Zusammenfassung
Für den modernen Menschen hat Selbstbestimmung einen zentralen Stellenwert. Autonomie wird als konstitutives Merkmal des eigenen Subjektstatus angesehen und als selbstverständlicher Anspruch für sich reklamiert. Gesellschaftlich wird sie mit dem Gleichheitspostulat verbunden. Alle Menschen sollen selbstbestimmt und autonom ihr Leben gestalten können, so lautet das Credo der neoliberalen Moderne. Die Freiheit der Person ist als unverletzliches Grundrecht in der deutschen Verfassung verankert. Doch gilt das Freiheitspostulat tatsächlich für alle Menschen im gleichen Maße? Ist es auch für Männer und Frauen gültig, die mit einer gesundheitlichen Beeinträchtigung leben? Tatsächlich scheint der Gesundheitsstatus eine der Bedingungen zu sein, unter denen die Gesellschaft dazu neigt, das Recht auf Selbstbestimmung ganz oder teilweise zu suspendieren. Die Ausgrenzung chronisch kranker und behinderter Menschen aus dem Selbstbestimmungsgedanken dokumentiert sich etwa im Institut der Vormundschaft (heute: der Betreuung), in der anstaltsmäßigen Unterbringung, von der weiterhin eine große Zahl der behinderten Menschen betroffen ist, und in sozialrechtlichen Bestimmungen wie dem Pflegeversicherungsgesetz, das eher minimale und standardisierte Pflegeleistungen fördert als der individuellen Gestaltung der persönlichen Assistenz Raum zu geben. Doch auch für diejenigen, die sich als gesund und normal verstehen, gilt, dass sie Selbstbestimmung nur unter bestimmten Rahmenbedingungen verwirklichen können. Eine Autonomie, die ganz und gar losgelöst vom gesellschaftlichen Hintergrund zu verwirklichen wäre, ist eine Fiktion. Insofern scheint die Lebenslage Behinderung wie ein Brennglas zu sein. Mit ihr werden die Bedingungen individueller Freiheit und Unabhängigkeit konzentriert auf den Punkt gebracht; sie zeigt die Voraussetzungen und Konsequenzen, die Restriktionen und Möglichkeiten auf, die mit einem autonomen Leben gemeinhin verbunden sind. Wenn man also untersucht, wie behinderte Männer und Frauen Selbstbestimmung für sich zu realisieren versuchen und welche Alltagstheorien sie zu der Idee entwickeln, können die Facetten des Autonomiebegriffs zum Vorschein kommen, die meist als selbstverständlich gelten und deshalb eher unbeachtet bleiben. Die Selbstbestimmung behinderter Menschen lässt Rückschlüsse darüber zu, welche konkreten Anforderungen der Autonomiegedanke an alle Menschen stellt, unabhängig davon, ob diese ihnen bewusst sind oder nicht.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Rights and permissions
Copyright information
© 2012 VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH
About this chapter
Cite this chapter
Waldschmidt, A. (2012). Individuelle Selbstbestimmung und gesundheitliche Beeinträchtigung: Eine theoretische Skizze. In: Selbstbestimmung als Konstruktion. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93450-1_2
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-93450-1_2
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-17538-6
Online ISBN: 978-3-531-93450-1
eBook Packages: Humanities, Social Science (German Language)