1 Historische Entwicklung des Familienrechts und die Altenpflege

1.1 Das japanische Zivilgesetzbuch von 1898 und das Ie-System

Die Grundstruktur des Familienrechts im Meiji-ZGB bildete das Ie-System, dessen Dreh- und Angelpunkt die vom Koshugeführte Familie warFootnote 1. Das Ie-System regelte nicht nur das Familienleben des einfachen Volkes, sondern fungierte auch als grundlegende Einheit des Staates, die das japanische Reich mit dem Kaiser (Tennō) an dessen Spitze stützte. Unter dem Ie-System wurden die Stellung des Familienoberhaupts und das Familienvermögen ausschließlich an den ältesten Sohn vererbt, und die Ehebeziehung war der Eltern-Kind-Beziehung untergeordnet. So war die Ehe keine persönliche Beziehung zwischen Mann und Frau, sondern vielmehr eine Verbindung zwischen zwei Ie und erforderte als solche die Zustimmung der Eltern oder des Familienoberhaupts (§ 772 Abs. 1 altes ZGB von 1890). Folglich war die Eheschließung die Verbindung eines jungen Mannes bzw. einer jungen Frau, die jeweils dem Sorgerecht ihres Vaters unterlagen, mit einem von den Eltern bestimmten Partner. Die Frau verließ dabei ihr Elternhaus bzw. ihre Familie und trat in das Ie des Ehemannes ein, was mit dem Begriff Yome-iri („die Ehefrau/Schwiegertochter tritt in das Ie ein“) bezeichnet wurde. Sie führte von da an den Familiennamen des Mannes und wurde in das Familienregister seines ie eingetragen.Footnote 2

Infolgedessen waren auch die Kinder, die die Ehefrau – Yome – zur Welt brachte, Kinder des ie des Mannes. Die Frau war verpflichtet, die Kinder unter Aufsicht ihres Ehemannes und ihrer Schwiegereltern gemäß den Bräuchen der Familie des Ehemanns aufzuziehen, hatte jedoch kein Sorgerecht für die Kinder. Dieses oblag alleine dem Ehemann. Darüber hinaus war die Ehefrau, die aus ihrem Ie ausgetreten und Mitglied des Ie des Ehemannes geworden war, gezwungen, den Eltern ihres Mannes – also ihren Schwiegereltern – zu dienen. Es galt als selbstverständlich, dass sich die Ehefrau des ältesten Sohnes um ihre Schwiegereltern kümmerte und sie pflegte. Somit war es einer Tochter, nachdem sie einmal geheiratet hatte und damit in eine andere Familie eingetreten war, nicht gestattet, nach eigenem Belieben ihre Eltern zu besuchen oder zu pflegen. Rechtlich betrachtet war dies eine logische Konsequenz, da sie nach der Heirat einem anderen Ie – dem Ie ihres Mannes – angehörte.

1.2 Reform des ZGB und die Familie nach dem Zweiten Weltkrieg

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Ie-System von der amerikanischen Besatzungsmacht abgeschafft und 1946 die „Verfassung des Staates Japan“ erlassen. Sie trat 1947 in Kraft. Die Verfassung proklamiert die Würde des Einzelnen und die grundsätzliche Gleichstellung der Geschlechter als Gebot für das Familienleben (Artikel 24).

Entsprechend diesem Grundsatz wurden das vierte Buch (Ehe- und Eltern-Kind-Beziehungen (Familienrecht) und das fünfte Buch (Erbrecht) des ZGB vollständig überarbeitet. Konkret wurde dabei Folgendes festgelegt: (1) die Eheschließung kommt im gegenseitigen Einvernehmen von Mann und Frau und durch Anzeige bei der zuständigen Behörde zustande (§ 739, § 742 ZGB), (2) die Ehepartner sind in der Ehe gleichgestellt (§ 752 ZGB), (3) in die Ehe hineingeborene Kinder gelten als Kinder beider Ehepartner, und beide Elternteile haben gemeinsam das Sorgerecht für die Kinder (§ 818 ZGB), (4) Verwandte in gerader Linie und Geschwister sind gegenseitig unterhaltspflichtig, Verwandte dritten Grades – einschließlich der Yome – sind dies jedoch nur, wenn ein Familiengericht die Unterhaltspflicht aufgrund besonderer Umstände anerkennt (§ 877 ZGB).

Allerdings schreibt das Gesetz vor, dass sich die Eheleute bei der Eheschließung auf einen gemeinsamen Familiennamen – entweder den des Mannes oder den der Frau – einigen müssen (§ 750 ZGB). Voraussetzung für das Zustandekommen einer Ehe ist die Anzeige der Eheschließung. Da auf dem entsprechenden Formular der künftige Familienname eingetragen werden muss, ist das Paar also gezwungen, sich für einen der beiden Familiennamen zu entscheiden. Einigt man sich nicht auf einen der beiden Namen, ist eine Eheschließung nicht möglich.

Im ZGB-Reformentwurf von 1996 wurde zwar die wahlweise getrennte Namensführung von Eheleuten vorgeschlagen, ein entsprechender Gesetzentwurf wurde jedoch bis heute nicht im Parlament eingebracht. Infolgedessen entscheiden sich nach wie vor 96 % der Paare bei der Eheschließung für den Familiennamen des Mannes. Dies zeigt, dass die japanische Gesellschaft bis in die Gegenwart hinein in nicht unerheblichem Maße im Eheverständnis und den ie-Traditionen der Meiji-Zeit (1868–1912) verhaftet geblieben ist.

