Zusammenfassung
Der Artikel analysiert den EU-Grenzschutz in Hinsicht seiner Technologien des Regierens und ihrer Zugehörigkeit zur Disziplinar-, Kontroll- oder gouvernementalen Gesellschaft. Zentral ist dabei die Frage nach der Digitalität der smart border systems, ihrer politischen Rationalität als Regierungskunst und Selbsttechnologie. Insbesondere wird die Ausgestaltung der politischen Rationalität durch Medienpraktiken der Grenzschutzagentur Frontex, ihrer Programme Frontex plus und Eurosur, in den Blick genommen. Damit wird ein Blick auf die These des Technikdeterminismus der border studies und der angenommenen neoliberalen Gouvernementalität der Überwachung geworfen. Das EU-Gesetz zur Etablierung eines gemeinsamen EU-Grenzschutzes wird diskutiert, a) zwischen Nationalstaat und supranationalstaatlicher Institution, b) zwischen Disziplinar-, Kontroll- und gouvernementaler Gesellschaft.
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Notes
- 1.
Vgl. das Surveillance Studies Center: http://www.sscqueens.org/, insbesondere die Veröffentlichungen von David Lyon (2001).
- 2.
Die folgende Kurzcharakterisierung der vier Deleuze-Texte folgt Kammerer (2011).
- 3.
Zur europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX im Allgemeinen: http://frontex.europa.eu/; Frontex plus ist die Fortführung der Rettungsaktionen der italienischen Küstenwache (Mare Nostrum) unter der Ägide von Frontex mit dem Namen Triton. Zugegriffen: 20. Dezember 2016.
- 4.
Zu Eurosur, siehe: http://frontex.europa.eu/intelligence/eurosur. Zugegriffen: 20. Dezember 2016.
- 5.
Die NGO Scrute le Mer/ Watch the Med versucht dies ansatzweise. Vgl: http://watchthemed.net. Zugegriffen: 20. Dezember 2016.
- 6.
Zuweilen kommt noch die Zuschreibung des rechtsfreien Raums hinzu, etwa des Mittelmeers oder aufgrund der nicht mehr gültigen Ausnahmen, den Lagern (vgl. Agamben 2002).
- 7.
Dies in Referenz auf und Widerspruch zu Cuttitta (2006), Die Welt wird zum Grenzsraum (sic!), so im Deutschen Wortoriginal.
- 8.
„Die Mandate der Europäischen Agentur für die Sicherheit des Seeverkehrs und der Europäischen Fischereiaufsichtsagentur werden dem der Agentur für die Grenz- und Küstenwache angeglichen, damit alle drei ihre Einsätze auf See koordinieren und so Informationen austauschen können“, so der Entwurf der gebilligten Gesetzesinitiative zur Errichtung des EU-Grenzschutzes, vgl. Europäisches Parlament (2016a).
- 9.
Zunächst sollte der EU-Grenzschutz mit 1000 EU-Bediensteten plus 1500 nationalen Grenzschützern in Bereitschaft personell ausgestattet werden und über Fahrzeuge, Flugzeuge, Schiffe verfügen, um einzugreifen (vgl. Europäische Kommission 2016). In der Billigung der Gesetzesinitiative war nicht mehr vorgesehen, dass die Agentur über eigenen Grenzschützer verfügt, diese aber aus dem Pool der nationalen Grenzschützer rekrutiert werden.
- 10.
„Bedarfsorientierte und vernetzte Weiterentwicklung des europäischen Grenzmanagements unter Beibehaltung der Zuständigkeit der MS [Militärischen Sicherheit, Anm. d. Verf.] für den Außengrenzschutz. Die operative Zusammenarbeit und Unterstützung auf dem Gebiet des Grenzmanagements muss im Rahmen der jeweils bestehenden Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten der MS erfolgen, sollte aber die vorhandenen Instrumente einheitlich berücksichtigen und konsequent anwenden. Es kann auch anlässlich der derzeit diskutierten Stärkung der Frontex-koordinierten Operationen im zentralen Mittelmeer (derzeit „Hermes“, künftig „Triton“; Arbeitsbegriff auch „Frontex Plus“) keinen Transfer von Grenzschutzkompetenzen an die EU geben (Beibehaltung des Mandats von Frontex), vielmehr sollten unter Berücksichtigung synergetischer Aspekte der Verbund, die Koordination und der Informationsaustausch gestärkt werden“ (European Commission 2014, S. 2).
- 11.
„Der Einsatzplan müsste von dem betreffenden Mitgliedstaat gebilligt werden, sowie von der Agentur, bevor der Einsatz stattfinden kann. Wenn der betreffende Mitgliedstaat dem Beschluss des Rates nicht nachkommt und keine Unterstützung anbieten, können andere Mitgliedstaaten beschließen, an ihren Binnengrenzen wieder Grenzkontrollen einzuführen“ (Europäisches Parlament 2016a).
- 12.
Vgl. http://www.georgklein.de/installations/037_EUBW_d.html. Zugegriffen: 20. Dezember 2016.
Literatur
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Wagner, H. (2018). Europäische Union und digitale Gouvernementalität. In: Buhr, L., Hammer, S., Schölzel, H. (eds) Staat, Internet und digitale Gouvernementalität. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18271-7_8
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