Zusammenfassung
Die Enthüllungen von Edward Snowden haben die öffentliche Aushandlung von Privatheit neu angefacht. In dieser Situation der Neuordnung untersuchen wir eine konkrete Kontroverse um die Zukunft der Privatheit; die Debatte um die Einführung eines nationalen Routings in Deutschland. Unsere Analyse zeigt, wie trotz neuer Problemlagen etablierte Routinen reproduziert werden. Nationales Routing erweist sich als Teil einer Strategie der Reterritorialisierung, mit der auf Krisen der Privatheit durch räumliche Rückbindung digitaler Praktiken reagiert werden soll. Diese Strategie identifizieren wir als Ausdruck einer spezifischen Reaktionsweise der Demokratie, mit der ein bestimmter Umgang mit Privatheit einhergeht. Abschließend entwickeln wir ein Schema alternativer demokratischer Reaktionsweisen.
Ermöglicht wurde die hier vorgestellte Forschung durch die Finanzierung des Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des interdisziplinären Verbundprojekts Kartografie und Analyse der Privacy-Arena (Förderkennzeichen: 16KIS0096K). Beteiligt an diesem Verbund sind die Disziplinen Soziologie (unter Leitung von Jörn Lamla und Carsten Ochs, Universität Kassel), Rechtswissenschaft (unter Leitung von Alexander Roßnagel und Silke Jandt, Universität Kassel) und Philosophie/Ethik (unter Leitung von Regina Ammicht Quinn und Jessica Heesen, Universität Tübingen). Die Forschungsergebnisse aus dem ersten Jahr des Projektverbundes sind als Buch erschienen (Büttner et al. 2016).
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Notes
- 1.
Dieser Begriff bezieht sich auf jene ökonomischen Akteur*innen, deren Geschäftsmodell darauf beruht, den User*innen Mittel zur Verfügung zu stellen, um Sozialität herzustellen. Im Gegenzug werden die User*innen beobachtet, um aus diesen Beobachtungen Profit zu erwirtschaften. Der Austausch von Waren gegen das universelle Äquivalent des Geldes (wie es Marx im frühen industriellen Kapitalismus analysierte) weicht hier einer neuen Form des Tauschs, nämlich der von Waren gegen Daten.
- 2.
Als Veranschaulichung für diese Behauptung möchten wir auf das Beispiel des Aufrufs von Schriftsteller*innen gegen Massenüberwachung („Die Demokratie verteidigen im digitalen Zeitalter“) verweisen, welcher von Juli Zeh und Ilja Trojanov initiiert und von 560 Schriftsteller*innen weltweit unterstützt wurde. Eine der Hauptaussagen lautet: „Eine der tragenden Säulen der Demokratie ist die Unverletzlichkeit des Individuums. Doch die Würde des Menschen geht über seine Körpergrenze hinaus. Alle Menschen haben das Recht, in ihren Gedanken und Privaträumen, in ihren Briefen und Gesprächen frei und unbeobachtet zu bleiben. Dieses existenzielle Menschenrecht ist inzwischen null und nichtig, weil Staaten und Konzerne die technologischen Entwicklungen zum Zwecke der Überwachung massiv missbrauchen“ (FAZ.net 2013a).
- 3.
Der Begriff „Arena“ knüpft an die von Anselm Strauss, Adele Clarke, Susan Leigh Star und anderen entwickelte Theorie sozialer Welten und Arenen an. Im nächsten Kapitel werden die methodologischen Überlegungen anhand der Einführung des Untersuchungsfalls erläutert.
- 4.
Reterritorialisierung bedeutet bei Deleuze und Guattari nicht nur, dass eine staatliche Ordnung erschüttert wird. Vielmehr ist dies nur die negative Seite von Reterritorialisierung. Ihr steht eine positive und kreative Seite gegenüber, die reterritorialisierende politische Kräfte in eine neue Ordnung einbindet. Territorium ist dabei nicht nur als räumliche Ordnung zu verstehen, sondern als Metapher für Ordnung generell.
- 5.
Die Frage, ob dies angesichts der geografisch zerstreuten und diffusen Internet-Infrastrukturen überhaupt möglich ist, möchten wir hier nicht stellen. Wir folgen dem Konzept einer methodologischen Unparteilichkeit nach Bloor. Unser Argument ist somit „unparteiisch gegenüber der Wahrheit und Falschheit, der Rationalität oder Irrationalität, dem Erfolg oder Misserfolg. Beide Seiten dieser Dichotomien bedürfen einer Erklärung“ (Bloor 1976, S. 7).
- 6.