2 Historische Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme und die Altenpflege

2.1 Das Ie-System und die soziale Sicherung

Unter dem Ie-System der Meiji-Zeit (1868–1912) verfügte allein der Haushaltsvorstand (Koshu) über das Familienvermögen und die Entscheidungsbefugnis über Angelegenheiten des Ie. Im Gegenzug war er allerdings verpflichtet, das Leben der ie-Mitglieder zu sichern. Aus diesem Grund ist in der japanischen Gesellschaft bis heute die Einstellung tief verwurzelt, dass die Familie helfen muss, wenn ein Familienmitglied in Schwierigkeiten gerät, selbst wenn die Familie sich dafür selbst opfern muss. Es galt als Schande, den Staat oder die Gesellschaft um Hilfe zu bitten.

Diese Denkweise, die eine auf dem Ie-System basierende private Unterhaltssorge priorisierte, lag auch der Armenhilfeverordnung (Jukkyū kisoku) von 1874 zugrunde. Auch wenn darin erstmals eine staatliche Hilfe in Japan verankert wurde, bestand diese lediglich aus einer öffentlichen Hilfe als „gnädige Gabe“ des Tennō (Kaiser) oder der Regierung an Arme, die keiner Familie angehörten. Das Versorgungsgesetz (Kyūgo hō) von 1929 erweiterte den Personenkreis der Leistungsberechtigten im Vergleich zur Armenhilfeverordnung erheblich. Allerdings wurde ein allgemeines – nicht auf einen bestimmten Personenkreis beschränktes – Fürsorgeprinzip ausgeschlossen und da nach Auslegung der Regierung auch kein Recht der Versorgungsbedürftigen auf Unterstützung bestand, konnten die Betreffenden die Hilfe lediglich als „Reflexvorteil“ der öffentlichen Versorgungspflicht erhalten (Ogawa, 2007), die nur für einen begrenzten Personenkreis wie z. B. über 65-jährige Notleidende oder Schwangere galt.

Das ie-System wurde im Zuge der ZGB-Reform nach dem Zweiten Weltkrieg zwar abgeschafft, in der japanischen Gesellschaft finden sich jedoch bis heute Residuen des Systems, die ihre Schatten auch auf den Erlass und die Anwendung der relevanten Gesetze zur sozialen Sicherung geworfen haben. Auch heute noch ist daher in der japanischen Gesellschaft die Einstellung tief verwurzelt, dass falls ein Familienmitglied in eine finanzielle Notlage gerät oder im Alltagsleben Schwierigkeiten hat, zuerst innerhalb der Familie eine Lösung gesucht werden sollte.Footnote 3

2.2 Die Nachkriegsverfassung und das Sozialrecht

Soziale Sicherungssysteme wurden in Japan erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet. Den Anfang machte das (alte) Sozialfürsorgegesetz (Kyū seikatsu hogo hō) von 1946, das als Sofortmaßnahme gegen die Notlage der Bevölkerung nach dem Krieg erlassen wurde. Das Kinderfürsorgegesetz (Jidō fukushi hō) von 1947 und das Behindertenwohlfahrtsgesetz (Shintai shōgaisha fukushi hō) von 1949 adressierten die Belange von Kriegswaisen bzw. Menschen mit körperlichen Behinderungen.

Ausgehend von dem in Artikel 25 der Verfassung garantierten Recht auf ein menschenwürdiges Dasein wurde 1950 das heute geltende Sozialhilfegesetz (Seikatsu hogo hō) erlassen. Um ein lückenloses Versicherungsnetz und eine Rente für Alle zu verwirklichen, wurde 1958 das ‚Gesetz über die Volksversicherung‘ (Kokumin kenkō hoken hō) vollständig novelliert und 1959 das ‚Gesetz über die Volksrente‘ (Kokumin nenkin hō) verabschiedet. In den 1960er Jahren wurden vor dem Hintergrund steigender Steuereinnahmen durch das hohe Wirtschaftswachstum nacheinander das Altenwohlfahrtsgesetz (1963) (Rōjin fukushi hō) und das Gesetz zur Wohlfahrt alleinerziehender Mütter (1964) (Boshi fukushi hō) erlassen. Die Ölkrise Mitte der 1970er Jahre führte zu einer Verlangsamung des Wirtschaftswachstums, was auch die weitere Entwicklung der sozialen Sicherungssysteme beeinflusste. Um die finanzielle Belastung des Staates bei der sozialen Sicherung zu mildern, appellierte man an die Bemühungen und die Verantwortung des Einzelnen sowie der Familien und postulierte einen „Japanischen Wohlfahrtsstaat“ auf Grundlage der Drei-Generationen-Familie, die zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen hatte, sich aufzulösen.

1982 wurde das ‚Gesetz zur Krankenpflege und medizinischen Versorgung für ältere Menschen‘ (Rōjin hoken hō) verabschiedet, um der rasch voranschreitenden Alterung der Gesellschaft zu begegnen. 1985 erfolgte eine grundlegende Revision des ‚Gesetzes über die Volksrente‘ (Kokumin nenkin hō) und die Basisrente wurde eingeführt. Es folgte 1990 eine Überarbeitung der acht Wohlfahrtsgesetze und 1995 der Erlass des ‚Basisgesetzes für den Umgang mit der Altersgesellschaft‘. Bei diesen sozialpolitischen Ansätzen handelte es sich im Wesentlichen um begrenzte Maßnahmen für arme Menschen ohne Angehörige, die auf den gesellschaftlichen Konventionen der Vorkriegszeit beruhten. Dabei verstand man unter Fürsorge die Schaffung von stationären Einrichtungen für diesen begrenzten Personenkreis.

