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Das deutsche Bundesverfassungsgericht und der ESM: Verfassungsjustiz an den Grenzen der Justiziabilität

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Neue europäische Finanzarchitektur

Zusammenfassung

Am 12. September 2012 fällte das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) sein mit Spannung erwartetes Urteil zum Vertrag zur Errichtung des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESMV) und zum Vertrag über den sog. Fiskalpakt (Vertrag vom März 2012 über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion), indes nicht schon in der Hauptsache, sondern erst im Hinblick auf die beantragten einstweiligen Anordnungen, deren Erlass abgelehnt wurde. Im Ergebnis hat das BVerfG den ESM passieren lassen. Allerdings erlegte das BVerfG den Staatsorganen auf, auf völkerrechtlich wirksame Weise dafür Sorge zu tragen, dass Deutschland unter keinen Umständen über seinen Anteil am Stammkapital (ca. 190 Mrd. €) hinaus in Haftung genommen wird und dass parlamentarische Kontrollrechte nicht entleert werden düfen.

Der Autor ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht an der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer.

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Notes

  1. 1.

    Abgedruckt in BT-Drs. 17/9045, ab S. 6.

  2. 2.

    Abgedruckt in BT-Drs. 17/9046, ab S. 6.

  3. 3.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 207.

  4. 4.

    BVerfGE 126, 158 (168); 129, 284 (298), st. Rspr. Das Gericht legt regelmäßig bei seiner Entscheidung über Anträge auf einstweilige Anordnungen nur die Abwägung zugrunde, welche Folgen sich ergeben, wenn eine dem Antrag stattgebende Entscheidung ergeht, sich aber nachträglich herausstellt, dass die Hauptsache unbegründet ist, gegenüber den Folgen, wenn die begehrte einstweilige Maßnahme unterbleibt, sich die Hauptsache aber als begründet erweist.

  5. 5.

    Das Inkrafttreten des Fiskalpakts wäre nicht behindert worden, da dafür die Ratifikation durch 12 Eurostaaten genügt (vgl. Art. 14 Fiskalpakt ); anders ist es aber beim ESM , zumal Deutschland dort einen zentralen Anteil hat, so dass allein aus diesem Grund faktisch der ESM ohne deutsche Mitwirkung seine Rolle nicht wahrnehmen kann.

  6. 6.

    Vgl. BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 192, 194, das zusätzlich darauf verweist, dass eine summarische Prüfung insbesondere bei einer möglichen Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG geboten ist, da dem Gericht die Aufgabe zukomme, die Identität der Verfassung zu schützen.

  7. 7.

    Schorkopf, NVwZ 2012, 1273 (1274) hält darüber hinaus auch die Aussagen des Urteils für umkehrbar in der Hauptsacheentscheidung.

  8. 8.

    „Die Mitgliedstaaten, deren Währung der Euro ist, können einen Stabilitätsmechanismus einrichten, der aktiviert wird, wenn dies unabdingbar ist, um die Stabilität des Euro-Währungsgebiets insgesamt zu wahren. Die Gewährung aller erforderlichen Finanzhilfen im Rahmen des Mechanismus wird strengen Auflagen unterliegen.“ Der EuGH, Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 184 f. hat klargestellt, dass das Inkrafttreten des ESMV nicht von dem des Art. 136 Abs. 3 AEUV, das frühestens zum 1.1.2013 ansteht, abhängt, da letzterer die nationale Zuständigkeit insoweit nur bekräftigt.

  9. 9.

    BT-Drs. 17/9045.

  10. 10.

    Der erhöhte Abruf lässt die Verpflichtung des Säumigen aber weiter fortbestehen, EuGH, Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 145.

  11. 11.

    S. zu dem Vortrag der Antragsteller BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 151 ff.

  12. 12.

    S. BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 152.

  13. 13.

    S. zu dem Vortrag der Antragsteller BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 161 ff.

  14. 14.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 302, 306, 313.

  15. 15.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 309 ff.

  16. 16.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 311; das BVerfG sieht sich hier bestätigt durch die entsprechende Entscheidung des frz. Conseil constitutionnel vom 9.8.2012.

  17. 17.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 315, wiederum unter Verweis auf die entsprechende Einschätzung durch den frz. Conseil constitutionnel vom 9.8.2012.

