Abstract
Mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert änderten sich sowohl der Charakter der Mathematik als auch ihre äußeren Bedingungen grundlegend. Allgemeiner Hintergrund ist die um 1770 beginnende Industrialisierung. Aber auch die politischen Erschüütterungen Europas durch die Französische Revolution und die nachfolgenden Napoleonischen Kriege, die bürgerliches Gedankengut in fast jedenWinkel Europas trugen, spielten dabei eine große Rolle. Neben die lokalen und nationalen Akademien traten die in vielen Ländern entstehenden höheren technischen Bildungsanstalten als Orte, an denen forschend und lehrend Mathematik getrieben wurde. Die philosophischen Fakultäten der klassischen Universitäten, die jahrhundertelang nur als Vorstudienanstalten für das Studium der Theologie, Medizin oder Rechtswissenschaft gedient hatten, erhielten eine neue Funktion als Bildungsstätten für Lehrer der höheren allge7.0 meinbildenden Schulen, was insbesondere in der Mathematik zur Aufstockung der Professorenstellen und im Laufe des 19. Jhs. zur Herausbildung des Status des Privatdozenten sowie zur Gründung von Instituten und Seminaren führte. In Preußen wurde 1866 eine Prüfungsordnung für Lehramtskandidaten erlassen, die ausdrücklich forderte, daß der angehende Mathematiklehrer in die Lage versetzt werden müsse, selbst wissenschaftlich in den Hauptgebieten Geometrie, Analysis und Mechanik zu arbeiten. Es wurden viele Zeitschriften gegründet, oft im Zusammenhang mit lokalen und gegen Ende des Jhs. auch schon nationalen Verbänden und Gesellschaften von Mathematikern. Latein als internationale Wissenschaftssprache wurde sehr schnell durch das Publizieren in der jeweiligen Landessprache abgelöst. Da dies aber, abgesehen von einer verbreiteten Kenntnis des Französischen, nicht von einem allgemeinen Aufschwung des Fremdsprachenunterrichts an den allgemeinbildenden Schulen begleitet war und wegen des in dieser Zeit stark ausgeprägten Nationalismus eine (mehr oder weniger stillschweigende) Einigung auf eine überall gängige moderne Fremdsprache (wie sie für uns wieder ganz selbstverständlich ist) zu dieser Zeit außerhalb jeder politischen Möglichkeit lag, wirkte die rapide Zunahme der Zahl produktiver Mathematiker mit den sich plötzlich auftürmenden Sprachbarrieren derart zusammen, daß sich im 19. Jh. wie in keiner anderen Periode davor oder danach Mehrfachentdeckungen, kaum überschaubare Parallelentwicklungen und daraus resultierende Prioritätsstreitigkeiten häuften. Eine internationale Verständigung über den Fortschritt der Wissenschaft wurde bis etwa 1870 allein durch viele, oft schon kurz nach dem Erscheinen des Originals herausgegebene übersetzungen von Büchern und durch einige wenige sprachbegabte und -interessierte Mathematiker in Gang gehalten. Z.B. las der Ire Hamilton mühelos Englisch, Französisch, Deutsch und mehrere orientalische Sprachen. Gauß lernte noch im Alter Russisch. Ab 1871 erschien das „Jahrbuch über die Fortschritte der Mathematik“ (erstes Berichtsjahr 1868) als erstes mathematisches Referateorgan. Eine Untersuchung über die internationale Wirksamkeit dieser rein deutschen Publikation scheint es noch nicht zu geben.
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Scriba, C.J., Schreiber, P. (2010). Neue Wege der Geometrie im 19. Jahrhundert. In: 5000 Jahre Geometrie. Vom Zählstein zum Computer. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-02362-0_8
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