Zusammenfassung
Hat die Anziehungskraft des Postfaktischen mit fehlender politischer Bildung zu tun oder mit dem Aufblühen politischer Einbildungskraft? Unabhängig von der konkreten Antwort auf diese Frage wurde zuletzt auf die Bedeutung des Imaginären für die Vorstellungsbildung hingewiesen. Für die Wahrnehmung sei die Imagination, die Einbildungskraft „konstitutives Element“. Dabei lässt sich nachweisen, dass die genaue Ausprägung der Einbildungskraft historisch und kulturell variiert und sich in Abhängigkeit eines Gesellschaftlich-Imaginären bildet. Letzteres wandelt sich gegenwärtig auf problematische Weise: Das Bild einer Gemeinschaft, die sich erst aus einer kommunitaristischen Praxis ergebe (imaginaire synthétique), werde abgelöst von einem Imago eines eigentlichen Kerns des Volkes, das seinen Institutionen gegenüber fremd sei (imaginaire mystique). Hier findet sich ein idealer Nährboden für die postfaktische Situation, denn ein von den sinnhaften demokratischen Institutionen abgekoppeltes Vorstellungsuniversum kann sich seine eigenen Wahrheiten imaginieren. Im Beitrag wird herausgestellt, dass es unbedingt notwendig ist, die imaginäre Dimension zu berücksichtigen. Hierzu werden wesentliche Entwicklungsschritte der Ästhetisierung der Gesellschaft rekonstruiert, die Bedeutung des Imaginären für die politische Ordnung aufgezeigt und daraus ein Anforderungsprofil für die Politische Bildung erstellt.
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Notes
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Dass Lyotard als Kronzeuge gilt, darf weiterhin angenommen werden (vgl. dazu Welsch 1988). Die Frage, ob die Postmoderne als eine Epoche zu verstehen ist oder nicht (vgl. dazu Zima 2014) oder andere Begriffe wie die „Sattelzeit“ (Koselleck 1979) markante Bruchlinien der Moderne hervorheben, wird hier nicht weiterverfolgt. Zur Erfassung der historischen Entwicklungslinien zum postfaktischen Zeitalter scheint das Konzept der Postmoderne nach wie vor am geeignetsten.
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Die weiteren Entwicklungen in der Geschichte der Philosophie werden hier ausgeblendet, weil die Postmoderne als gesellschaftlich-epistemologische Konstellation fokussiert werden soll. Es sei aber darauf hingewiesen, dass der Verlust der Überzeugungskraft von philosophischen Gesamtsystemen ebenfalls als bedeutsam eingeschätzt wird (vgl. z. B. Bürger 2007).
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Trump auf twitter am 28. Januar 2014. Zit. nach kurier.at (https://kurier.at/politik/ausland/ausgewaehlte-trump-zitate-zum-klimawandel/267.316.897 [Zugriff 25.11.2017]).
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Anders als mancherorts behauptet, wurde der Postmoderne dagegen auch von ihren Kritikern eine gesellschaftliche Existenz und damit Wirksamkeit zugestanden. Vgl. z. B. Eagleton (1997, S. IX): „Die Macht der Postmoderne ist zum Teil in der Tatsache begründet, dass sie existiert, während eine solche Behauptung über den Sozialismus heutzutage recht fragwürdig ist. Ohne Hegel zu nahe treten zu wollen, möchte es so scheinen, als sei das Wirkliche das Unvernünftige und das Vernünftige das Unwirkliche.“
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Eine These könnte sein, dass sich der Unterschied an einer Realisierung der Kontingenz abtragen lässt. In einer solchen paradoxen Bewegung wird die radikale Kontingenz nochmals radikalisiert, in dem die ikonografische Grammatik – die Bilderwelten – vervielfältigt werden und gleichzeitig an Diskursarten gebunden werden. Damit wird Logik des Erscheinens, des Deutens, der Auslegungen und Beschreibung – kurz die Logik der Modalität – durch eine Logik der Setzung des Faktischen ersetzt. Die Vorstellungswelt, die einer Diskursart, einem gesellschaftlichen Einsatz auf diese Weise zugewiesen wird, wird exklusiv und damit als ein Fakt ausgewiesen. Die neue Aufmerksamkeit, die dem Politisch-imaginären zukommt (vgl. statt vieler Diehl 2015 oder Trautmann 2017) könnte ein Indiz für die Belastbarkeit der Annahme sein (vgl. auch Abschn. 4.3).
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Friedrichs, W. (2019). Der einbildende Bildner. Politische Bildung im postfaktischen Zeitalter. In: Deichmann, C., May, M. (eds) Orientierungen politischer Bildung im "postfaktischen Zeitalter". Politische Bildung. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23851-3_2
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