Zusammenfassung
‚Globalisierung‘ ist zu einem ‚catch-all‘-Begriff geworden, aber eine überzeugende gesellschaftstheoretische Interpretation der mit ihm gemeinten Entwicklungen steht bis heute aus. Der viel kritisierte „methodische Nationalismus“ scheint sich in jüngster Zeit in der Soziologie wie der Politischen Ökonomie wieder stärker zu verbreiten. Die sich hier abzeichnende theoretische Sackgasse kann – so die These des Beitrages – durch eine erneute Auseinandersetzung mit der liberalen Theorietradition und ihrer Wirkungsgeschichte überwunden werden, die darauf zielt, den globalen Markt nicht länger aus dem Kreis normativ relevanter Sozialverhältnisse auszuschließen. Die Argumentation mündet in ein relationales Verständnis von Globalisierung, das sich auf die Frage nach tragfähigen Kombinationen zwischen globaler und lokaler Vergesellschaftung konzentriert.
Ich danke Paul Windolf und den anonymen Gutachtern für hilfreiche Anmerkungen; ebenso Hans-Jürgen Bieling und den Mitdiskutanten in einem Kolloquium am Tübinger Institut für Politikwissenschaft im Juni 2015, in dem ich eine erste Fassung dieses Aufsatzes vorgetragen habe.
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Notes
- 1.
Im Jahr 2010 widmete sich ein ganzer deutscher Soziologie-Tag diesem Thema (Soeffner 2013).
- 2.
„Gesellschaft“ war ursprünglich ein „Drittenstandsbegriff“, wie die Autoren des Frankfurter Instituts für Sozialforschung unter Verweis auf den Staatsrechtstheoretiker Bluntschli schon vor sechzig Jahren betont haben (Institut für Sozialforschung 1956, S. 23).
- 3.
Polanyis institutionentheoretische Position ist von der deutlich schwächeren Version der Einbettungsthese zu unterscheiden, wie sie vor allem Mark Granovetter (1985) vertreten hat. Die folgenden Überlegungen beziehen sich zunächst allein auf die Argumentation Polanyis; auf die Position Granovetters komme ich weiter unten zurück.
- 4.
„Im Rückblick wird unsere Zeit als jene gelten, die das Ende des selbstregulierenden Marktes erlebt hat.“ (Polanyi 1978, S. 196).
- 5.
- 6.
Honneth (2011, S. 317 f.).
- 7.
Crouch (2004).
- 8.
Das lässt sich schon bei Locke und Hegel nachlesen; in neuerer Zeit haben Heinsohn und Steiger (1996) daran wieder erinnert.
- 9.
In den Begriffen der Scholastik formuliert, gilt nicht die „iustitia distributiva“, also die redistributive soziale Gerechtigkeit, sondern allein die „iustitia commutativa“ im Sinn der formalen Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung (Nutzinger und Hecker 2008).
- 10.
Streeck (2011, S. 143).
- 11.
Das war bekanntlich bereits die Leistung der von Jaspers und Eisenstadt so bezeichneten „achsenzeitlichen“ Religionen gewesen (vgl. Jaspers 1949).
- 12.
Rüstow (2001).
- 13.
Hayek seinerseits ist bekanntlich stark durch die Sozialismuskritik seines Lehrers Ludwig v. Mises (Mises 1922) beeinflusst.
- 14.
Hayek (1945).
- 15.
Beckert (2016).
- 16.
Simmel (1989, S. 264).
- 17.
Deutschmann (2013).
- 18.
Aldrich (2005).
- 19.
Beckert (1997).
- 20.
Hayek (2011).
- 21.
- 22.
Die monotheistischen Religionen kennen das analoge Problem der Unerfüllbarkeit der Gebote Gottes für den normalen Gläubigen. Nur religiöse Virtuosen oder Asketen sind in der Lage, ihr Leben an der Erfahrung der Unmittelbarkeit Gottes auszurichten und seine Gebote strikt einzuhalten (vgl. Riesebrodt 2007, S. 175 f.). Die heutigen Finanzmarkt-Virtuosen zeichnen sich durch eine ähnlich asketische Lebensführung aus: Sie verlassen ihre Bildschirm-Arbeitsplätze kaum mehr, schlafen auf Feldbetten und ernähren sich von Pizza-Services.
- 23.
Walzer (1983).
- 24.
dazu Michéa (2014 [1960]).
- 25.
Daraus resultiert, wie ich an anderer Stelle (Deutschmann 2015; siehe auch den folgenden Beitrag in diesem Band) ausführlicher dargelegt habe, das ungeklärte Verhältnis der ökonomischen Theorie zur Theologie. In einigen ihrer Varianten – etwa in Smiths Konzept der „unsichtbaren Hand“, in der theologischen Fundierung des Ordoliberalismus, oder in Hayeks Evolutionismus – nimmt die ökonomische Theorie explizit oder implizit Gott bzw. höhere Mächte in Anspruch. Vermieden werden kann dies nur dort, wo das Problem der Unsicherheit, wie bei Keynes, anerkannt wird, oder wo es, wie in der Neoklassik, auf der Ebene analytischer Prämissen eliminiert wird.
- 26.
- 27.
einen Überblick liefern Appelbaum und Robinson (2005).
- 28.
Stiglitz (2002).
- 29.
Eine instruktive Analyse der Auswirkungen der Marktliberalisierung in Indien und New Delhi bietet Dasgupta (2014). Die Globalisierung hat, wie er zeigt, einerseits den Aufstieg einer neuen urbanen Mittelschicht ermöglicht. Andererseits erzeugte sie extreme soziale Verwerfungen und beispiellose Exzesse von Gewalt, Wirtschaftskriminalität und Korruption, die freilich, wie der Autor zeigt, keineswegs vom Himmel fielen, sondern in den überkommenen Sozialstrukturen bereits angelegt waren.
- 30.
So z. B. Fligstein (2001, S. 220 f.).
- 31.
z. B. Grande (2004).
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Deutschmann, C. (2020). Die Entgrenzung der Märkte als Problem der Gesellschaftstheorie. In: Trügerische Verheißungen: Markterzählungen und ihre ungeplanten Folgen. Wirtschaft + Gesellschaft. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-28582-1_3
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