Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag skizziert die historische Entwicklung des schleswig-holsteinischen Wahlsystems, gibt einen Überblick über die zugehörigen Wahlergebnisse und diskutiert Konsequenzen für die hieraus resultierenden Parteiensysteme. Über verschiedene Entwicklungsphasen von 1945 bis heute besaß das Wahlsystem zum schleswig-holsteinischen Landtag Spezifika, die es von der Mehrheit der anderen Länder deutlich unterscheidbar machten. Auf die Struktur des Parteiensystems wirkten sich die meisten dieser Besonderheiten jedoch nicht aus. Hinsichtlich vieler Indizes zur Messung von Parteisystem-Eigenschaften liegt Schleswig-Holstein im (westdeutschen bzw. deutschen) Durchschnitt. Der Blick über diese Durchschnittswerte hinaus offenbart aber, dass Schleswig-Holstein ein Land starker Ausreißer ist – zum Beispiel den sehr wechselhaften Erfolg der beiden Volksparteien CDU und SPD betreffend.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Zur besseren Lesbarkeit verwende ich hier wie im Folgenden das generische Maskulin, das andere Geschlechter selbstverständlich nicht ausschließen soll.
- 2.
Neben Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen gehörten auch diese beiden Stadtstaaten seinerzeit zur britischen Besatzungszone.
- 3.
Anders Eder und Magin (2008, S. 43).
- 4.
Bezeichnen vp den Stimmanteil und sp den Sitzanteil einer Partei p, so ergibt sich der Loosemore-Hanby-Index als LHI = ∑|vp – sp|/2. Andere Disproportionalitätsindizes wie etwa der Gallagher-Index (vgl. Gallagher 1991) führen zu strukturell gleichen Ergebnissen. Auswirkungen der Wahlsysteme auf die Parteiensysteme werden in Abschn. 3 diskutiert. Um Ausreißer durch einzelne Wahlen in bestimmten Jahren zu vermeiden, die zu Fehlinterpretationen führen könnten, wurden die Länderdurchschnitte wie folgt ermittelt: Für jedes Jahr wurde jedem Bundesland der Wert der bis dato jüngsten Wahl zugewiesen; in Wahljahren geht der Wert der entsprechenden Wahl ein. Diese Werte dienen als Grundlage für die Durchschnittsberechnungen. Das Vorgehen für die Abb. 2, 4, 5, 6 und 7 ist analog.
- 5.
Dies ist umso bedeutsamer, als in Deutschland üblicherweise die (mandats-)stärkste Partei innerhalb einer Koalition den Regierungschef stellt, was in dem 1950 geschmiedeten Bündnis aus CDU, BHE, Deutscher Partei (DP) und FDP aufgrund des Wahlsystems die CDU und nicht der BHE war.
- 6.
Als Randnotiz ist erwähnenswert, dass die fehlende Tradition christlicher Parteien in Schleswig-Holstein so stark ausgeprägt ist, dass die Nord-CDU bei ihrer Konstitution auf das C verzichtete und nur als Demokratische Union firmierte (Carstens 1998, S. 329).
- 7.
Auf dem Höhepunkt der Barschel-Affäre 1987 war es allerdings exakt dieses eine Mandat des SSW, das ein Patt zwischen CDU und FDP einerseits sowie SPD und SSW andererseits verursachte (vgl. etwa Fischer 1998, S. 309).
- 8.
Die Bevölkerung Schleswig-Holsteins stieg nach 1945 im Vergleich zu 1939 um rund 70 % (Schüttemeyer 1994, S. 564).
- 9.
Das Median-Einzugsjahr grüner Parteien in deutsche Landtage liegt bei 1988,5 – nur bezogen auf westdeutsche Länder sogar bei 1982, was die Schwierigkeiten der Grünen, in Schleswig-Holstein Fuß zu fassen, unterstreicht.
- 10.
Das Median-Einzugsjahr der PDS bzw. Linken liegt bei 2008.
- 11.
Für eine vollständige Übersicht der Bundestagswahlergebnisse in Schleswig-Holstein bis 2009 siehe Mielke und Bräuer (2012, S. 593).
- 12.
Die effektive Parteienanzahl ENP ergibt sich formal aus ENP = 1/∑s 2 p .
- 13.
Anders als auf Bundesebene kann zunächst ein Anstieg der Fragmentierung in den Anfangsjahren beobachtet werden. Dies ist zum einen auf teilweise restriktivere Wahlsysteme wie LSM in den Ländern zurückzuführen, zum anderen darauf, dass die Parteien bei den ersten Wahlen in den Ländern noch durch die Besatzungsmächte lizenziert wurden.