  18. 18.

    BVerfGE 129, 124 vom 7.9.2011 zum Rettungsschirm ; BVerfG , Urteil vom 28.2.10212 zu den Beteiligungsrechten des Bundestags am EFSF , NJW 2012, 1419; BVerfG, Urteil vom 19.6.2012 zur Unterrichtung und Beteiligung des Bundestags an Entscheidungen zum ESM .

  19. 19.

    BVerfGE 123, 267 (356 ff.). Dazu jüngst Pechstein (Hrsg.), Integrationsverantwortung , 2012.

  20. 20.

    Vgl. BVerfG vom 12.9.2012, Tz. 213, 216.

  21. 21.

    Art. 23 GG gilt auch für „vergleichbare Regelungen“, so dass er auch Maßstab für die Errichtung des ESM ist, zumal infolge der Verbindung zu Art. 136 Abs. 3 AEUV. S. auch Kube, AöR 2012, 205 (212 m. w. N.). Differenzierend Calliess, NVwZ 2012, 1 (3 f.), der zwar nicht Art. 23 Abs. 1 GG, wohl aber Art. 23 Abs. 2 ff. GG anwenden will. Diese Differenzierung innerhalb des Art. 23 GG erscheint wenig überzeugend.

  22. 22.

    Zur kritikwürdigen Entgrenzung des Art. 38 GG vgl. nur Schönberger, JZ 2010, 1160.

  23. 23.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 210.

  24. 24.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 211.

  25. 25.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 212 unter Hinweis auf BVerfGE 129, 124 (179).

  26. 26.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 213.

  27. 27.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 214.

  28. 28.

    BVerfGE 129, 124 (181); BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 214.

  29. 29.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 215.

  30. 30.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 215; BVerfG, Urteil vom 19.6.2012, Tz. 107.

  31. 31.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 216 unter Verweis auf BVerfGE 129, 124 (183).

  32. 32.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 217.

  33. 33.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 219 mit Verweis auf die Maastricht- und die Rettungsschirmentscheidungen BVerfGE 89, 155 (205) und 129, 124 (181 f.).

  34. 34.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 219. Gerade das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung wird zweimal benannt und als „wesentliches Element zur unionsrechtlichen Absicherung der verfassungsrechtlichen Anforderungen aus Art. 20 Abs. 1 und 2 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG“ gesehen, ebda. Tz. 220.

  35. 35.

    So wird man die Aussage des BVerfG aus der Rettungsschirmentscheidung (BVerfGE 129, 124 (181)) verstehen müssen, dass die zentralen Vorschriften zur Ausgestaltung der Währungsunion unionsrechtliche und verfassungsrechtliche Anforderungen des Demokratiegebots sichern, auf die sich das BVerfG im Urteil vom 12.9.2012 in Tz. 219 stützt.

  36. 36.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 228.

  37. 37.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 224.

  38. 38.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 232 f., 235 ff.

  39. 39.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 233, 238.

  40. 40.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 234.

  41. 41.

    Vgl. BVerfGE 129, 124 (185 f.).

  42. 42.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 241.

  43. 43.

    Art. 8 Abs. 5 ESMV bestimmt, dass der Haftungsanteil jedes ESM Mitglieds „unter allen Umständen“ auf seinen Anteil am Stammkapital beschränkt bleibt.

  44. 44.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 244.

  45. 45.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 253.

  46. 46.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 251 f.

  47. 47.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 253.

  48. 48.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 271.

  49. 49.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 259.

  50. 50.

    Die Begründung für diese rechtliche Kohärenz mit dem EU-Recht wird erst später (Tz. 276 mit Verweis auf den EuGH und die Literaturstimmen) geliefert: Völkerrechtliche Verträge zwischen den EU-Mitgliedstaaten dürfen nicht dem EU-Recht widersprechen. Dies entspricht in der Tat der st. Rspr. des EuGH.

  51. 51.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 257.

  52. 52.

    Vgl. BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 268.

  53. 53.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 270.

  54. 54.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 273–275, 279.

  55. 55.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 276.

  56. 56.

    Vgl. nun auch EuGH, Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 69. Insbesondere sollen nach Ansicht des EuGH die strengen Auflagen, von denen der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV die Gewährung von Finanzhilfen abhängig macht, sicherstellen, dass der Einsatz des ESM EU-konform verläuft, auch unter Beachtung der von der EU zur Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten getroffenen Maßnahmen.