Da jedoch der nötige Ausbau der Infrastruktur zur Deckung des infolge der raschen Überalterung wachsenden Pflegebedarfs nicht hinterherkam, stieg die Zahl der Fehlbelegungen („soziale Hospitalisierung“). Pflegebedürftige alte Menschen, die sich nicht mehr alleine in ihrer Wohnung versorgen konnten, wurden ins Krankenhaus eingewiesen, um sie dort versorgen zu lassen, obwohl eine stationäre Unterbringung nicht unbedingt erforderlich gewesen wäre. Verstärkt wurde dieser Trend zu Fehlbelegungen noch durch die erwähnte tief verwurzelte gesellschaftliche Tradition, nach der die Familie – insbesondere die Ehefrau des ältesten Sohnes (Yome) – für die Pflege der älteren Familienmitglieder zuständig war. Dies resultierte in einer nicht unbeträchtlichen Zahl von Fällen, in denen Familien das Krankenhaus als „Deckmantel“ nutzten, weil sie fürchteten, die Inanspruchnahme von Altenhilfediensten würde als Pflegeverweigerung ausgelegt werden.

Dies lief nicht nur dem Wunsch der älteren Menschen selbst zuwider, ihren Lebensabend friedlich in ihrer vertrauten lokalen Umgebung zu verbringen, sondern entwickelte sich zunehmend zu einem Problem, das die Kosten für die medizinische Versorgung der älteren Menschen in die Höhe trieb. Um dieser Situation zu begegnen, wurde das ‚System für die Krankenpflege und die medizinische Versorgung älterer Menschen‘ abgeschafft, das als Ursache für die soziale Hospitalisierung pflegebedürftiger älterer Menschen galt. Parallel dazu wurde das steuerfinanzierte und nur einem begrenzten Personenkreis zugängliche Altenfürsorgesystem grundlegend reformiert.

Ende 1997 wurde schließlich in Abstimmung mit dem Gesundheitsversorgungssystem das Pflegeversicherungsgesetz (Kaigo hoken hō, im Folgenden „PVG“) verabschiedet und am 1. April 2000 in Kraft gesetzt. Ziel war es, sich die Dynamik des Privatsektors für einen raschen Ausbau des Langzeitpflegemarkts zunutze zu machen (Motozawa, 1996).

3 Japans Pflegeversicherung und Bestandsaufnahme der Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen

3.1 Die japanische Pflegeversicherung

Bei ihrer Einführung wurde die japanische Pflegeversicherung nach dem Vorbild der deutschen Pflegeversicherung propagiert. Im Gegensatz zum deutschen System, in dem alle Generationen leistungsberechtigt sind, liegt der Fokus in Japan auf dem Personenkreis der älteren Menschen ab 65 Jahren.Footnote 4 Die notwendigen Leistungen werden in Form von Gesundheits- und sozialen Diensten für Personen gewährt, die infolge von Krankheiten etc. bedingt durch alterstypische psychische oder physische Veränderungen pflegebedürftig geworden sind und daher Unterstützung (z. B. beim Baden, Ausscheidungen, Nahrungsaufnahme), Funktionstraining, Krankenpflege oder sonstige medizinische Versorgung benötigen (§ 1 PVG).

Die Versicherten unterteilen sich in zwei Gruppen: Versicherte der Kategorie I sind alle Personen ab 65 Jahre, deren Wohnsitz im Zuständigkeitsgebiet einer Kommune liegt (§ 9 Nr. 1 PVG). Versicherte der Kategorie II sind Versicherte der Krankenversicherungen im Alter von 40 bis einschließlich 64 Jahren (§ 9 Nr. 2 PVG). Versicherte der Kategorie I können Leistungen der Pflegeversicherung in Anspruch nehmen, wenn sie als hilfe- oder pflegebedürftig anerkannt wurden (§ 7 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1 PVG). Demgegenüber werden Versicherten der Kategorie II nur Leistungen gewährt, wenn die Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit durch spezifische Krankheiten bedingt ist (§ 7 Abs. 3 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 2 PVG) (Abb. 1).

3.2 Arten und Inhalte der Versicherungsleistungen

Wurde ein Hilfe- oder Pflegebedarf festgestellt, beauftragt der Versicherte im Fall der häuslichen Pflege ein „lokales integriertes Unterstützungszentrum“ (Chiiki hōkatsu shien sentā) (§ 115–46 PVG) oder einen anerkannten Leistungserbringer für häusliche Pflege (Shitei kyojū kaigo shien jigyōsha) (§ 79 PVG) mit der Erstellung eines Pflege-Präventionsplans bzw. eines Pflegeplans für die häusliche Pflege. Daraufhin besucht ein bzw. eine Care-Manager:in des beauftragten Unterstützungszentrums bzw. des Leistungserbringers die hilfe-/pflegebedürftige Person, verschafft sich einen Gesamtüberblick über die Situation und die Wünsche des Betreffenden und seiner Familie sowiedie Familien- und die Wohnungssituation etc. und erstellt einen Pflegeplan, in dem die Arten und die Inhalte der Dienstleistungen festgelegt werden. Auf Grundlage des Pflegeplans wird dann ein Vertrag zwischen dem Betreffenden und dem von ihm bestimmten Leistungserbringer über die häuslichen Hilfe-/Pflege- oder Präventionsleistungen geschlossenFootnote 5. Im Fall von stationärer Pflege erstellt der bzw. die Care-Manager:in der jeweiligen Einrichtung den Pflegeplan in Anlehnung an den stationären Versorgungsvertrag zwischen der pflegebedürftigen Person und der Einrichtung (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Inanspruchnahme von Leistungen der PVG

Die Arten der Versicherungsleistungen (§ 18 PVG) umfassen Pflegeleistungen wie stationäre, häusliche und gemeinschaftsnahe Dienste für Pflegebedürftige (§ 40 PVG), Präventionsleistungen für Hilfebedürftige wie Präventionsdienste und gemeinschaftsnahe Pflegepräventionsdienste (§ 52 PVG) sowie Sonderleistungen der Kommunen (§ 62 PVG).Footnote 6 Letztere sind als Versicherungsleistungen in Verordnungen geregelt und sollen dazu beitragen, die Hilfe- bzw. Pflegebedürftigkeit zu mindern bzw. einer Verschlechterung vorzubeugen.