- 14.
Die Prädominanz einer Partei liegt nach Niedermayer dann vor, wenn die stärkste Partei über eine absolute Mehrheit verfügt, während die zweitstärkste maximal 25 % der Sitze (oder Stimmen, wenn die Typologie auf elektoraler Ebene angewendet wird) hält. Zweiparteien-Dominanz liegt dann vor, wenn die beiden stärksten Parteien jeweils mindestens ein Viertel der Mandate besitzen und gemeinsam mehr als zwei Drittel, wobei der Abstand zur drittstärksten Partei gewahrt sein muss – diese darf maximal halb so stark sein wie die zweitgrößte. Pluralistische (effektive Parteienanzahl ≤ 5) oder hochfragmentierte (effektive Parteienanzahl > 5) Systeme liegen vor, wenn keine dieser beiden Bedingungskombinationen erfüllt ist.
- 15.
Das bisher einzige hochfragmentierte (nach Niedermayer) bzw. offene (nach Laver und Benoit) Parteiensystem existiert im Berliner Abgeordnetenhaus seit der Wahl 2016.
- 16.
Klingemann et al. (2006) bieten mit der Kodierung von Wahlprogrammen beispielsweise einen wahren Datenschatz an, Benoit und Laver (2006) und Bakker et al. (2015) stellen Ergebnisse von Expertenbefragungen zur Verfügung, und Poole und Rosenthal (1991) zeigen, wie Schätzungen auf Basis des Abstimmungsverhaltens von Abgeordneten durchgeführt werden können.
- 17.
FW: Freie Wähler (Bayern), AFB: Arbeit für Bremen und Bremerhaven (Bremen), Statt-Partei (Hamburg).
- 18.
Zwar sind die Ergebnisse von Pappi und Seher für die mittelgroßen und großen Parteien plausibel, eine überwiegend linke Einschätzung von NPD, DVU, Republikanern und PRO (vgl. den Online-Anhang zu Seher und Pappi 2011) lässt aber vermuten, dass die Wordfish-Methode nur bedingt geeignet ist, extreme Parteien angemessen im Politikraum abzubilden.
- 19.
Schniewinds Berechnungen basieren auf dem vorab schon bei Debus (2008) veröffentlichten, identischen Datensatz.
- 20.
Bezeichnen vpt den Stimmanteil einer Partei p zum Zeitpunkt t einer Wahl und vp(t − 1) den Stimmanteil derselben Partei zur Wahl davor, so ergibt sich der Pedersen-Index als PI = ∑|vpt – vp(t − 1)|/2.
Literatur
Adenauer, Konrad. 1955. Erklärung der Regierung der Bundesrepublik Deutschland. http://www.kopenhagen.diplo.de/contentblob/3823182/Daten/3054112/bonnererklaerung.pdf. Zugegriffen: 1. Sept. 2016.
Bakker, Ryan, Catherine de Vries, Erica Edwards, Liesbet Hooghe, Seth Jolly, Gary Marks, Jonathan Polk, Jan Rovny, Marco Steenbergen, und Milada A. Vachudova. 2015. Measuring party positions in Europe: The Chapel Hill expert survey trend file, 1999–2010. Party Politics 21 (1): 143–152.
Becker, Florian, und Frederik Heinz. 2010. Offene Fragen im schleswig-holsteinischen Wahlrecht. Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland 14 (4): 131–137.
Behnke, Joachim. 2014. Das neue Wahlgesetz im Test der Bundestagswahl 2013. Zeitschrift für Parlamentsfragen 45 (1): 17–37.
Benoit, Kenneth, und Michael Laver. 2006. Party policy in modern democracies. New York: Routledge.
Best, Volker. 2015. Koalitionssignale bei Landtagswahlen Eine empirische Analyse von 1990 bis 2012. Baden-Baden: Nomos.
Bräuninger, Thomas, und Marc Debus. 2012. Parteienwettbewerb in den deutschen Bundesländern. Wiesbaden: VS Verlag.
Carstens, Uwe. 1998. Parteiendemokratie in Schleswig-Holstein. In Demokratie in Schleswig-Holstein. Historische Aspekte und aktuelle Fragen, Hrsg. Göttrick Wewer, 232–341. Opladen: Leske + Budrich.
