Zusammenfassung
Der Beitrag diskutiert mit Blick auf das soziale Gedächtnis des Körpers Erscheinungsformen, Konstellationen und Anlässe, in denen Scham sich zeigt und (soziologisch) relevant wird. Scham, Körper und Gedächtnis hängen dabei auf spezifische Weise zusammen: Zum einen stellt das Gedächtnis ein zentrales Moment bei der sozialen und individuellen Schamverarbeitung dar – das Gefühl der Scham lässt sich nicht nur durch Geheimhaltung vermeiden, sondern auch durch Vergessen. Zum anderen können soziale Kämpfe um das öffentliche Gedächtnis auch als Kämpfe darum verstanden werden, wem legitim zugemutet werden kann, sich schämen zu müssen.
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Notes
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Der Gräzist Eric Robertson Dodds hat in seinem 1951 erschienenen Buch »The Greeks and the Irrational« (Deutsch: Die Griechen und das Irrationale. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1970) die vielbeachtete These vertreten, die homerische Welt stelle im Gegensatz zu den darauf folgenden Epochen bis in die Gegenwart hinein eine »Schamkultur« und keine »Schuldkultur« dar: »Der höchste Wert für einen homerischen Menschen ist nicht ein ruhiges Gewissen, sondern das Genießen der timé, der öffentlichen Hochschätzung: ›Warum soll ich kämpfen‹, fragt Achill, ›wenn der tapfere Kämpfer nicht mehr timé bekommt als ein Feigling?‹« (Robertson Dodds 1951, S. 15 f.). Die Unterscheidung selbst entnimmt er dem Text von Ruth Benedict (2005).
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Dass es nicht nur »Geheimnisgeneratoren« gibt, sondern auch »Vergessensgeneratoren« zeigt Martin Endreß (2011) sehr schön auf. Die Anschlussfähigkeit des Konzepts des »Generators« war mir, als ich es einführte, nicht recht bewusst, bis mich die Festschrift zu meinem 60. Geburtstag davon schließlich überzeugte. Vergleiche auch Bohn und Willems (2001) und Hahn (2001). Auch der Klatsch ist ein solcher »paradoxer Generator«. Wie Jörg Bergmann (1987) in seiner eindrucksvollen Studie gezeigt hat, ist für den Klatsch als Sozialform ja die »diskrete Indiskretion« charakteristisch. Das heißt eben, dass man Indiskretionen produziert, weil sie im Rahmen einer Diskretionsordnung lanciert werden. Brechen sie aus diesem Gehege aus, sind sie natürlich Schamgeneratoren ersten Ranges. Dabei geht es nicht nur um das Ausplaudern von deviantem Tun, sondern auch von deviantem Sein. Der im öffentlichen Diskurs unbedingt unthematisierte Körper mit seinen Defekten zum Beispiel kann durch enthüllten Klatsch plötzlich beschämend thematisiert werden. Bisweilen freilich steht der Beschämende als Beschämter da.
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Zum Thema »Dimenticare il futuro« vgl. Italo Calvino: »La memoria conta veramente – per gli individui, le colletività, le civiltà – solo se si tiene insieme l’impronta del passato e il progetto del futuro, se permette di fare, di diventare senza smettere di essere, di essere senza smettere di diventare«. (Calvino 1991, S. 22). Der Text war ursprünglich bereits im „Corriere de la sera“ vom 10.1975.
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Dass Archive Formen des vergessenen Vergessens sind – ebenso wie Bibliotheken – wird dem Leser der Texte von Borges spontan einleuchten. Aber auch bei Foucault wird man fündig. Vgl. hierzu: Reiner Keller (2011).
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Vergleiche hierzu: Alois Hahn (2010c).
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Dazu speziell: Alois Hahn (2010a).
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Für den Zusammenhang von Kleidung und Identität vergleiche auch Cornelia Bohn (2006).
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Für eine historische und kulturvergleichende Analyse der Fehltritte (unter anderem auch) als Schamgeneratoren siehe: Peter von Moos (2001).
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»We were drinking our coffee when it occurred to me that he was still gone. I quietly left the table and, while the others were talking, slipped into the house, certain that he was dead. He wasn’t, though he might well have been wishing that he were. I smelled the shit halfway up the stairs to the second floor. When I got to his bathroom, the door was ajar, and on the floor of the corridor outside the bathroom were his dungarees and his undershorts. Standing inside the bathroom door was my father, completely naked, just out of the shower and dripping wet. The smell was overwhelming. At the sight of me he came close to bursting into [S. 172] tears. In a voice as forlorn as any I had ever heard, from him or anyone, he told me what it hadn’t been difficult to surmise. ›I beshat myself‹, he said. The shit was everywhere, smeared underfoot on the bathmat, running over the toilet bowl edge and, at the foot of the bowl, in a pile on the floor. It was splattered across the glass of the shower stall from which he’d just emerged, and the clothes discarded in the hallway were clotted with it. It was on the corner of the towel he had started to dry himself with. In this smallish bathroom, which was ordinarily mine, he had done his best to extricate himself from his mess alone, but as he was nearly blind and just up out of a hospital bed, in undressing himself and getting into the shower he had managed to spread the shit over everything. I saw that it was even on the tips of the bristles of my toothbrush hanging in the holder over the sink. (…) [S. 173] ›You made a valiant effort‹, I said, ›but I’m afraid it was a no-win situation‹. ›I beshat myself‹, he said, and this time he dissolved in tears« (Roth 1991, S. 171–173).
Literatur
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Hahn, A. (2016). Scham, Körper, Geheimnis und Gedächtnis. In: Heinlein, M., Dimbath, O., Schindler, L., Wehling, P. (eds) Der Körper als soziales Gedächtnis. Soziales Gedächtnis, Erinnern und Vergessen – Memory Studies. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-09743-1_4
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