Seit der Gesetzesreform von 2011 führen die Kommunen im Rahmen lokaler Programme umfassende Maßnahmen zur Pflegeprävention und Unterstützung im Alltagsleben (Sōgō jigyō) durch. Diese fördern die Pflegeprävention vor Eintritt einer Hilfe- oder Pflegebedürftigkeit und zielen darauf ab, eine umfassende und dauerhafte Managementfunktion in der lokalen Gemeinschaft zu stärken (§ 115–45 PVG). Eine zentrale Rolle kommt dabei den lokalen Unterstützungszentren sowie den lokalen Pflegekonferenzen (Chiiki kea kaigi) zu (§ 115–48 PVG). Ferner können die Kommunen freiwillige Programme auflegen, z. B. Programme zur Unterstützung derjenigen, die pflegebedürftige Versicherte pflegen oder Programme zur Optimierung der Pflegeleistungsausgaben o.a. (§ 115–49).

Die Erweiterung des Personenkreises auf Hilfebedürftige und die Aufnahme von Präventionsleistungen in den Leistungskatalog im Rahmen der Gesetzesreform von 2005 erhöhte nicht nur den finanziellen Druck auf die Pflegeversicherung. Die darauffolgenden wiederholten Gesetzesreformen haben darüber hinaus auch die Arten und Inhalte der Versicherungsleistungen weiter verkompliziert. Das hat zur Folge, dass nicht nur die Nutzer:innen der Pflegeleistungen, also Hilfe- und Pflegebedürftige und deren Familien, sondern sogar die Care-Manager:innen inzwischen Schwierigkeiten haben, den Überblick über die diversen Leistungen der Pflegeversicherung zu behalten.

Auf die Forderung von Pflegediensten und -einrichtungen hin wurde u. a. die Pflegevergütung bei Verbesserung des Zustands der pflegebedürftigen Person revidiertFootnote 7, wodurch das Pflegeversicherungssystem noch komplizierter geworden ist. Obgleich es sich um eine Sozialversicherung handelt, wird die Pflegeversicherung sowohl durch Versicherungsbeiträge als auch durch Steuermittel finanziert. Das hat dazu geführt, dass Präventionsangebote und die sogenannten Maßnahmen, um älteren Menschen einen Lebenszweck zu geben (Ikigai jigyō), die eigentlich nicht als Sozialversicherungsleistung gedacht waren, sondern separat in den Gebietskörperschaften durchgeführt werden sollen, inzwischen Teil des Leistungskatalogs der Pflegeversicherung sind.

3.3 Inanspruchnahme der Versicherungsleistungen

Im Geschäftsjahr 2000, dem Einführungsjahr der Pflegeversicherung, belief sich die Zahl der Versicherten der Kategorie I auf 22,42 Mio., von denen 2,56 Mio. (11 %) als pflege- oder hilfebedürftig eingestuft waren. Durchschnittlich erhielten monatlich 1,84 Mio. Menschen Pflege- bzw. Unterstützungsleistungen, davon 1,24 Mio. in Form von häuslicher und 600.000 in Form von stationärer Pflege. Im Geschäftsjahr 2018 gehörten 35,25 Mio. Personen der Versichertengruppe I an, von denen 6,58 Mio. (18,3 %) pflege- bzw. hilfebedürftig waren. 3,74 Mio. Menschen bezogen häusliche Pflegeleistungen, 860.000 Personen gemeinschaftsnahe Dienstleistungen und 940.000 Menschen stationäre Pflegeleistungen (MHLW, 2018a).Footnote 8 Insbesondere bei den häuslichen Pflegeleistungen ist also ein drastischer Anstieg festzustellen.

Ein Blick auf den Anteil der durchschnittlichen monatlichen Kosten für die jeweiligen Dienstleistungen an den Gesamtkosten, zeigt, dass im Geschäftsjahr 2000 (nur) 33,9 % auf häusliche Leistungen entfielen, während der Anteil der stationären Dienstleistungen mit 66,1 % extrem hoch war. Im Geschäftsjahr 2018 betrug der Anteil der häuslichen Leistungen 49,9 %, 17,1 % entfielen auf gemeinschaftsnahe Leistungen und 33,1 % auf stationäre Pflegeleistungen (MHLW, 2018a). Um den Anstieg der Leistungsausgaben der Pflegeversicherung einzudämmen, dürfte sich die Verlagerung von stationärer hin zu häuslicher Versorgung künftig weiter beschleunigen. Aus diesem Grund propagiert das Ministerium für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt den Aufbau eines Comprehensive Community-based Care Systems und den Ausbau von Einrichtungen, die umfassende Pflegedienste anbieten.Footnote 9