Debus, Marc. 2008. Parteienwettbewerb und Koalitionsbildung in den deutschen Bundesländern. In Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Bundesländern, Hrsg. Uwe Jun, Melanie Haas, und Oskar Niedermayer, 57–78. Wiesbaden: VS Verlag.
Eder, Christina, und Raphael Magin. 2008. Wahlsysteme. In Die Demokratien der deutschen Bundesländer, Hrsg. Markus Freitag und Adrian Vatter, 33–62. Opladen: Budrich.
Farrell, David M. 2011. Electoral systems. A comparative introduction. New York: Palgrave Macmillan.
Fischer, Karl-Rudolf. 1998. Minderheitenpolitik und Demokratie – Profil einer schleswig-holsteinischen Besonderheit. In Demokratie in Schleswig-Holstein. Historische Aspekte und aktuelle Fragen, Hrsg. Göttrick Wewer, 309–321. Opladen: Leske + Budrich.
Gallagher, Michael. 1991. Proportionality, disproportionality and electoral systems. Electoral Studies 10 (1): 33–51.
Gallagher, Michael, und Paul Mitchell, Hrsg. 2005. The politics of electoral systems. Oxford: Oxford University Press.
Horst, Patrick. 2010. Die schleswig-holsteinische Landtagswahl vom 27. September 2009: Ministerpräsident auf Abruf kann nach vorgezogener Neuwahl schwarz-gelbe Wunschkoalition bilden. Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2): 372–390.
Kaltefleiter, Werner. 1987. Wähler und Parteien in Schleswig-Holstein 1946–1986. 10 Landtagswahlen im Überblick. In Landtage in Schleswig-Holstein gestern – heute – morgen. Zum 40. Jahrestag der ersten demokratischen Wahl am 20. April 1947, Hrsg. Rudolf Titzck, 208–217. Husum: Husum Druck- und Verlagsgesellschaft.
Kellmann, Klaus. 2002. Schleswig-Holstein. In Die deutschen Länder. Geschichte, Politik, Wirtschaft, 2. Aufl, Hrsg. Hans-Georg Wehling, 261–275. Opladen: Leske + Budrich.
Klingemann, Hans-Dieter, Andrea Volkens, Judith Bara, Ian Budge, und Michael McDonald. 2006. Mapping policy preferences II. Oxford: Oxford University Press.
Laakso, Markku, und Rein Taagepera. 1979. “Effective” number of parties: A measure with application to West Europe. Comparative Political Studies 12 (1): 3–27.
Lange, Erhard H.M. 1975. Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussion im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945–1956. Meisenheim: Verlag Anton Hain.
Laver, Michael, und Kenneth Benoit. 2015. The basic arithmetic of legislative decisions. American Journal of Political Science 59 (2): 275–291.
Laver, Michael, und John Garry. 2000. Estimating policy positions from political texts. American Journal of Political Science 44 (3): 619–634.
Linhart, Eric. 2010. Zur Vergabe von Überhang- und Ausgleichsmandaten im schleswig-holsteinischen Wahlrecht. http://www.wahlrecht.de/doku/download. Zugegriffen: 1. Sept. 2016.
Linhart, Eric, und Harald Schoen. 2010. Überhang- und Ausgleichsmandate in Schleswig-Holstein: Unklares Wahlrecht und Reformvorschläge. Zeitschrift für Parlamentsfragen 41 (2): 290–303.
Linhart, Eric, Marc Debus, und Thomas Bräuninger. 2010. The 2009 elections in Schleswig-Holstein: Polarised electoral campaign, exceptional election results, and an unspectacular process of government formation. German Politics 19 (2): 237–253.
Loosemore, John, und Victor J. Hanby. 1971. The theoretical limits of maximum distortion: Some analytical expressions for electoral systems. British Journal of Political Science 1 (4): 461–477.
LWahlG SH. 2016. Wahlgesetz für den Landtag von Schleswig-Holstein. http://www.gesetze-rechtsprechung.sh.juris.de/jportal/?quelle=jlink&query=WahlG+SH&psml=bsshoprod.psml&max=true&aiz=true. Zugegriffen: 1. Sept. 2016.
Massicotte, Louis. 2003. To create or to copy? Electoral systems in the German Länder. German Politics 12 (1): 1–22.
