Der Ausdruck positiver Emotionalität ist konstitutiver Bestandteil des kulturellen Modells der psychologischen Autonomie. Anthropologen, die sich mit dem Leben in nicht-westlichen Kulturen beschäftigt und dort umfangreiche Beobachtungen des Alltagslebens durchgeführt haben, konnten beobachten, dass dort die emotionale Expressivität aus unserer Sicht sehr viel reduzierter ist. Dagegen gehört ein positiver emotionaler Ausdruck bei uns zur sozialen Norm und man tut gut daran, immer ein fröhliches Gesichts zu präsentieren, will man nicht riskieren, dauernd gefragt zu werden, was man hat und was denn los sei. Der Ausdruck positiver Emotionalität signalisiert Wohlbefinden und wird als wesentliches Merkmal der Entwicklung von Individualität betrachtet. Entsprechend werden Kinder vom frühen Säuglingsalter an aufgefordert zu lächeln und damit eine positive Grundstimmung zu signalisieren. Auch hier wird die innere Welt und die Bedeutung stabiler persönlicher Merkmale betont. Schauen wir uns einmal an, wie Mütter in Spielsituationen mit ihren Babys darüber sprechen. Hier haben wir einen kleinen Ausschnitt aus einem Transkript einer Spielinteraktion einer Berliner Mittelschichtmutter mit ihrem drei Monate alten Baby:

Hallihallo … Freust dich des Lebens, ne? Du freust dich des Lebens, ne? …. Gefällt dir, ne? Das gefällt dir. Das gefällt dir wohl, das weiß ich wohl. Daksch (.) ksch (.) ksch (.) ksch (.) ksch (.) ksch kscht ksch. Lach doch mal! Einmal noch lachen. Gleich geht’s weiter … Das gefällt dir, ne?

Diese Mutter drückt die positive Grundhaltung deutlich aus. „Freust Dich des Lebens“ ist das Motto, das diese Mutter für das Leben ihres Kindes formuliert. Damit das Baby die positive Grundhaltung beibehalten kann, nimmt sie die Präferenzen und Wünsche des Babys ernst und bestätigt diese. Es ist die individuelle Ansprache eines individuellen Kindes.

Ein anderes Beispiel aus dem gleichen Kontext phrasiert die gleiche Botschaft. In beiden Ausschnitten wird auch die gemeinsame Geschichte angesprochen – die Mutter weiß, was dem Baby gefällt: (B lacht) „Hehehe. Das ist toll, ne? Ja, das findste klasse, ne? Jaa. Das weiß die Mama. Hallo. Ja, hallo. Hui, du kleiner Räuber. Hallo. Das is’ toll, ne? Ja. Fein.“

Diese Beispiele sind keine ausgesuchten Einzelfälle. In unserem Forschungsfundus haben wir davon Hunderte. Natürlich lächeln wir auch, wenn wir in die Kamera schauen, wie Simon mit seinem damals 1-jährigen Sohn Lasse in Abbildung 10.1 (◉ Abb. 10.1).

Abb. 10.1
figure 1

Lächeln für die Kamera (Foto: Ariane Gernhardt)

Lob ist ein weiterer wichtiger Bestandteil des Ausdrucks positiver Emotionalität : „Guck’ mal kräftig hoch! Feste! Schön machst du das. Schön machst du das. Und wieder zurück? Glps. Gut machst du das! Ganz toll! Mhm. Ganz toll!“

Das individuelle Kind wird immer wieder in den Mittepunkt der Konversation gestellt und in seiner Einzigartigkeit bestätigt. Die Fragen und die zeitliche Strukturierung der Unterhaltung in Sprechen und Pausen erlauben einen Quasi-Dialog: „Das kannst du gut, gut machst du das! Ja, gut machst du das. Gut machst du das. Woll’n wa das noch mal machen? Woll’n wa das noch mal machen? Jetzt nicht mehr? “

Selbst wenn das Baby den Bedeutungsinhalt des Gesagten noch nicht versteht, wächst es doch so in die kulturelle Lebenswelt hinein – durch Konturierung, Betonung und Klangfarbe wird Bedeutung hergestellt. In diesen alltäglichen Situationen werden die kulturellen Botschaften vermittelt und immer wieder wiederholt. So finden kulturelle Prägungen statt. Wie sehr Babys diese kulturellen Botschaften aufsaugen, hat die Würzburger Entwicklungsbiologin Kathleen Wermke (2010) eindrucksvoll aufgewiesen. Sie untersuchte das Schreien von deutschen und französischen Neugeborenen im Alter von 3 bis 5 Tagen hinsichtlich des zeitlichen Musters, der Klangfarbe und der Melodie. Mit speziellen Computerprogrammen werden Frequenzspektren, Melodiekontur und die maximale Tonhöhe ermittelt. Sie fand tatsächlich kulturelle Unterschiede in einem so biologischen Vorgang wie dem Schreien. Die französischen Babys schreien öfter in ansteigenden Melodien und betonen stärker das Ende. Deutsche Babys beginnen dagegen mit maximaler Lautstärke und die Melodie fällt gegen Ende ab. Damit spiegeln die Säuglinge die Sprachmelodien der sie umgebenden Sprachen.