4 Wandel der Familienbeziehungen und Situation der Pflege in der Familie

4.1 Rapide Alterung der Gesellschaft und Wandel der Familienbeziehungen in Japan

Als die Diskussion über die Pflegeversicherung Mitte der 1990er Jahre begann, lag der Altenquotient (Anteil der Personen im Alter von 65 Jahren oder älter an der Gesamtbevölkerung) bei etwa 15 %. Im Jahr 2000, als die Pflegeversicherung eingeführt wurde, war der Anteil auf 17.4 % gestiegen. 2015 erreichte er 26,6 %. Einer Schätzung des Nationalen Instituts für Bevölkerungs- und Sozialversicherungsforschung von 2017 (IPSS, 2017) zufolge wird der Altenquotient bis 2065 auf 38,4 % steigen und die Zahl der über 65-Jährigen 2042 mit 39,35 Mio. ihren Höchststand erreichen. Eine weitere Schätzung des Instituts aus dem Jahr 2018 (IPSS, 2018) rechnet für den Zeitraum von 2015 bis 2040 mit einem Anstieg des Anteils der Einpersonenhaushalte von 34,5 % auf 39,3 % und der Ehepaar-Haushalte von 20,2 % auf 21,1 %.

Im Zuge der fortschreitenden Alterung der Gesellschaft wird der Anteil der Haushalte, deren Haushaltsvorstand 65 bis 74 Jahre alt ist im o.g. Zeitraum von 36,0 % auf 44,2 % und der Anteil der Haushalte mit einem über 75-jährigen Haushaltsvorstand von 46,3 % auf 54,3 % ansteigen. Laut dem Weißbuch zu Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt von 2020 waren 14,8 % der Haushalte mit Personen im Alter von 65 Jahren und älter im Jahr 1989 Einpersonenhaushalte, 20,9 % Ehepaar-Haushalte und sogar 40,7 % Drei-Generationen-Haushalte. 2019 war der Anteil der Einpersonenhaushalte auf 28,8 % und der der Ehepaar-Haushalte auf 32,3 % gestiegen, während die Drei-Generationen-Haushalte drastisch auf 9,4 % zurückgegangen waren (MHLW, 2020). Hinzu kommt, dass immer weniger alleinstehende ältere Menschen sich für ihre künftige Pflege an ihre Kinder wenden wollen, immer mehr wollen stattdessen sogenannte „home helper“ beauftragen.Footnote 10

In Anbetracht der Tatsache, dass die Zahl der älteren Haushalte und der alleinstehenden älteren Menschen zunimmt, bedeutet häusliche Pflege nicht mehr unbedingt nur Pflege durch im gleichen Haushalt lebende Angehörige. Häusliche Pflege bedeutet auch, dass alleinstehende Senior:innen oder alte Menschen, die andere alte Menschen pflegen, häusliche Leistungen in Anspruch nehmen können, gleichzeitig aber auch durch die lokale Gemeinschaft unterstützt werden müssen. Dazu genügt es nicht, pflegende Angehörige aus demselben Haushalt zu unterstützen, sondern es gilt, auch die von Angehörigen, die nicht mit dem Pflegebedürftigen unter einem Dach leben, sowie die von Freund:innen, Bekannten oder Nachbarn erbrachte Pflege gesellschaftlich angemessen zu würdigen. Hierzu müssen lokale Gemeinschaften geschaffen werden, die gegenseitige Hilfe und Unterstützung bieten. Zu diesem Zweck wurde im Rahmen einer Teilreform der ‚Wohlfahrtsgesetze für die Verwirklichung einer inklusiven Gemeinschaft‘ 2020 ein integriertes Beratungs- und Unterstützungssystem eingeführt, von allen hilfebedürftigen Gruppen – Kindern, Behinderten, Senioren oder Personen ohne ausreichendem Einkommen – in Anspruch genommen werden kann.

4.2 Gegenwärtige Situation und Herausforderungen der Altenpflege

Der am 17. Juli 2020 veröffentlichte „Überblick über die umfassende Erhebung zu Lebensbedingungen 2019“ (Comprehensive Survey of Living Conditions 2019) des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt zeigt, dass mehr als die Hälfte der zu Hause lebenden pflegebedürftigen Menschen ab 65 Jahren von Personen gepflegt werden, die ebenfalls 65 Jahre oder älter sind („Alte pflegen Alte“). Die Pflege wird in den meisten Fällen von Personen erbracht, die mit den Pflegebedürftigen zusammenleben (54,4 %), gefolgt von nicht im selben Haushalt lebenden Angehörigen etc. (13,6 %) und Pflegediensten (12,1 %). Pflegepersonen, die mit den Pflegebedürftigen zusammenwohnen, sind in der Regel Ehepartner:innen (23,8 %), Kinder (20,7 %) oder Ehepartner:innen der Kinder (7,5 %). Nach Geschlecht betrachtet sind 35 % der im selben Haushalt wohnenden Pflegepersonen Männer und 65 % Frauen, wobei der Anteil der Altersgruppe der 60–69-Jährigen mit 28,5 % bei den Männern und 31,8 % bei den Frauen am höchsten ist. Ein Blick auf den zeitlichen Pflegeaufwand der mit den Pflegebedürftigen zusammenwohnenden Pflegepersonen nach Pflegestufen zeigt, dass ab Pflegestufe 3 die Pflege in den meisten Fällen fast den ganzen Tag in Anspruch nimmt. Die mitwohnenden Personen, die diese zeitintensive Pflege erbringen, sind in ca. 30 % der Fälle Männer und in etwa 70 % der Fälle Frauen. Nach Verwandtschaftsgrad gegliedert waren die Pflegepersonen in 40,9 % der Fälle die Ehefrauen, in 19,8 % der Fälle die Töchter und in 14 % der Fälle die Ehemänner der zu pflegenden Personen (MHLW, 2019).