  57. 57.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 276 a.E.

  58. 58.

    EuGH, Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 125–126. In Rn. 127 fügt er aber noch hinzu, dass nichts für die Annahme spricht, „dass die dem ESM von dessen Mitgliedern zur Verfügung gestellten Finanzmittel aus Finanzinstrumenten stammen könnten, die unter das Verbot in Art. 123 Abs. 1 AEUV fallen.“ In Rn. 133 ff. leitet der EuGH aber aus Art. 125 AEUV Grenzen für die finanzielle Unterstützung durch die Mitgliedstaaten ab: Sie muss mit Auflagen für solide Haushaltsfinanzierung versehen sein und darf nur erfolgen, wenn sie zur Wahrung der Finanzstabilität unabdingbar ist.

  59. 59.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 277.

  60. 60.

    Häde, in Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 123 AEUV, Rn. 12.

  61. 61.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 278.

  62. 62.

    Der EuGH betont in seinem Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 51–63, dass der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV keine Veränderung in der Währungspolitik bringt, da der damit ermöglichte Stabilitätsmechanismus sich in Ziel und Mittel von der Währungspolitik unterscheidet und daher der Wirtschaftspolitik zuzuordnen ist. Da Art. 123 AEUV keine währungspolitische, sondern eine wirtschaftspolitische Bestimmung ist (Kap. 1, Art. 120–126 AEUV) ist demgemäß eine Rückwirkung des Art. 136 Abs. 3 AEUV auf die Auslegung des Art. 123 AEUV nicht von vornherein ausgeschlossen. Die bloße Existenz des ESM ist jedenfalls keine Verletzung des Art. 123 AEUV, weil diese Norm nicht auch die Kreditvergabe staatlicher Einrichtungen an andere Mitgliedstaaten verbietet, s. Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, 2012, S. 31 (57, Fn. 64). A.A. Kube/Reimer, NJW 2010, 1911 (1912).

  63. 63.

    Nach Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, 2012, S. 31 (73) achtet der EuGH bei der Beurteilung völkerrechtlicher Verträge der EU-Mitgliedstaaten besonders auf die Wahrung der Autonomie des EU-Rechts und der vertragsgemäßen Funktion des institutionellen Systems und des Rechtsschutzsystems, es fänden sich aber keine Entscheidungen, in denen der EuGH völkerrechtlicher Kooperation der Mitgliedstaaten eine Grenze zieht, weil sie die Grundprinzipien einer Teilverfassung berührt; vielmehr hätten die Mitgliedstaaten dann erheblichen Spielraum. Folgt man dieser Argumentation, dann ist die vom BVerfG vorgenommene Auslegung des ESMV im Lichte des postulierten Standes einer Stabilitätsverfassung noch angreifbarer.

  64. 64.

    EuGH, Urteil vom 27.11.2012, Rs. C-370/12, Rn. 184–185. Zu Divergenzen zwischen den Wertungen im BVerfG-Urteil und dem EuGH-Urteil s. Calliess, NVwZ 2013, 97 (102 ff); Weiß/Haberkamm, EuZW 2013, 95 (97 f).

  65. 65.

    So bezeichnet Rathke, DöV 2011, 753 (758) den neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV als „Systemverschiebung“; Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, 2012, S. 31 (72) erkennt in ESFS und ESM eine Veränderung von „Idee und Telos der Währungsverfassung“, wenn er insoweit – ähnlich dem BVerfG im Urteil vom 12.9.2012, Tz. 232– auch nur eine Rücknahme des „unbedingten Eigenstandes der Mitgliedstaaten in der Euro-Zone“ sieht.

  66. 66.

    Umgekehrt hatte es im Kontext der Annahme des Art. 136 Abs. 3 AEUV eher Überlegungen gegeben, dass die Einrichtung eines Stabilitätsmechanismus künftig den Rückgriff auf Art. 122 Abs. 2 AEUV für vorübergehende Hilfeleistungen entfallen lasse. Solchen Überlegungen ist die Kommission mit Recht entgegen getreten. Dazu Louis, in: Ashiagbor et al. (Hrsg.), The European Union after the Treaty of Lisbon, 2012, S. 284 (292 f.). Der EuGH, Rs. C-370/12, Urteil vom 27.11.2012, Rn. 103 f., 117–119 hat klargestellt, dass sich solch eine einschränkende Wirkung aus Art. 136 Abs. 3 AEUV auch infolge der Annahme im vereinfachten Verfahren gemäß Art. 48 Abs. 6 EUV nicht begründen lässt und dass er die EU-Zuständigkeiten aus Art. 122 Abs. 2 AEUV nicht berührt.