„Darum jetzt unser Vorschlag für ein Internet der kurzen Wege. Schengen-Routing heißt nur, wenn Sender und Empfänger innerhalb des Schengen-Raums sind, dass dann Daten nicht unnötig über Amerika oder Asien geroutet werden. […] Es ist nicht nur eine Frage von Privatsphäre und Bürgerrechten, sondern eine fundamental wirtschaftsstrategische Frage, um die es hier geht. […] Wir laufen Gefahr, in Europa deutlich zurückzufallen. Informationen sind das Wichtigste, was wir haben. Das betrifft unsere Privatsphäre, zum anderen aber auch unsere Infrastrukturen und Technologien. Wir dürfen unsere Hoheit nicht aufgeben. Wir können und müssen mehr tun“ (FAZ.net 2013b).
- 7.
Der Begriff „repräsentieren“ verweist hier auf die Tatsache, dass Personen Mitglieder verschiedener sozialer Welten gleichzeitig sein können. Zum Beispiel nehmen Telekommitarbeiter*innen, die die Praxis des Langlaufs ausüben, an den Kernaktivitäten der sozialen Welt des Wintersports teil. So gehören Mitarbeiter*innen der sozialen Welt der Telekommunikationswirtschaft gleichzeitig der sozialen Welt des Wintersports an. An diesem Beispiel soll deutlich werden, dass die Analyseeinheit der Theorie sozialer Welten weder auf Individuen noch auf Gruppen oder ein gesellschaftliches Ganzes abstellt, sondern auf Praktiken.
- 8.
„Um Freiheit und Sicherheit im Internet zu schützen, stärken und gestalten wir die Internet-Infrastruktur Deutschlands und Europas als Vertrauensraum. Dazu treten wir für eine europäische Cybersicherheitsstrategie ein, ergreifen Maßnahmen zur Rückgewinnung der technologischen Souveränität, unterstützen die Entwicklung vertrauenswürdiger IT-und Netz-Infrastruktur sowie die Entwicklung sicherer Soft-und Hardware und sicherer Cloud-Technologie und begrüßen auch Angebote eines nationalen bzw. europäischen Routings“ (CDU/CSU/SPD 2013, S. 147 f.).
- 9.
„Eine moderne Infrastruktur ist ein wichtiger Standortfaktor für unsere Wirtschaft, stärkt die Basis für innovative und kreative Ideen und fördert eine moderne Informationsgesellschaft. Die digitale Infrastruktur, die wir gestalten, ist schnell, überall nutzbar und effizient“ (BMVI o. J.).
- 10.
Strauss (1978, S. 122) bezeichnet entstehende Verknüpfungen zwischen verschiedenen Welten als Intersektionen. Solche Beziehungen zwischen zwei oder mehr Welten bedeuten Austausch, Kompromissbildung, Auseinandersetzungen oder Kämpfen.
- 11.
In der Opposition unterstützten weder Die Grünen noch Die Linke noch die Piratenpartei das Schengen-Routing und auf europäischer Ebene herrscht Uneinigkeit über dessen Nützlichkeit. Während Angela Merkel mit europäischen Partner*innen zumindest darüber sprechen will, Kommunikationsnetzwerke innerhalb Europas aufzubauen, um den Datenschutz zu verbessern, votiert die EU-Kommissarin für die digitale Agenda, Neelie Kroes, gegen ein Schengen-Routing.
- 12.
Ein Beispiel für diese innere Zerrissenheit liefert die Rede von Sascha Lobo (2014), der als inoffizieller Sprecher der Netzgemeinde gelten kann, auf der re:publica 2014 (einer der zentralen Versammlungsorte dieser sozialen Welt). In seiner „Rede zur Lage der Nation“ kritisiert Lobo die Netzgemeinde für ihr Unvermögen, sich politisch effizient zu organisieren.
- 13.
„Also, Fazit zum Schlandnet [die Idee eines „deutschen Internets“; die Autor*innen]: Es löst keine Probleme, sondern zentralisiert sie. Es widerspricht den physikalischen Gegebenheiten der Leitungen, den die Kabel liegen nun mal nicht so, dass sie an einen der Ländergrenzen halt machen. Es erhält bzw. erhöht Überwachungsmöglichkeiten für deutsche Dienste. Und es erhöht die Marktmacht und den Umsatz der Deutschen Telekom. Und ganz obendrein ist die bisherige Politik der Deutschen Telekom der Hauptgrund dafür, dass sich kein Schlandnet ergeben hat“ (Neumann 2013, eigene Transkription).
- 14.