Die Zahlen veranschaulichen, dass viele der mit den Pflegebedürftigen zusammenlebenden pflegenden Angehörigen Frauen sind. Laut den Ergebnissen der „Studie über die Umsetzung der Maßnahmen auf Grundlage des ‚Gesetzes zur Vermeidung der Misshandlung älterer Menschen und zur Unterstützung von Pflegepersonen älterer Menschen und anderen damit zusammenhängenden Angelegenheiten‘“ (Act on the Prevention of Elder Abuse, Support for Caregivers of Elderly Persons and Other Related Matters) von 2018 waren 28,4 % der insgesamt 34.867 Personen, die sich wegen Misshandlungsfällen älterer Menschen durch Pflegepersonen wie z. B. Familienangehörige, an Beratungsstellen wandten oder entsprechende Hinweise gaben, Care-Manager:innen, gefolgt von der Polizei mit 24,7 % und Familienmitgliedern bzw. Verwandten mit 8,4 % (MHLW, 2018b).

Dies kann als Indiz dafür gesehen werden, dass Care-Manager:innen, die im Rahmen der Pflegeversicherung in die häusliche Pflege einbezogen sind, einen wichtigen Beitrag zur Aufdeckung von Misshandlungen älterer Menschen in der Familie leisten und weist darüber hinaus darauf hin, dass sich das Pflegeversicherungssystem in der japanischen Gesellschaft etabliert hat. Den Ergebnissen der Studie zufolge waren die häufigsten Anlässe für die Misshandlung älterer Menschen durch pflegende Personen "Erschöpfung und Pflegestress“ (25,4 %) sowie "Behinderung/Krankheit“ der misshandelnden Person (18,2 %) (Mehrfachantworten waren möglich). Konkret handelte es sich in den meisten Fällen um „körperliche Misshandlungen“ (67,8 %), gefolgt von „psychischen Misshandlungen“ (39,5 %), „Vernachlässigung der Pflege“ (19,9 %) und „finanzieller Misshandlung“ (17,6 %; Mehrfachantworten möglich; jew. MHLW (2018b)). In den meisten Fällen bestand der betroffene Haushalt ausschließlich aus der pflegebedürftigen und der misshandelnden Person (9.001 Personen, 50,9 %), 6.306 (35,7 %) der Betroffenen lebten mit ihren unverheirateten Kindern zusammen, 3.941 Personen (22,3 %) lebten in einem „Ehepaar-Haushalt“. Betrachtet nach dem Verwandtschaftsverhältnis aus Sicht der misshandelten älteren Personen, waren die Misshandelnden in 7.472 Fällen (39,9 %) Söhne, in 4.047 Fällen (21,6 %) Ehemänner und in 3.316 Fällen (17,7 %) Töchter. Die meisten Täter waren also Männer (MHLW, 2018b).

Angesichts dieser Ergebnisse und der Tatsache, dass die pflegenden Angehörigen überwiegend Frauen sind, sollte bei den Überlegungen zur Unterstützung der pflegenden Angehörigen konkret darüber nachgedacht werden, wie z. B. männliche Pflegepersonen über Beratungsangebote und seelische Unterstützung informiert werden können und wie Pflegeversicherungsdienste besser genutzt werden können.

5 Japans Pflegeversicherung und die Möglichkeiten der Unterstützung für pflegende Angehörige

5.1 Möglichkeiten der Unterstützung für pflegende Angehörige durch die Einführung von Geldleistungen

Bei der Einführung der Pflegeversicherung in Japan wurde zunächst einmal darauf verzichtet, Geldleistungen in den Leistungskatalog der Pflegeversicherung aufzunehmen. Dies war auf eine einseitige Kritik von Frauen zurückzuführen, die aufgrund unzureichender Erklärungen und entsprechend mangelndem Verständnis befürchteten, dass Geldleistungen dazu führen könnten, dass die Altenpflege der yome aufgebürdet würde (Motozawa, 1996). Gleichwohl waren berufstätige Frauen den Geldleistungen gegenüber positiver eingestellt, da diese die Einkommensverluste hätten ausgleichen können, die sie durch das pflegebedingte Ausscheiden aus dem Arbeitsleben erlitten. Die japanische Regierung strebte einen kurzfristigen Ausbau des Marktes für häusliche Pflege an und entschied deshalb, Geldleistungen, die die Expansion des Pflegemarktes behindern könnten, zu meiden und sich auf Leistungen zu beschränken, die direkt an die Pflegedienstleistungen („Sachleistungen“) gebunden waren.

Es stellt sich die Frage, ob es angesichts der Tatsache, dass die Pflegeversicherung in Japan inzwischen fest etabliert ist und man sich wenig Sorgen bezüglich der eben genannten Befürchtungen machen muss, nicht angebracht wäre, die Bedeutung von Geldleistungen unter dem Gesichtspunkt der Unterstützung von pflegenden Angehörigen nochmals zu überdenken. Man kann sich unschwer vorstellen, dass eine leicht zugängliche wie verständliche Geldleistung – im Gegensatz zu den inzwischen viel zu komplizierten häuslichen und Präventionsdiensten – die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen durch hilfe- und pflegebedürftige ältere Menschen fördern und damit dazu beitragen könnte, Pflegebedürftige aus armen, oft informationsfernen Bevölkerungsschichten gezielter zu erreichen. Durch die Verknüpfung von Geldleistungen mit regelmäßigen Besuchen und Beratungen durch einen bzw. eine Care-Manager:in, wie es in Deutschland praktiziert wird, sowie Pflegeschulungen könnte pflegenden Angehörigen korrektes pflegerisches Wissen und Techniken besser vermittelt und dadurch Misshandlungen älterer Menschen vorgebeugt werden.

