altersgruppe. Zunehmend bedeutsam sind auch Formen gegenseitiger Unterstützung, z. B. Nachbarschaftshilfen, Ermöglichung längerer selbständiger Lebensführung sowie die Mitwirkung in Selbsthilfegruppen, z. B. für pflegende Angehörige. Ganz generell sind die herausragenden Motive für FE bei Älteren Freude und Spaß, der Kontakt mit anderen Menschen und mit anderen Generationen, aber auch der Wunsch, die „Gesellschaft mitgestalten zu wollen“. Dabei lässt sich auch für ältere Menschen ein Motivwandel erkennen: weg von den altruistischen und hin zu eher ereignis-, spaß- und selbstverwirklichungsbezogenen Motiven. Vergleichsweise selten sind Motive wie „Qualifikationen erwerben“ oder „beruflich vorankommen“, was naturgemäß zumeist auf jüngere Menschen zutrifft. Andererseits erwerben ältere Engagierte häufig soziale Fähigkeiten wie Teamfähigkeit und Zeitmanagement sowie Fachkenntnisse wie bestimmte Arbeitstechniken. Nach dem 75. Lebensjahr verlieren aber diese Motive und Anlässe an Gewicht, der Rückgang im Engagement ist zumeist gesundheitlich oder familial bedingt, etwa durch die Übernahme von Pflegetätigkeiten oder Enkelkinderversorgung (BMFSFJ, 2017).

Ältere Menschen übernehmen zwar oft die freiwillige Pflege oder Betreuung von anderen Menschen im sozialen Nahraum. Hier aber sind die Übergänge zwischen freiwilligem sozialem Engagement und privaten familiären Unterstützungsleistungen fließend. Der Engagement Survey belegt, dass informelle freiwillige Pflege im Vergleich der Altersgruppen häufiger von älteren Menschen erbracht wird. Verwandtenpflege ist besonders verbreitet bei Frauen im Alter von 55- bis 64-Jährige. Immer häufiger bilden zudem Großeltern eine wichtige Voraussetzung für die Erwerbstätigkeit der Töchter und Schwiegertöchter, insbesondere im Falle von Ein-Eltern-Familien. Die Tatsache, dass im Zuge des demografischen und sozialen Wandels die gesellschaftlichen Bedarfe und damit auch Chancen für solidarisches Handeln sowohl in Form des FE als auch der privaten Nachbarschafts- und Netzwerkhilfe insgesamt steigen, kommt zunehmend auch zum Engagement bereiten Älteren zugute.

Potenziale älterer Engagierter in der Pflege jenseits der Angehörigenpflege

Hierzu gibt die Empirie aufgrund der in den Antworten zur Selbstwahrnehmung zum FE kaum ausweisbaren Abgrenzung zur Mitwirkung in der privaten Angehörigenunterstützung keine quantitativ verlässlichen Auskünfte. Es ist jedoch Erfahrungswissen, dass die gegenüber Nicht-Verwandten geleistete Pflege gering ausfällt. Allerdings kommt es auf die Art der Pflege an. Geht es nicht um „hands-on-Pflege“, sondern z. B. um Besuchs-, Begleit- oder pflegeunspezifische Assistenzdienste, um beaufsichtigende Hilfen z. B. gegenüber Demenzkranken, um kurzfristige Aushilfen und dgl., dann dürfte das Potenzial deutlich höher sein. Ältere Freiwillige sind im wachsenden Umfang und mit großem Erfolg in der ambulanten Demenzbetreuung, z. B. als Pflegebegleiter, und sogar in der Hospizarbeit tätig. Es fehlen aber verlässliche Beteiligungszahlen. Dennoch gibt es nicht umsonst bundesweit immer mehr Bemühungen, das Potenzial älterer, am FE Interessierter zu bündeln und als ggf. auch planbare Ressource dauerhaft zu gewinnen. So entfällt z. B. ein Großteil der Bemühungen der Seniorenbüros, von Pflegestützpunkten oder der in der professionellen Altenpflege tätigen Wohlfahrtsverbände explizit sowohl auf die Werbung um Mitwirkung zum bürgerschaftlichen Engagement bereiter älterer Menschen als auch um die praktisch-fachliche Unterstützung bereits Engagierter.

Förderung des FE Älterer in der häuslichen nicht-familiären Pflege

Insbesondere Kommunen sind seit Längerem darum bemüht, die FE-Potenziale in der Bevölkerung zu erschließen. In vielen Kommunen gibt es eigens dafür ernannte Freiwilligenbeauftragte, in rund 450 kommunalen Seniorenbüros. Sie sind u. a. auch Anlauf- und Vermittlungsstelle, um das FE Älterer für die kommunale soziale Daseinsvorsorge zu erschließen. In Dortmund z. B. besteht seit rund 30 Jahren ein ehrenamtlicher Sozialdienst Älterer, getragen und teilfinanziert von der Stadt. Er zielt explizit auf die Förderung des FE Älterer in gesundheitlichen und pflegerischen Anliegen der Bevölkerung und/oder auf die zwischenmenschliche Unterstützung bei Notsituationen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros sieht hier sogar einen Schwerpunkt künftiger Arbeit im demografischen Wandel (Pohlmann, 2020). Erfahrungsberichte bestätigen, dass die FE-Bereitschaft nicht nur unter Älteren zunehmend an bestimmte Voraussetzungen gebunden ist, wie z. B. Mitwirkung bei Einsatzplanungen, Einbringen eigener Erfahrungen etc. Dazu zählt wesentlich auch die Schaffung von selbst- und mitbestimmten Ermöglichungsstrukturen sowie professionelle, auf Nachhaltigkeit und Verlässlichkeit gerichtete Unterstützung. Umstritten ist die Idee der finanziellen Entlohnung des FE; unstrittig dagegen die Notwendigkeit der Schaffung einer nicht-monetär ausgerichteten Anerkennungskultur, die flächendeckend allerdings zu wünschen übriglässt. Allerdings besteht unter Expert:innen hierzulande weitgehend Einigkeit dahin gehend, dass die Funktion von FE Älterer immer nur ergänzend zur professionellen sozialen Arbeit sein kann. Dies gilt in besonderer Weise für die Altenpflege.