Mielke, Siegfried, und Christian Bräuer. 2012. Landesparlamentarismus in Schleswig-Holstein: Vom disziplinierten Parlamentarismus zur Parlamentsregierung? In Landesparlamentarismus. Geschichte – Struktur – Funktionen, 2. Aufl, Hrsg. Siegfried Mielke und Werner Reutter, 589–624. Wiesbaden: VS Verlag.
Müller, Jochen, und Christian Stecker. 2014. Zur Aussagekraft von Idealpunktschätzungen in parlamentarischen Systemen. Eine Analyse potenzieller Auswahlverzerrungen. In Räumliche Modelle der Politik, Bd. 8, Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Hrsg. Eric Linhart, Bernhard Kittel, und André Bächtiger, 85–111. Wiesbaden: Springer VS.
Niedermayer, Oskar. 2008. Parteiensysteme. In Die EU-Staaten im Vergleich, Hrsg. Oscar W. Gabriel und Sabine KroS. 351–388. Wiesbaden: VS Verlag.
Nohlen, Dieter. 2009. Wahlrecht und Parteiensystem, 6. Aufl. Opladen: Budrich.
Pappi, Franz U., und Nicole M. Seher. 2014. Die Politikpositionen der deutschen Landtagsparteien und ihr Einfluss auf die Koalitionsbildung. In Räumliche Modelle der Politik, Bd. 8, Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie, Hrsg. Eric Linhart, Bernhard Kittel, und André Bächtiger, 171–205. Wiesbaden: Springer VS.
Pedersen, Mogens N. 1979. The dynamics of European party systems: Changing patterns of electoral volatility. European Journal of Political Research 7 (1): 1–26.
Poole, Keith, und Howard Rosenthal. 1991. Patterns of congressional voting. American Journal of Political Science 35 (1): 228–278.
Raabe, Johannes, Roland Krifft, Joshua Vogel, und Eric Linhart. 2014. Verdientes Vorbild oder Mythos? Eine vergleichende Analyse der personalisierten Verhältniswahl auf Länderebene. Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft 8 (3): 283–305.
Rudzio, Wolfgang. 1969. Export englischer Demokratie? Zur Konzeption der britischen Besatzungspolitik in Deutschland. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17 (2): 219–236.
Sartori, Giovanni. 1976. Parties and party systems: A framework for analysis. Cambridge: Cambridge University Press.
Schmitt-Beck, Rüdiger. 2012. Empirische Wahlforschung in Deutschland: Stand und Perspektiven zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Politische Vierteljahresschrift 45 (Sonderheft): 2–38.
Schniewind, Aline. 2008. Parteiensysteme. In Die Demokratien der deutschen Bundesländer, Hrsg. Markus Freitag und Adrian Vatter, 63–109. Opladen: Budrich.
Schüttemeyer, Suzanne S. 1994. Schleswig-Holstein. In Handbuch der deutschen Bundesländer, 2. Aufl, Hrsg. Jürgen Hartmann, 562–592. Frankfurt a. M.: Campus.
Seher, Nicole M., und Franz U. Pappi. 2011. Politikfeldspezifische Positionen der Landesverbände der deutschen Parteien. MZES-Arbeitspapier Nr. 139, Mannheim.
Slapin, Jonathan B., und Sven-Oliver Proksch. 2008. A scaling model for estimating time-series party positions from texts. American Journal of Political Science 52 (3): 705–722.
Strohmeier, Gerd. 2015. Die Bundestagswahl 2013 unter dem reformierten Wahlsystem: Vollausgleich der Überhangmandate, aber weniger Erfolgswertgleichheit. In Die Bundestagswahl 2013. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, Hrsg. Karl-Rudolf Korte, 55–78. Wiesbaden: Springer VS.
von Beyme, Klaus. 2000. Parteien im Wandel. Von den Volksparteien zu den professionellen Wählerparteien. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
Wissel, Manfred. 1998. Demokratie und Integration: Flüchtlinge und Vertriebene in Schleswig-Holstein 1945–1950. In Demokratie in Schleswig-Holstein. Historische Aspekte und aktuelle Fragen, Hrsg. Göttrick Wewer, 247–287. Opladen: Leske + Budrich.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2019 Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Linhart, E. (2019). Wahlsystem, Wahlen und Parteiensystem in Schleswig-Holstein. In: Knelangen, W., Boyken, F. (eds) Politik und Regieren in Schleswig-Holstein. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-25748-4_9
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-658-25748-4_9
Published:
Publisher Name: Springer VS, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-658-25747-7
Online ISBN: 978-3-658-25748-4
eBook Packages: Social Science and Law (German Language)