5.2 Gesellschaftliche Würdigung der Pflegearbeit von Familienangehörigen

Ein denkbarer Ansatz wäre es, die von Angehörigen erbrachte Pflege als soziale Arbeit zu werten und die Versicherungsbeiträge der Arbeitnehmerrente – bezogen auf den Pflegegrad der pflegebedürftigen Person und die wöchentlich erbrachten Pflegezeiten – aus der Pflegeversicherung zu zahlen. Es sollte nicht allzu schwierig sein, – in Anlehnung an die Zahlung der Rentenversicherungsbeiträge aus der Pflegeversicherung in Deutschland – eine Übersicht über die Versicherungsbeiträge zu erstellen, die den Pflegegrad des Pflegebedürftigen, die von den pflegenden Angehörigen u. a. erbrachten Stunden für Pflege und Unterstützung im Alltagsleben sowie die Inanspruchnahme der Pflegeversicherungsdienste berücksichtigen. Die angemessene Würdigung von Kindererziehung und Pflege in der Sozialversicherung als eine gesellschaftlich wertvolle Arbeit beruht auf einer völlig anderen Denkweise als der (japanische) Ansatz, der „Versicherten der Kategorie III der Volksrentenversicherung“, der lediglich den Status der betreffenden Person als unterhaltsberechtigten Ehepartner wertet. Sollte nicht dafür gesorgt werden, dass das Ausscheiden aus dem Beruf wegen Kindererziehung oder Pflege nicht bloß als etwas Negatives aufgefasst wird? Sollte nicht eher darüber nachgedacht werden, Menschen, die sich für diesen Schritt entschieden haben, nicht unnötig zu benachteiligen, sondern Ihnen Optionen bereitzustellen, um unterschiedliche Lebens- und Arbeitsmodelle zu ermöglichen? Dadurch könnte die Altersrente aufgestockt werden, selbst wenn die Betreffenden aus Pflegegründen aus dem Beruf ausscheiden, den Arbeitsplatz wechseln oder ihre Arbeitszeiten reduzieren mussten.

Die Berufsaufgabe wegen Pflege sollte nicht als Makel verstanden werden. Es ist wichtig, den Betroffenen den Wunsch zu erfüllen, sich selbst um ein pflegebedürftiges Familienmitglied zu kümmern, ohne dass dies zu gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Nachteilen führt. Ebenso wie bei der Kindererziehung gilt es auch bei der Pflege, die Selbstbestimmung zu unterstützen. Die Betreffenden sollten selbst entscheiden können, ob die Familie sich selbst um die pflegebedürftige Person kümmert, ob man die gesellschaftlichen Pflegeangebote maximal nutzt oder ob man familiäre und gesellschaftliche Pflege kombiniert. Infolge des Anstiegs der Zahl älterer Menschen wird der Pflegebedarf in Zukunft weiter steigen. Es ist daher wichtig, den pflegenden Angehörigen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zu gewähren, damit sie nach Beendigung der Pflege die dabei gewonnenen wertvollen Erfahrungen nutzen und wieder eine Anstellung finden könnenFootnote 11.

6 Diversifizierung des Pflegezeitsystems und flexible Kombination mit den Leistungen der Pflegeversicherung

Um die pflegebedingte Berufsaufgabe abzubauenFootnote 12, wurde das ‚Gesetz über Erziehungs- und Pflegezeiten‘ novelliert. Seit dem 1. Januar 2017 ist es möglich, sich insgesamt bis zu 93 Tage, auf maximal drei Zeiträume verteilt, für die Pflege eines Familienangehörigen von der Arbeit freistellen zu lassen. Gleichzeitig wurde das Pflegezeitgeld auf 67 % des Entgelts vor Beginn der Pflegezeit angehoben. Ferner wurde die Inanspruchnahme einer kurzzeitigen Auszeit flexibilisiertFootnote 13 – statt der Mindesteinheit von einem ganzen Tag wurde es dadurch möglich, sich halbe Tage freistellen zu lassen. Auch eine pflegebedingte Verkürzung der regulären Arbeitszeit kann in den drei Jahren ab Beginn der Inanspruchnahme mehrere Male genutzt werden. Hinsichtlich der Arbeitszeitregelung wurde ein neues System geschaffen, das die Betreffenden in Anspruch nehmen können, um sich für jedes pflegebedürftige Familienmitglied jeweils bis zur Beendigung der Pflege von Überstunden befreien zu lassen. Im Zuge der Gesetzesreform von 2019 (in Kraft seit 1. Januar 2021) wurde die Mindesteinheit für die kurzfristige Auszeit von einem halben Tag auf eine Stunde weiter reduziert. Eine Umfrage bei pflegenden Familienangehörigen und Care-Manager:innen ergab jedoch, dass mehr als 90 % der pflegenden Angehörigen noch nie Pflegezeit in Anspruch genommen hatten und 60 % der Befragten die verschiedenen Systeme, einschließlich der Pflegezeit, nicht kannten. Es gilt also, die Angebote bekannt zu machen und ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Mitarbeiter:innen Auszeiten und kürzere Arbeitszeiten in Anspruch nehmen können.