4 Lokale, kommunal organisierte „sorgende Gemeinschaften“

Mit dem 7. Bundesaltenbericht (Deutscher Bundestag, 2016) liegt seit 2016 ein neues kommunalpolitisches Leitbild für eine umfassende Neuorganisation der lokalen Pflegestruktur im Sinne eines Pflege- und Unterstützungsnetzwerkes vor, das auf ein Gesamtversorgungskonzept im Rahmen von „caring communities“ zielt („sorgende Gemeinschaften“). Diese sollten im Rahmen von Quartiersansätzen und -arbeit organisiert sein und sich durch die gelungene, einvernehmlich getroffene Kombination von professionellen Hilfen, institutionellen Angeboten, bürgerschaftlicher wie nachbarschaftlicher und familiärer Unterstützung auszeichnen (Klie, 2015, 2016). Eine vom Bundesfamilienministerium vertretene definitorische Annäherung lautet: „Eine „sorgende Gemeinschaft“ ist das gelingende Zusammenspiel von Bürgerinnen und Bürgern, Staat, Organisationen der Zivilgesellschaft und professionellen Dienstleistern in der Bewältigung der mit dem demografischen Wandel verbundenen Aufgaben“ (ISS, 2014: 4). Ziel ist „die Aufrechterhaltung eines selbstbestimmten Lebens wesentlich durch eine entsprechende Gestaltung räumlich-dinglicher, sozialer und infrastruktureller Kontexte“ (KDA, 2011).

Ausgehend vom Konzept der Sozialraumorientierung geht es um die „erforderliche Anpassung der Sozialräume an die Bedürfnisse einer alternden Gesellschaft“ (Deutscher Städtetag, 2015). Die „Pflege der Zukunft“ wird als „Pflege im Quartier und in der Kommune“ konzeptualisiert, die neuen Leitbilder sind „Inklusion“ und „barrierefreies Lebensumfeld im sozialen Nahraum“, „Quartiers- und Gemeinwesenorientierung“ sowie Schaffung einer lokalen, möglichst kleinräumigen „Sorgekultur“. Als erforderlich dafür werden „integrierte, wohnquartiersbezogene pflege- und teilhabeförderliche lokale Strukturen und Netzwerke“ angesehen, die im Rahmen einer am Subsidiaritätsprinzip orientierten kommunalen Alten-, Familien und Generationenpolitik herzustellen und nachhaltig auszugestalten sind.

Kommunale Alten- und Pflegepolitik gilt als ämter- und ressortübergreifende Querschnitts- und Steuerungsaufgabe mit primärerer Verantwortung der Kommunen für die Bereitstellung und Ausgestaltung entsprechend teilhabeförderlicher lokaler Strukturen und Netzwerke. Ihnen obliegt explizit die Rolle einer steuernden „Versorgungsinstanz“ (Deutscher Bundestag, 2016), die sich primär auf Initiierung, Hilfen bei der Implementierung und nachhaltige, auch finanzielle Stützung von unterschiedlichen Versorgungsarrangements bezieht. Notwendige Voraussetzungen für den Erfolg sind dabei insbesondere die Herstellung von Bereitschaft, Bewusstsein und politischer Legitimation, die Verbesserung der Daten- und Informationslage, eine möglichst kleinräumig angelegte Alten- und Pflegeberichterstattung mit einer darauf bezogenen Bedarfsabschätzung, die Bereitstellung von professionellem und qualifiziertem Personal, die Absicherung intrakommunaler bzw. ggf. auch überregionaler Kooperation sowie der Einbezug neuer und weiterer Akteure, so z. B. aus der Zivilgesellschaft, der Wohnungswirtschaft und der Sozialversicherungsträger (Naegele, 2018).

Sorgende Gemeinschaften entstehen nicht im Selbstlauf, sondern müssen als Alternativentwürfe professionell organisiert und stabilisiert werden. Vorausgesetzt wird eine sorgende Grundhaltung innerhalb und außerhalb des Quartiers, die lokal erst einmal hergestellt werden muss. Darin liegt die primäre Verantwortung der Kommunen im Rahmen ihres Daseinsvorsorgeauftrags. Angesichts wachsender sozialer Differenzierungen auch des Alters, zunehmender sozialer Segregation in den Kommunen, der vielerorts immer noch bestehender struktureller kommunaler Finanzknappheit und der grundsätzlichen Schwierigkeit, bei sog. harten sozialen Problemlagen auch praktische Solidarität auf informell-freiwilliger Basis dauerhaft und nachhaltig zu implementieren, ist damit ein hochvoraussetzungsvoller Zukunftsentwurf skizziert, der den flächendeckenden Praxistest erst noch bestehen muss.