Zusammenfassung
Trotz einer Vielzahl kultureller und struktureller Unterschiede haben moderne Nationalstaaten einen wichtigen Aspekt gemein: Sie regeln die Zugehörigkeit ihrer Mitglieder durch das Konzept der Staatsbürgerschaft. Den Bürgerinnen eines jeweiligen Landes werden aufgrund ihrer Mitgliedschaft innerhalb der national verfassten Einheit unterschiedliche legale, politische und soziale Rechte garantiert (vgl. Marshall 1964). Seit der Französischen Revolution hat sich die Staatsbürgerschaft auf nationaler Ebene zunehmend durchgesetzt. Für die einzelnen Bürgerinnen ergeben sich daraus bestimmte Rechte und Pflichten, die ihnen eine formalrechtliche Identität verleihen (vgl. Mackert/Müller 2007: 10-13). Gleichzeitig haben Bürgerrechte aber auch eine symbolische Bedeutung, die auf gemeinsam geteilte Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmuster verweist (vgl. Parsons 1971: 22; Joppke 1999: 6). Die formalrechtliche Achtung des Anderen transportiert also teilweise auch dessen soziale Anerkennung mit. Diese Vorstellung erinnert an Durkheims Konzept der mechanischen Solidarität, die im Zuge der fortschreitenden Arbeitsteilung und funktionalen Differenzierung entsteht. Das intensive und eindeutige Kollektivbewusstsein innerhalb kleiner undifferenzierter Gruppen wird ersetzt durch ein neues abstraktes Gefühl der Zugehörigkeit. In diesem Zusammenhang stellt Durkheim vor allem die Expansion des Rechts und die wachsende Bedeutung von individuellen Verträgen als besonders wichtig heraus. Durch die Sicherung individueller Rechte sowie durch die gesellschaftliche Akzeptanz formaler Regeln - also einer Art Vertragsmoral - wird zwischen individuellen und gesellschaftlichen Interessen vermittelt (vgl. Durk- heim 1988 [1893]). Bereits Durkheim identifizierte dabei die Anerkennung der individuellen Autonomie als Kern des Wertsystems moderner Gesellschaften (vgl. Durkheim 1986). Dieser Gedanke bildete in den vorigen Kapiteln den Ausgangspunkt, um Formen dezentralisierter Orientierungs- und Norm(alitäts)vor- stellungen zu analysieren, deren Dynamik ebenfalls stärker auf ideellen Komponenten denn auf geographisch-materiellen Faktoren beruhte. Dabei ging es auch stets um den Verlust eindeutiger, gesamtgesellschaftlich wirkmächtiger Zentren. Mit der Staatsbürgerschaft, immerhin einer Erfindung der modernen Gesellschaft, existiert jedoch offensichtlich ein integrativer Mechanismus von äußerst großer Reichweite, der auf eigentümliche Art und Weise ideell-normative mit territorialen Aspekten verbindet. In diesem Teil des Buches geht es nun aber weniger darum, einen Beitrag zur theoretischen Debatte des Konzepts der Staatsbürgerschaft zu liefern. Stattdessen wird dieses Modell als eine Möglichkeit diskutiert, die Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie auf die nationalstaatliche Ebene zu übertragen. In modernen Nationalstaaten, so die Hauptthese dieses Kapitels, können individuelle Bürgerrechte als Zentrum der Gesellschaft interpretiert werden. Dies hat vor allem zwei Gründe: Erstens entscheidet die formale Anerkennung eines Menschen als Staatsbürgerin über deren/dessen Zugehörigkeit zur Gesellschaft.
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Hirschfeld, A., Lehmann, U. (2011). Bürgerliche Rechte als integrative Mitte der Gesellschaft. In: Mythos Mitte. VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-531-93003-9_18
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-531-93003-9_18
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften
Print ISBN: 978-3-531-17971-1
Online ISBN: 978-3-531-93003-9
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