Doch zurück zum Ausdruck positiver Emotionalität. Wie sehen die Nso-Bauern das? Schauen wir uns einige Beispiele solcher Gespräche von Nso-Müttern mit ihren dreimonatigen Babys an. Im Gegensatz zu den deutschen Mittelschichtmüttern müssen wir intensiv suchen, bis wir Beispiele finden, in denen über positive Emotionen gesprochen wird. Positive Emotionalität ist normalerweise nicht Gegenstand solcher frühen Unterhaltungen: „Lächle! (.) … Maclea=oh(.) Maclea=oh(.) Maclea=oh (.)Maclea=oh (.) Maclea=oh (.) Lächle, so dass wir es sehen können (.) Lächle, so dass wir es sehen können. Lächle, so dass wir es sehen können.“

Wie wir vorher schon gesehen haben, sind die verbalen Anteile an diesen Konversationen eher knapp gehalten und bestehen hauptsächlich aus der Wiederholung einer oder weniger Botschaften. Die Nso-Mütter wissen, was gut für ihr Baby ist, daher stellen sie keine Fragen. Es wird auch nichts ausgehandelt, sondern das Baby wird aufgefordert, bestimmtes Verhalten zu zeigen oder auch nicht zu zeigen: „Lächle! Du lächelst nicht! … Gad=Gad (.) Gad=Gad (.) Gadi=Gadi (.) Gadi=Gadi (.). Lächle. Lächle! Lächle! Lächle! Lächle (.)“

Andere Personen sind immer anwesend und greifen auch aktiv in das Geschehen zwischen Mutter und Kind ein:

Mutter: Wer ruft nach Dir? Lächle! Lächelst Du nicht?

Andere aus dem Hintergrund: Lächle! Lächle!

(…)

Mutter: Du versuchst zu lächeln und verweigerst? Du verweigerst! Eh Len?

Andere aus dem Hintergrund: Lächle!

Es gibt ein Sprichwort bei den Nso, das sagt, „das Kind gehört der Mutter, solange es im Mutterleib ist, danach ist das ganze Dorf für die Erziehung des Kindes zuständig“. Daher ist es völlig normal, dass andere sich äußern und auch eingreifen. In dem Sinne sind alle Frauen Mütter aller Kinder und moralisch verpflichtet, die Kinder nach dem Nso-Kodex zu erziehen. Obwohl die Mütter in den vorigen Beispielen möchten, dass das Baby lächelt, ist insgesamt allerdings emotionale Kontrolle wichtiger als emotionaler Ausdruck. Das eingeforderte Lächeln in diesen Situationen hat eine ganz andere Funktion als das Lächeln der deutschen Babys – es ist nicht Ausdruck von Lebensfreude, sondern die Erfüllung einer sozialen Vorschrift. Lächeln ist daher auch nicht der Gesichtsausdruck vor einer Kamera, wie in Abbildung 10.2 deutlich zu sehen ist (◉ Abb. 10.2).

Abb. 10.2
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Das Kameragesicht nach Nso-Art (Foto: Hiltrud Otto)

Diese Unterschiede sind in Vorstellungen begründet, in den impliziten elterlichen Theorien. Wir haben Nso-Bäuerinnen und Berliner Mittelschichtmütter danach gefragt, wie wichtig es ihnen ist, dass kleine Kinder in den ersten drei Lebensjahren lernen, ihre Gefühle zu kontrollieren. Die Frauen konnten ihre Antworten abstufen von „überhaupt nicht wichtig“ (=1) bis „absolut wichtig“ (=5). Es zeigt sich deutlich, dass es für Nso-Frauen absolut wichtig ist, die Berlinerinnen halten es dagegen für nicht wichtig. Abbildung 10.3 zeigt den Unterschied (◉ Abb. 10.3).

Abb. 10.3
figure 3

Vorstellungen zur emotionalen Kontrolle

In der folgenden Abbildung ist zu sehen, dass die Berliner Mütter auch das Auftreten von Emotionen deutlich früher erwarten als die Nso-Frauen. Den Ausdruck von Freude erwarten die Berliner Frauen mit etwa einem Monat, während die Nso-Frauen dies frühestens mit 7 bis 8 Monaten erwarten. Deutliche Unterschiede sind auch vorhanden für die Emotionen Ärger, Furcht, Trauer, Abneigung und Stolz. Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für die selbstbezogenen sogenannten sekundären Emotionen der Scham und Schuld – dies erwarten die Nso-Frauen früher als die Berlinerinnen. Gerade diese Emotionen sind für die soziale Regulation zentral (◉ Abb. 10.4).

Abb. 10.4
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Entwicklungsfahrplan für das Auftreten von Emotionen

Es wird deutlich, dass der Ausdruck von Emotionen und insbesondere der Ausdruck positiver Emotionen in der frühen Kindheit in umfassende kulturelle Sozialisationsstrategien eingebettet ist. Der Ausdruck positiver Emotionen ist ein raumgreifendes und kann ein lautes Verhalten sein – beides Merkmale, die der Sozialisation von Bescheidenheit und Einordnung in das soziale System diametral entgegengesetzt sind. Die Konversationsbeispiele, im Einklang mit den elterlichen Erwartungen, die hier als charakteristisch für unsere beiden prototypischen Sozialisationspfade berichtet sind, betätigen dies eindrucksvoll.

Die frühen Interaktionen sind Laboratorien für kulturelles Lernen und können als Wiege ontogenetischer Entwicklungspfade aufgefasst werden. Insofern müssen diese frühen Erfahrungen natürlich – wenn diese Annahme stimmt – Auswirkungen auf den weiteren Entwicklungsverlauf von Kindern haben. Darauf kommen wir im Teil III dieses Buches zurück. Zunächst möchten wir uns noch mit der Rolle der Väter befassen.