  67. 67.

    Vgl. nun EuGH, Rs. C-370/12, Urteil vom 27.11.2012, Rn. 47 ff., 100 ff.

  68. 68.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 282.

  69. 69.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 281–289.

  70. 70.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 291 f.

  71. 71.

    Dazu BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 293.

  72. 72.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 280 a. E., 294–299.

  73. 73.

    Zur Identitätskontrolle und ultra vires Kontrolle durch das BVerfG siehe zuletzt Streinz, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), FS für K. Stern, 2012, S. 963 (967 ff.).

  74. 74.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 202.

  75. 75.

    Vgl. erneut BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 212.

  76. 76.

    Vgl. den Beschluss des EZB -Rates vom 6.9.2012 zu Technical features of Outright Monetary Transactions.

  77. 77.

    Kritisch zur insoweit auch früher ausweichenden Haltung des BVerfG auch Nettesheim, NJW 2012, 1409 (1412); Nettesheim, EuR 2011, 765 (769 f.).

  78. 78.

    Zweifel an der Kompetenzgemäßheit des Ankaufs von Staatsanleihen mag das Verbot der direkten Staatsfinanzierung nach Art. 123 Abs. 1 AEUV begründen. Indes verbietet diese Regel nur den unmittelbaren Erwerb, was gerade die Zulässigkeit eines mittelbaren Erwerbs über die Kapitalmärkte nahelegt, der nicht auf eine von den Kapitalmärkten unabhängige Haushaltsfinanzierung abzielt, sondern geldpolitische Motive verfolgt; letzteres scheint das BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 278, nicht zu verwehren. Im Licht der geldpolitischen Kompetenz der EZB , die auf das vorrangige Ziel der Preisstabilität ausgerichtet sein muss (Art. 119 Abs. 2, Art. 127 Abs. 2 AEUV), kann man dann jedenfalls den in Aussicht gestellten Umfang der Staatsanleihekäufe in Zweifel ziehen. Schließlich wäre diesem Argument wieder zu entgegnen, dass der ggf. große Umfang der Staatsanleihekäufe auf dem Kapitalmarkt durch die EZB letztlich dadurch verursacht wurde, dass sich einige Eurostaaten in ihrer Fiskalpolitik nicht an ihre vertraglichen Stabilitätsverpflichtungen gehalten haben, übermäßige Defizite zu vermeiden (Art. 126 AEUV). Die reale Fiskalpolitik der Staaten im Euroraum entwickelte sich nicht so, dass sie die Voraussetzungen für eine ideale, stabilitätsorientierte Geldpolitik der EZB gewährte. Das verursachte den nun bestehenden Druck auf die EZB, sich von einer reinen, idealen stabilitätsorientierten Geldpolitik zu verabschieden und sich flexibler zu gerieren. Eine eventuelle Vertragsverletzung in Form einer Kompetenzüberschreitung der EZB wurde durch die vorherige Vertragsverletzung mancher Eurostaaten ausgelöst. Das mag rein juristisch kein Argument sein, die EZB von einer eventuellen Kompetenzüberschreitung freizusprechen, sollte aber zur Vorsicht mahnen, ihre Kompetenzen zu restriktiv auszulegen, da man zuvor die Stabilitätsorientierung der WWU im Hinblick auf die Anforderungen an die Haushaltsführung der Eurostaaten auch nicht streng gehandhabt hatte.

  79. 79.

    Vgl. die Rede von Mario Draghi vor dem Bundesverband deutscher Industrie am 25.9.2012, http://www.ecb.int/press/key/date/2012/html/sp120925.en.html (Zugriff 27.9.2012).

  80. 80.