Um zu verhindern, dass Erwerbstätige wegen der Pflege von Familienangehörigen aus dem Berufsleben ausscheiden, sollten nicht nur die Instrumente der kurzfristigen Auszeit und der Pflegezeit ausgebaut werden. Es sollte eine Vielzahl von häuslichen Pflegemodellen aufgezeigt werden, die diese Systeme sinnvoll mit Pflegeleistungen zur Unterstützung pflegender Angehöriger kombinieren.Footnote 14 Zu diesem Zweck muss der bzw. die Care-Manager:in Informationen für die pflegenden Angehörigen bereitstellen, und es bedarf unter anderem Informationsmaterialen, die kombinierte Pflegezeit- und Pflegeleistungsmodelle auf leicht verständliche Weise erläutern.Footnote 15 Darüber hinaus sollten auch die Unternehmen die Initiative ergreifen und Informationen über die Kombinationsmöglichkeiten von Pflegezeitsystem und Leistungen der Pflegeversicherung anbieten. Parallel dazu sollten umfassende Beratungsstellen auf Landes- und Kommunalebene eingerichtet werden. Mit dem bereits erwähnten, im Zuge der Teilreform der Wohlfahrtsgesetze 2020 eingeführten umfassenden Beratungs- und Unterstützungssystem versucht man genau dies. Es bleibt abzuwarten, wie die Kommunen das Konzept implementieren.

7 Unterstützungsmodelle für pflegende Familienangehörige in der Präfektur Saitama und der Stadt Kobe

Der 2011 gegründete Verein Carers Japan e. V. fordert angesichts der mangelnden Unterstützung für die Pflegepersonen, dass auch „Carer“ gesellschaftlich anerkannt werden und als Träger der integrierten gemeinschaftsnahen Pflege den ihnen gebührenden Stellenwert erhalten.Footnote 16 Die Organisation führt fünf wesentliche Aspekte (Carers Japan, 2016) der Unterstützung für pflegende Angehörige an: (1) Erfassen der Situation der Pflegepersonen, (2) Zusammenspiel von „Menschen, Sachen und Räumen“ für eine funktionierende Unterstützung, (3) Klärung des latenten Pflegebedarfs, (4) Einbeziehung der Pflegenden und (5) Aufnahme der Unterstützung für Pflegepersonen in die politischen Maßnahmen.

Dank der Aktivitäten von „Carers Japan“ sowie der Kooperation des „Saitama NPO Center“Footnote 17, der Abteilung für integrierte Pflege der Präfektur Saitama und der Fraktion der Liberaldemokratischen Partei im Präfekturparlament wurde am 31. März 2020 in der Präfektur Saitama landesweit die erste Verordnung zur Unterstützung von Pflegepersonen (Carer Support Ordinance) verabschiedet und in Kraft gesetzt. Neben Öffentlichkeitsarbeit und Bereitstellung von Informationen sind darin wichtige Maßnahmen verankert, wie die Ausbildung der unterstützenden Personen, der Aufbau eines Unterstützungssystems und die erforderlichen finanziellen Instrumente. Der Umsetzung der konkreten Maßnahmen wird mit großen Erwartungen entgegengesehen.

Der folgende Fall hat für großes Aufsehen in der japanischen Gesellschaft gesorgt: Ein demenzkranker Mann wurde auf einem Bahnübergang der Bahngesellschaft Central Japan Railway Company von einem Zug erfasst und starb. Daraufhin verklagte die Bahngesellschaft die Ehefrau und den ältesten Sohn des Verstorbenen wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht (§ 714 Abs. 1 ZGB) auf Schadensersatz. Der Oberste Gerichtshof hob die Entscheidung des Oberlandesgerichts Nagoya auf, das die Aufsichtshaftung der Ehefrau anerkannt hatte, und wies eine Schadensersatzhaftung mit der Begründung ab, dass weder die Ehefrau noch der Sohn als gesetzliche Aufsichtspflichtige zu betrachten seien. Auf diesen Vorfall hin rief die Stadt Kobe 2019 das landesweit erste Modell für eine demenzfreundliche Kommune, das sogenannte „Kobe Modell“, ins Leben. Die Stadt erhöhte den nicht-einkommensabhängigen Teil der kommunalen Einwohnersteuer um jährlich 400 Yen (ca. 3 €) und finanziert damit ein Programm, das ein zuzahlungsfreies Diagnosesystem für Personen ab 65 Jahren (zwei Stufen: allgemeine und genauere Untersuchung der kognitiven Funktionen) mit einem Unfallhilfesystem (zwei Stufen: Haftpflichtversicherung und Beihilfe) kombiniertFootnote 18. Ausgehend von den Erfahrungen nach dem großen Hanshin–Awaji-Erdbeben (1995) setzt die Stadt Kobe die regelmäßigen Besuche bei alleinlebenden älteren Menschen fort und fördert Projekte wie den Aufbau und die Fortführung von Tsudoi no ba (Treffpunkte), von denen es derzeit ca. 1300 in ganz Kobe gibt. Darüber hinaus bietet die NPO CS (Community Support) Kobe Informationen und Beratung zum Aufbau und Betrieb von diversen Ibasho cafe (Café mit Heimfühl-Charakter) an, wie das Kindercafé oder das Orange CaféFootnote 19 und hält regelmäßig Versammlungen ab, auf denen über die Aktivitäten der Cafés berichtet und die Möglichkeit zum Informationsaustausch gegeben wird.

Die genannten Beispiele sind nur ein kleiner Ausschnitt aus den zahlreichen Initiativen auf kommunaler Ebene. Vor dem Hintergrund des raschen demographischen Wandels der japanischen Gesellschaft können sie jedoch als Referenz für künftige Maßnahmen zur Unterstützung pflegender Angehöriger dienen. Die Unterstützung pflegender Angehörige sollte nicht unter Federführung der Regierung vorangetrieben werden, sondern es gilt, auf die Stimmen derjenigen zu hören, die konkret pflegende Angehörige unterstützen und somit deren Bedürfnisse kennen. In Zusammenarbeit von Kommunen und der lokalen Gemeinschaft sind wirksame Unterstützungsmaßnahmen zu erarbeiten – einen anderen Weg gibt es nicht.