Zusammenfassung
Zweimal sah sich Deutschland im Laufe des 20. Jahrhunderts mit dem Kollaps einer gesellschaftlichen Ordnung konfrontiert, deren Existenz nur durch die gewaltsame Unterdrückung und Verfolgung von Andersdenkenden aufrechterhalten werden konnte. Beide Male sahen sich Psychologinnen und Psychologen, die mittels ihrer psychologischen Expertise einen Beitrag zur Stabilisierung dieser Systeme geleistet hatten, nach dem Zusammenbruch mit dem Vorwurf konfrontiert, wie ihre Tätigkeit in einem diktatorischen oder autoritären System zu rechtfertigen sei. Am Beispiel der Wehrmachtpsychologie der NS-Zeit sowie der Operativen Psychologie in der DDR geht dieser Beitrag der Frage nach der Möglichkeit einer historischen Analyse von ‚Strategien der Rechtfertigung‘ nach, die spiegelbildlich zu einer Historisierung der Kritik der Psychologie konzipiert ist. Die Analyse der beiden historischen Episoden offenbart ein Alternieren der Akteure zwischen verschiedenen rhetorischen Strategien, eine Vermischung ethischer, pragmatischer, methodischer und epistemologischer Argumente, um die psychologische Praxis nachträglich zu legitimieren und einen professionellen ‚Binnenraum‘ wissenschaftlichen Handelns zu konstruieren, welcher vom politisch-ideologischen Zugriff von ‚außen‘ so weit als möglich verteidigt worden sei. Der Fokus des Beitrages auf psychologische ‚Kulturen der Rechtfertigung‘ unterstreicht zum einen das Potential einer kritisch orientierten Historiographie, die Logik der psychologischen Praxis unter verschärften politischen Rahmenbedingungen sichtbar zu machen, zum anderen werden grundsätzliche ethische Fragen zum psychologischen Fach- und Selbstverständnis und zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik aufgeworfen, die auch die gegenwärtige psychologische Berufspraxis betreffen.
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Wieser, M. (2020). Über das ‚Messer des Chirurgen‘ und ‚unangefochtene Inseln der Auslesearbeit‘: Skizze einer Genealogie der psychologischen Moral. In: Balz, V., Malich, L. (eds) Psychologie und Kritik. Springer, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-29486-1_7
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