„Der digitale Wandel ist zu einer der zentralen Gestaltungsaufgaben für Wirtschaft, Wissenschaft, Gesellschaft und Politik geworden. Es muss das gemeinsame Ziel aller Beteiligten sein, dass Deutschland seine Autonomie und Handlungsfähigkeit im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik erhält und weiter ausbaut. Den Erhalt unserer technologischen Souveränität in wichtigen Bereichen werden wir auch in unserer Außenwirtschaftspolitik berücksichtigen“ (BMWi/BMI/BMVI 2014, S. 4).
- 15.
Frank Rieger, Sprecher des Chaos Computer Club, sagt: „Zur Frage […] bezüglich der Kosten und Risiken des Schengen-Routings: Das Schengen-Routing kann in allem, was wir diskutieren, nur ein Baustein sein. Es ist halt ein kleines Element, wo wir versuchen, etwas rückgängig zu machen, was durch, sagen wir mal, eine strategische Deregulierungspolitik der Amerikaner entstanden ist“ (Rieger 2014, S. 20).
- 16.
Beispielsweise bezeichnet die Homepage des Chaos Computer Club e. V. Dezentralisierung als eines der Prinzipien der „Hackerethik“ (CCC o. J.).
- 17.
„Also, Schengen-Routing war zum Beispiel eines dieser Themen – ist nur ein klitzekleiner Baustein, wo es wieder auf die Details ankommt –, Vorschreiben von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Mit all diesen Dingen kann man sicherlich eine Menge bewegen. Aber dazu gehört eben auch, tatsächlich deutsche Datensouveränität herzustellen. Momentan ist es immer noch so, dass ein Großteil der Metadaten aus deutschen Mobilfunknetzen nicht in Deutschland verarbeitet wird, sondern von israelischen und amerikanischen Firmen zum Teil im Ausland verarbeitet wird“ (Rieger 2014, S. 16).
- 18.
„Es muss das gemeinsame Ziel aller Beteiligten sein, dass Deutschland seine Autonomie und Handlungsfähigkeit im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik erhält und weiter ausbaut. Den Erhalt unserer technologischen Souveränität in wichtigen Bereichen werden wir auch in unserer Außenwirtschaftspolitik berücksichtigen“ (BMWi/BMI/BMVI 2014, S. 4).
- 19.
In der Presse finden sich einige Hinweise für diesen Mangel an Transparenz. Zur gemeinsamen Zielerreichung und um die Allianz für das SNR zu erweitern und zu stärken, unterhält die Deutsche Telekom geheime Regierungsberatungen mit dem BMWi (Berke 2014).
- 20.
Auf der Webseite der EU findet sich zum Thema EU-Datenschutz-Grundverordnung folgendes Statement: „Ziel der neuen Vorschriften ist es, den Bürgerinnen und Bürgern wieder die Kontrolle über ihre personenbezogenen Daten zurückzugeben und das Regelungsumfeld für Unternehmen zu vereinfachen. Die Datenschutzreform ist eine wesentliche Voraussetzung für den digitalen Binnenmarkt, den die Kommission als Priorität eingestuft hat. Die Reform ermöglicht es den europäischen Bürgerinnen und Bürgern sowie den Unternehmen, größtmöglichen Nutzen aus der digitalen Wirtschaft zu ziehen“ (Europäische Kommission 2015).
- 21.
In den Aushandlungen um die EU-Datenschutz-Grundverordnung etwa wird Datenschutz dem Erfolg der europäischen Wirtschaft gegenübergestellt. Aufgelöst wird diese Spannung durch Ausnahmen und Vagheiten, durch welche effektiv Kompetenzen an die Nationalstaaten zurück transferiert werden (The European Consumer Organisation 2015).
- 22.
„Das ist dann sozusagen eine gute Wettbewerbsansage, die mir wieder Hoffnung darauf macht, dass wir dann auch die Digitalisierungsprozesse so nutzen können, dass wir in Deutschland weiterhin Champions der industriellen Wertschöpfung sind und nicht zur verlängerten Werkbank werden. […] Wir müssen hohe Datensicherheit haben, aber wenn wir uns das Big Data Management, wenn wir uns die Möglichkeit der Verarbeitung großer Datenmengen durch einen falschen rechtlichen Rahmen zu sehr einengen, dann wird nicht mehr viel Wertschöpfung in Europa stattfinden“ (Merkel 2015).
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Pittroff, F., Ochs, C., Lamla, J., Büttner, B. (2018). Digitale Reterritorialisierung als politische Strategie. Die Reaktionsweisen der Demokratie in den Neuverhandlungen um Privatheit. In: Buhr, L., Hammer, S., Schölzel, H. (eds) Staat, Internet und digitale Gouvernementalität. Staat – Souveränität – Nation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-18271-7_7
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