    Vgl. BVerfGE 126, 286, Tz. 68– Honeywell. In Tz. 78 führt das BVerfG aus: „Denn zu einem ersichtlichen Verstoß im Hinblick auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung würde auch eine unterstellte, rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung des Gerichtshofs erst dann, wenn sie auch praktisch kompetenzbegründend wirkte. Mit dem in der Ableitung aus den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen umstrittenen allgemeinen Grundsatz des Verbots der Altersdiskriminierung wurde aber weder ein neuer Kompetenzbereich für die Union zulasten der Mitgliedstaaten begründet noch eine bestehende Kompetenz mit dem Gewicht einer Neubegründung ausgedehnt. Dies wäre nur dann der Fall, wenn ohne den Erlass eines - hier als vorwirkend angesehenen – Sekundärrechtsaktes nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten von Bürgern durch Rechtsfortbildung begründet würden, die sich sowohl als Grundrechtseingriffe als auch als Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedstaaten erweisen würden.” Dazu auch Hobe, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), FS für K. Stern, 2012, S. 745 (753 ff., 757); Weiß, in: Bungenberg/Herrmann (Hrsg.), Die gemeinsame Handelspolitik der Europäischen Union , 2011, S. 35 (48–50).

  81. 81.

    BVerfGE 126, 286, Tz. 60– Honeywell; Streinz, in: Sachs/Siekmann (Hrsg.), FS für K. Stern, 2012, S. 963 (976 f.).

  82. 82.

    Piqani, in: Cremona (Hrsg.), Compliance and Enforcement of EU Law, 2012, S. 132 (141, 148); Payandeh, CMLRev. 2011, 9. Gerade wenn man sich die Anforderungen in Tz. 78 des Honeywell Urteils vor Augen hält (vorletzte Fn.: Begründung von Pflichten für Bürger, die in Grundrechte eingreifen), wäre eine extensive Auslegung der EZB -Kompetenzen kaum je als ultra vires begründbar.

  83. 83.

    Der Wortlaut der Erklärungen ist wiedergegeben in dem Schreiben von Staatssekretär Kampeter an MdB Gauweiler, auf seine Anfrage hin http://www.peter-gauweiler.de/pdf/Schriftliche%20Frage%2002.10.12.pdf (Zugriff 8.10.2012).

  84. 84.

    S. die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage aus den Reihen der Fraktion DIE LINKE, BT-Drs. 17/10954.

  85. 85.

    So Nettesheim, in: Kadelbach (Hrsg.), Nach der Finanzkrise, 2012, S. 31 (59). Er zeigt in seinem Beitrag die widerstreitenden Tendenzen in den Regelungen der WWU und damit die in besonders hohem Maße fehlende Eindeutigkeit von Auslegungsergebnissen auf, allerdings nicht in bezug auf den vorliegenden Kontext.

  86. 86.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 233.

  87. 87.

    Grünbuch über die Durchführbarkeit der Einführung von Stabilitätsanleihen, Dok KOM (2011) 818 endg.

  88. 88.

    BVerfG , Urteil vom 12.9.2012, Tz. 219; BVerfGE 129, 124 (181).

  89. 89.

    Den Zusammenhang zwischen Schutz nationaler Identität nach Art. 4 Abs. 2 EUV und seiner Kontrolle auf die Wahrung der Verfassungsidentität stellt BVerfGE 123, 267, Tz. 240, 339– Lissabon her.

  90. 90.

    Insoweit BVerfGE 129, 124, Tz. 124, 126– Rettungsschirm : „wesentliche haushaltspolitische Fragen der Einnahmen oder Ausgaben“ dürfen nicht ohne den Bundestag entschieden werden; die „Festlegung über Art und Höhe der den Bürger treffenden Abgaben [darf nicht] in wesentlichem Umfang supranationalisiert“ werden.

  91. 91.

    S. auch Lepsius, EuZW 2012, 761 (762): „Die Verfassungskontrolle entwickelt sich zur Kontrolle eines Institutionenarrangements.“

  92. 92.

    Dazu in bezug auf das Rettungsschirm -Urteil Kube, AÖR 2012, 205 (215).

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Weiß, W. (2014). Das deutsche Bundesverfassungsgericht und der ESM: Verfassungsjustiz an den Grenzen der Justiziabilität. In: Hilpold, P., Steinmair, W. (eds) Neue europäische Finanzarchitektur. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-37868-3_5

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